Herr über die Naturmächte - Predigt zu Markus 4,35-41 von Karsten Matthis
Liebe Gemeinde,
„Und es erhob sich ein großer Windsturm und die Wellen schlugen in das Boot, sodass das Boot schon voll wurde“, (V. 37). Der See Genezareth liegt für den Betrachter idyllisch dar, jedoch kann er sich rasch in ein stürmisches Gewässer verwandeln. Unberechenbare Stürme sind nichts Ungewöhnliches am See Genezareth. Das erklärt sich aus seiner besonderen geografischen Lage. Der Wasserspiegel liegt ungewöhnlich tief, 200m unter dem Meeresspiegel. Und die umliegenden Berge liegen ganz nahe am See. Die auslaufenden Wellen finden kaum Platz an den Ufern. Wenn plötzliche Fallwinde von den Bergen stürmen, können sie die Wellen auf dem See gewaltig auftürmen. Blitzschnell kann dies mit einer unheimlichen Wucht geschehen. Bis die Winde dann ebenso plötzlich wieder abflauen und sich der See sich wieder beruhigt.
Liebe Gemeinde, ein mächtiger Sturm kommt auf, diesen Eindruck haben Sie vielleicht in den letzten Monaten bei verschiedenen politischen Ereignissen gewonnen, wenn sie die weltweiten Nachrichten verfolgt haben. Der Austritt Großbritanniens aus der EU rückt immer näher, und ein Masterplan, der nach dem Austritt des Vereinigten Königreiches, dem Brexit, kommen soll, ein schlüssiges Konzept für die Zeit ohne Mitgliedschaft in der EU scheint im Regierungsviertel Londons nicht zu existieren.
Angeführt von Rechtspopulisten sind Länder wie Polen und Ungarn auf einem nationalistischen Weg, sich von der Europäischen Gemeinschaft zu lösen. Schrille fremdenfeindliche Töne finden zu unserer Überraschung in diesen Ländern unerwartet starken Beifall.
Weiterhin sitzen viele Menschen auf gepackten Koffern in großen afrikanischen Flüchtlingscamps und warten auf einen günstigen Moment, um nach Europa zu fliehen. Die Projekte der Entwicklungszusammenarbeit scheinen nicht zu greifen und sind eher wie ein „Tropfen auf einem heißen Stein“ und werden den Exodus an Menschen nicht stoppen.
Auf dem Balkan spitzen sich alte Konflikte wieder zu. Die Zeichen stehen auf Konfrontation: Serben und Kroaten stehen sich feindlich gegenüber. Wie vor 100 Jahren kurz vor Ausbruch des 1. Weltkriegs wirkt der Balkan wie ein „Pulverfass“.
Der Konflikt um die Ostukraine ist aus den Schlagzeilen der Medien zwar verschwunden, dennoch schwelt der Bürgerkrieg weiter und wird blutig geführt.
Europa und die Europäische Union waren lange Zeit eine Insel der Glückseligen, nun könnte sich aus Vielzahl der Konflikte etwas Böses zusammen zu brauen. Ein Wirbelwind könnte über Europa hinwegfegen.
Nicht nur in der Weltpolitik gibt es Unwetter, die sich zusammenbrauen. Im Privatleben beschleicht uns bisweilen das untrügliche Gefühl, dass ein heftiger Sturm aufzieht. Die Veränderungen in der Arbeitswelt kommen schneller auf uns zu. Die Digitalisierung und mit ihr eine künstliche Intelligenz in Gestalt von Robotern könnte schon recht bald viele Arbeitsplätze vernichten und nur wenige neue Arbeitsplätze schaffen. Diese rasanten technologischen Veränderungen sorgen für Unruhe in unserem Leben.
Aufgrund einer jahrelangen Lebenserfahrung sind wir sensibel genug, wenn Dinge auf eine schiefe Bahn geraten sind: Im Beruf läuft es nicht mehr richtig gut, da das Kundeninteresse abnimmt und die Umsätze zurückgehen. Wenn in der Familie und im Freundeskreis sich das offene und freundschaftliche Klima abgekühlt hat, und man nicht mehr gut gelitten ist, weil man durch die eigene schlechte Laune, eingetrübt durch berufliche und private Enttäuschungen, Familienfeste und Treffen verdorben hat. Der Einfluss auf die Kinder nimmt ab, weil diese älter geworden sind und eigene Wege gehen möchten. Angst um die persönliche Zukunft beschleicht einen, dass sich viele Dinge über unsere Köpfe zusammenbrauen und wie ein Windwirbel über uns hinwegfegen.
Liebe Gemeinde, in der Geschichte von der Stillung des Sturms erleiden die Jünger Todesängste. Der starke Sturm auf dem See Genezareth hat das kleine Fischerboot schon ergriffen. Die Wellen schaukeln das Schiff heftig hin und her. Die Wellen schlagen bereits meterhoch ins Boot. Die Jünger, einige unter ihnen erfahrene Fischer, haben so ein Unwetter auf ihrem See, dem See Genezareth, noch nicht erlebt. Hilflos sitzen sie in ihrer Nussschale, die mit samt der ganzen Mannschaft von den Fluten in die Tiefe des Sees hinab gerissen zu werden droht.
Bereits vor der Episode auf dem See Genezareth, die uns Markus so lebendig erzählt, haben die Jünger vielleicht unbewusst gefühlt, dass es sich am Horizont etwas zusammenzieht. Der Sturm auf dem See ist Ausdruck dessen, dass Jesus und der Kreis seiner Jünger künftig in einem übertragenden Sinne in schwere See geraten könnten. Jesus hat sich seinen Widersachern entzogen und ist nach Galiläa entwichen. Um der Dauer Konfrontation mit seinen Gegnern, den Pharisäern, zu entgegen, hatte er sich mit seinen Freunden nach Galiläa aufgemacht.
An Jesus scheiden sich die Geister, insbesondere den Hohen Priestern war Jesus von Nazareth „ein Dorn im Auge“. Ihr Zorn und ihre Eifersucht steigen mit jeder Predigt und mit jeder Heilung an. Leicht zu vermuten, dass sie ihm nach dem Leben trachten. Dass ihm ein Leidensweg bevorstehen könnte, der auf Golgatha qualvoll enden musste, dies haben die Jünger sich in ihren schlimmsten Befürchtungen nicht vorstellen können, aber das die unbeschwerte Zeit mit ihrem Meister vorbei sein könnte, dies erahnen sie.
Im immer heftiger schwankenden Boot wächst ihre Furcht zu kentern und zu ertrinken. Panische Todesangst breitet sich unter den Jüngern aus. In ihrer Not wecken sie Jesus und flehen ihn um Hilfe an. Jesus liegt auf einem Kissen, so erzählt Markus, hinten im Boot und schläft fest. Das Tosen der Wellen und das Brausen des Windes wecken ihn nicht auf.
Doch aus dem Schlaf gerissen, erhebt er sich, sieht sich um, bleibt gelassen und spricht zu seinen Jüngern. Und als er zu seinen Freunden redet, legt sich der Sturm. Nur ein Wunder hat den Kreis der Jünger retten können. Jesus hat dieses Naturwunder vollbracht. Seine Gelassenheit und seine innere Ruhe beeindrucken, ja erschrecken die Jünger. „Wer ist der?“ fragen die Jünger erschrocken. „Wind und Meer sind ihm gehorsam.“
Liebe Gemeinde, die Erzählung von der Stillung des Sturms ist eine Epiphanie (Erscheinungs-) Geschichte. Eine Geschichte, in welcher die Herrlichkeit Christi aufleuchtet. Die Jünger spüren seine Macht und die Verbundenheit mit dem Schöpfergott. Hier leuchtet das Licht der Welt auf, wie er sich seinen Jüngern offenbart hatte.
Jesus demonstriert die Gewissheit, wer sich in Gottes Hand begibt, der kann nicht tiefer fallen. Er überlässt sein Schicksal vertrauensvoll seinem Vater. Und seinen Freunden ruft er zu: Sorgt nicht. Vertraut!
Jesus kämpft mit diesen dunklen und entfesselten Mächten und die Jünger haben begriffen, dass Jesus mit seinem Vater Herr über der Schöpfung ist. So gewinnt die Geschichte von der Stillung des Sturms eine symbolische Kraft, welche über die Wundergeschichte von der Stillung des Seesturms hinausweist. In unserer Welt, wo Naturgewalten oft wüten, da erschrecken sie uns. Gewaltige Seebeben mit Flutwellen kommen plötzlich ohne Vorwarnung und vernichten Hab und Gut der Menschen und fordern unzählige Opfer.
Liebe Gemeinde, wir sind hilflos und machtlos vor diesen Naturgewalten. Jesus hingegen ist vertraut mit den Naturgewalten, weil sie aus der Schöpfermacht seines Vaters entstammen. Die Natur ist von Gott geschaffen und von ihm beseelt. So widrig und feindlich sich die Naturgewalten aufführen, diese gehören zu Gottes Schöpfung. So beeindrucken uns letztlich nicht das Naturwunder, was wir Gott ohne weiteres zutrauen, sondern die Gelassenheit Jesu und sein Vertrauen zum Vater.
Die panische Angst unter den Jüngern löst bei ihm Unverständnis aus. Er tadelte sogar ihren Unglauben. „Wie kommt es, dass ihr so furchtsam, und ohne Glauben seid?“ Da verwandelt sich die Furcht der Jünger in den Schrecken über den eigenen Unglauben, über die Verkennung der Wirklichkeit. Die Jünger erschrecken über Jesus, der mit einer bloßen Geste den Sturm zum Schweigen bringt. Voller Erstaunen flüstern sie einander zu, dass es ihr Herr ist, der sogar Wind und Wellen zum Schweigen bringen kann, wenn er es denn will.
Liebe Gemeinde, Angst ist da nicht am Platz, wo Jesus im Schiff mitfährt. Selbst wenn es unterginge, wäre er mit ihnen. Der schlafende Jesus wird so zum Ausdruck jener Gelassenheit, die christliches Dasein auf den stürmischen Fahrten des Lebens auszeichnet, einer Gelassenheit, die nichts mit Lässigkeit und Leichtsinn zu tun hat, aber alles mit der Verheißung zu tun hat: Er wird die nicht verlassen, die sich auf ihn verlassen.
Aber vielleicht mag die eine oder der andere nun fragen, müssen wir Jesus immer wieder wecken, ihn wachrütteln, wenn sich solche Stürme in unserem Leben aufbauen, wenn sich Unheil über unseren Köpfen zusammenzieht. Schlafen Gott und sein Sohn? Müssen wir sogar vermuten, dass wir Menschen der dunklen Macht des Schicksals ausgeliefert sind. Hat Gott in Auschwitz und Buchenwald geschlafen und die Schreie der Opfer überhört? War denn kein Gott da, der da retten konnte?
Schläft Gott, wenn sich augenblicklich im Nahen Osten ein militärischer Flächenbrand aufbaut? Schläft er, wenn ein Diktator aus der Kim-Dynastie in Nordkorea mit Atomwaffen und Allmachtphantasien spielt.
Hier bereitet uns die Geschichte Kopfzerbrechen, müssen wir Jesus immer wecken, damit er uns rettet? Ist dieser verborgene Gott von dem Martin Luther schreibt, der Welt nicht zugewandt, sondern fern von ihr. Wie rätselhaft erscheint uns Gott in einer Welt der Widersprüche und Ungerechtigkeiten, der Zerwürfnisse und Kriege.
„Meister, fragst Du nicht danach, dass wir umkommen“ schreien ihn seine Jünger an. Jesus handelt, leise, mit einer Geste und wenigen Worten bringt er das Meer zum Schweigen. Er lässt seine Schar nicht umkommen. Sie sollen ihre Rettung und Bewahrung aus Gefahr als Zeichen nehmen, dass der Herr bei ihnen ist. Auf dem See Genezareth geschieht ein Zeichen, ein Hinweis auf die neue Welt Gottes, in der die Menschen nicht umkommen. Was seid ihr so furchtsam auf diesem Weg durch die Stürme des Lebens, durch Angst und durch die Krisen in unserem Leben. Gott hört unsere Hilferufe, dass wir nicht verderben. Der Herr ist mit uns auf unseren Lebenswegen, unsere Schicksale sind sein Schicksal; er wird unsere Leben nach seinem Willen lenken; vertraut auf ihn….
Amen.