[Die fett geschriebenen Zwischenüberschriften dienen der Gliederung und werden nicht vorgelesen.]
Wir tun einfach so, als ob
[https://www.youtube.com/watch?v=r1QlsrjkYKU Dota Kehr: Als ob, 2021, Album „Wir rufen dich, Galaktika“
Das Lied „Als ob“ wird nach Möglichkeit abgespielt. Alternativ den Text lesen:]
[Strophe 1]
Es hatte uns immer getröstet zu glauben, dass wir eigentlich ganz andere seien
Und hierher gar nicht gehörten und wir sehen es auch immer noch nicht so ganz ein
Dass wir langweilige Realisten geworden sind, mit einem sinnlosen Job
[Refrain]
Hey, wir tun einfach so als ob
Als ob, als ob
Wir tun einfach so als ob
Als ob, als ob
[Strophe 2]
Komm, wir stellen uns vor, wir hätten ein gemeinsames Ziel
Also, ein anderеs, als es hier bequеm zu haben, und dann rede ich viel, wieder viel zu viel
Und schon der ganz normale Alltag wächst mir doch über den Kopf
[Refrain]
Hey, wir tun trotzdem so als ob
Als ob, als ob
Wir tun trotzdem so als ob
Als ob, als ob
[Bridge]
Als ob wir Träumer sein könnten in dieser Welt
Wenn wir uns nicht ablenken lassen und uns drauf konzentrieren
Wäre das mutig oder blöde? Das weiß ich auch nicht so genau
Aber was hätten wir schon groß zu verlieren?
[Strophe 3]
Ich leide an allen Krankheiten meiner Zeit
Ich klebe den halben Tag am Telefon
Zerstreut und reizbar, eitel und satt
Gefangen von dem, was man hat
Wirkungslose Empörung und viel zu viel Information
Als ob das irgendetwas ändert
[Strophe 4]
Komm, nimm mich bei der Hand und mach mich glauben
Du seiest einer, der große Geheimnisse in sich trägt
Und ein bisschen Magie, mach mir ruhig was vor
Jeder braucht seinen Dumbledore
Sei du meiner, zauber, dass sich irgendwas bewegt
[Refrain]
Oder tu halt so als ob
Als ob, als ob
Oder tu halt so als ob
Als ob, als ob
Als ob, als ob
Als ob, als ob
Als ob, als ob
Paulus‘ Utopie
Paulus schreibt an die Gemeinden in Galatien:
Denn ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus.
27Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen.
28Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.
29Gehört ihr aber Christus an, so seid ihr ja Abrahams Nachkommen und nach der Verheißung Erben. [Gal 3,26-29 (LUT)]
Utopie beginnt beim Unzufriedensein
Liebe Gemeinde,
was haben Paulus, urchristliche Gemeinden und Dota Kehr, die Sängerin von dem Lied, das wir gerade gehört haben, gemeinsam? Und was haben wir mit ihnen gemeinsam?
Paulus.
Sein Rundschreiben an die Gemeinden in Galatien klingt stellenweise wie eine Standpauke. „Was ist mit euch? Habt ihr es immer noch nicht kapiert?“ In diesem Ton schreibt Paulus, und man spürt, dass er Wut im Bauch hat und unzufrieden ist, wie es in den Gemeinden läuft. Ein wenig Angst hat er auch um seinen Missionserfolg: Wenn sich diese Gemeinden zerstreiten, dann könnte die ganze Bewegung ins Stocken kommen.
Paulus‘ Gemeinde.
Der Zauber des Anfangs ist verflogen. So langsam treten praktische Konflikte zutage: Wie gehen wir damit um, dass manche sich den jüdischen Speisegesetzen weiter verpflichtet sehen, andere nicht? Sollen alle, die zur Gemeinde gehören wollen, sich zum Judentum bekehren? Das bedeutet, dass die Männer sich beschneiden lassen müssten. Oder getrennte Mahlzeiten und Zusammenkünfte für jüdische und nicht-jüdische Christusnachfolger*innen? Die anfängliche Begeisterung schlägt um in Spaltung und Unzufriedenheit.
Dota.
„Ich leide an allen Krankheiten meiner Zeit
Ich klebe den halben Tag am Telefon
Zerstreut und reizbar, eitel und satt
Gefangen von dem, was man hat
Wirkungslose Empörung und viel zu viel Information
Als ob das irgendetwas ändert“
Unzufrieden, obwohl man eigentlich alles hat – es fehlt nicht an Möglichkeiten, aber an Orientierung und Antrieb.
Wie geht es euch? Spürt ihr Paulus‘ Wut und Angst, Dotas vage Unzufriedenheit oder die galatische Ernüchterung? Jede ist auf ihre Art unzufrieden, ich auch. Ein unbehagliches Gefühl in der Magengrube, wenn mich der Alltagsstress überwältigt. Ein Anflug von Übelkeit angesichts von Wahlergebnissen in Thüringen und Sachsen. Und bei euch?
Mit dem Unzufriedensein ist schon ein Anfang gemacht. Darin liegt der Same für die Sehnsucht nach einer besseren Welt. Wer Sehnsucht hat, ist empfänglich für Utopien. Und wer Utopien ernst nimmt, wird zum Unruhestifter, zur Unruhestifterin. [Vgl. Milena Hasselmann, Utopie der Gleich-Gültigkeit, GPM 4/2024]
Wie wird man Unruhestifter*in?
Zum Utopisten wird man nicht auf Befehl: Los, träume von einer besseren Welt! Woher sollen die Vorstellungen denn kommen? Auch Dota vermisst jemanden, der sie ihr zeigt:
„Komm, nimm mich bei der Hand und mach mich glauben
Du seiest einer, der große Geheimnisse in sich trägt
Und ein bisschen Magie, mach mir ruhig was vor
Jeder braucht seinen Dumbledore
Sei du meiner, zauber, dass sich irgendwas bewegt“
Was bei Dota ein suchendes Fragen nach einem Dumbledore ist, nach ein bisschen Magie, Illusion oder Geheimnissen, das klingt bei Paulus anders. Er hat eine Vision der besseren Welt vor Augen. Die ist keine vage Träumerei, sondern kluge Argumentation auf Grundlage von Glaubensgewissheit und Schriftkenntnis. Die Vision lautet: Die Verheißung Gottes gilt. Sie gilt nach wie vor den Jüdinnen und Juden, und sie gilt allen, die auf Jesus Christus getauft sind. Sie ist noch nicht voll und ganz Wirklichkeit, aber festes Versprechen. Diese Utopie hat in Gott ihren festen Ankerpunkt. Und so stiftet sie heilige Unruhe.
Gottes Utopie
Denn sie spornt an, die Wirklichkeit in ihrem Licht zu sehen:
Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.
Dieser berühmte Vers spricht hinein in eine Wirklichkeit des Miteinanders, die anders aussieht. Damals in den urchristlichen Gemeinden wie auch heute herrschen soziale Unterschiede, Machtgefälle, Diskriminierungen, und beeinträchtigen das Miteinander.
Wir schreiben uns ein Kaleidoskop an Identitäten zu: Kultur, Religion, Geschlecht, soziale Schicht, sexuelle Orientierung, Generation und viele mehr. Paulus stellt all dem die eine Identität gegenüber, die alles andere relativiert: die Einheit in Jesus Christus.
Paulus malt die bessere Welt so vor Augen, dass er sagt: Seht hin, das ist doch schon längst so! Ihr seid alle, liebe Galaterinnen und Galater, liebe Gemeinde, ob ihr nun Freie, Sklavinnen, Judenchristinnen, Heidenchristen, Frauen oder Männer seid – ihr seid alle ohne Ausnahme Gottes Kinder. Und weil das so ist, weil ihr auf Christus getauft seid, tragt ihr ihn als Kleid, nicht länger die Kleider, die eure jüdische, heidnische, männliche oder weibliche Identität markieren. Weil das so ist, seid ihr gemeint, wenn es um die Erben der Verheißung, um die Nachkommenschaft von Abraham geht.
Die Zumutung des Anderen
Und wenn einer sagt, hier ginge es gar nicht darum, tatsächlich eine Gemeinde ohne soziale Unterschiede zu schaffen? Die hätte es doch immer gegeben und würde es auch immer geben? Bei Gott wären zwar alle Unterschiede aufgehoben, aber solange wir in dieser Welt leben, könnte sich nichts ändern?
Dem würde Paulus nicht zustimmen. Für Paulus hat die Verheißung, dass bei Gott alle die gleiche Würde als Kinder und Erben genießen, unmittelbare Auswirkungen auf das Zusammenleben als Gemeinde. So wie überhaupt der Glaube an Jesus Christus. Paulus spricht häufig vom „Sein in Christus“, und das geht ganz eng mit konkreten Veränderungen des Lebens und Handelns einher. Wer Glauben und Ethik, Haltung und Handeln getrennt voneinander betrachten will, wird sich mit Paulus schwer tun.
Und so ist es ja auch hier gemeint, wenn man an die Ausgangssituation denkt: Hauptsache ist, dass niemand ausgeschlossen wird aus der Gemeinschaft.
Überhaupt: Trauen wir uns wirklich so wenig Veränderungskraft zu, dass wir resignieren müssten und die gleiche Anerkennung aller Menschen ins Jenseits verlagern?
Oder ist es vielleicht einfach sehr bequem, Strukturen und Denkweisen so zu lassen, wie sie sind? Sie zu verändern, würde ja bedeuten, uns selbst zu hinterfragen, unsere Privilegien anzutasten. Stimmen der von Armut, Rassismus, Sexismus, Queerfeindlichkeit oder Behindertenfeindlichkeit Betroffenen, und ganz besonders der Betroffenen von Gewalt und Missbrauch, zu hören und ihnen wirklich zuzuhören. Können, wollen wir uns das zumuten? Lassen wir uns auf den Perspektivwechsel mit allen Konsequenzen ein?
Die Zumutung des Anderen ist das, wo die Verheißung zu finden ist. Den anderen Menschen zuallererst als Kind Gottes zu betrachten und zu behandeln, Menschen jedes Geschlechts gleiche Würde und gleiche Rechte zuzuerkennen, darauf liegt Segen. Und das gibt den Vorgeschmack auf Gottes Utopie, auf das gute Leben für alle. Das gilt für die Gemeinden damals in Galatien, und für unsere Gemeinde, für die weltweite Christenheit heute.
Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus. Gehört ihr aber Christus an, so seid ihr ja Abrahams Nachkommen und nach der Verheißung Erben.
Als ob
„Wir tun einfach so, als ob.
Als ob wir Träumer sein könnten in dieser Welt
Wenn wir uns nicht ablenken lassen und uns drauf konzentrieren
Wäre das mutig oder blöde? Das weiß ich auch nicht so genau
Aber was hätten wir schon groß zu verlieren?“
Wenn wir so tun, als ob das schon Wirklichkeit wäre, was uns verheißen ist: Wär das mutig oder blöde? Wahrscheinlich beides, jedenfalls von außen betrachtet. Wer Utopien ernst nimmt, wird zum Unruhestifter, zur Unruhestifterin.
Was wäre, wenn wir so tun, als ob?
Dann sitzen alle Galater*innen gemeinsam am Tisch, teilen Brot und Wein und lösen das Problem unterschiedlicher Speisegebote pragmatisch.
Dann bilden sich neue Gemeinschaften über Kulturgrenzen hinweg.
Dann finden Friseurin und Anwältin im Gespräch am Spielplatz Gemeinsamkeiten.
Dann herrscht im Gemeinderat, in der Synode, in der Pfarrer*innenschaft, in der Kirchenleitung Geschlechterparität.
Dann ist Kirche ein Safe Space für Frauen, queere Personen und Kinder.
Dann erleben People of Color, dass Vielfalt die Normalität ist.
Wir tun einfach so, als ob das alles Wirklichkeit wäre, und spüren darin einen Vorgeschmack auf das, was uns verheißen ist.
Was hätten wir da nicht alles zu gewinnen?
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ein Sonntagabendgottesdienst in der ESG. Die Gottesdienstgemeinde ist gemischt aus kritisch-protestantischen, skeptisch-distanzierten, engagierten und Gemeinschaft suchenden Studierenden und jungen Erwachsenen.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Der Gedanke der Utopie, den ich im Lied „Als ob“ von Dota Kehr wiederfand.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Dass auf dem Gefühl der Unzufriedenheit die Verheißung der Veränderung liegt.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Predigt hatte im Rohstadium viele Negativaussagen. Das war mir beim Schreiben nicht aufgefallen, und umso dankbarer bin ich für diese Rückmeldung. Denn das Positive der Verheißung überwiegt und ihm steht darum auch in der Predigt mehr Raum zu.