Herzenssache
„Und als die Engel von ihnen gen Himmel fuhren, sprachen die Hirten untereinander: Lasst uns nun gehen nach Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der Herr kundgetan hat. Und sie kamen eilend und fanden beide, Maria und Josef, dazu das Kind in der Krippe liegen. Als sie es aber gesehen hatten, breiteten sie das Wort aus, das zu ihnen von diesem Kinde gesagt war. Und alle, vor die es kam, wunderten sich über das, was ihnen die Hirten gesagt hatten. Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen. Und die Hirten kehrten wieder um, priesen und lobten Gott für alles, was sie gehört und gesehen hatten, wie denn zu ihnen gesagt war.“
Liebe Gemeinde,
ein Baby verändert alles. Und damit meine ich noch gar nicht das Christkind in der Krippe. Ich meine jedes Baby: jeden Kevin, jede Teresa, jede Ida, jeden Johannes. Ein kleines Baby verändert die gesamte Lebenswelt, für die schwangere Mama, für den Vater und ältere Geschwister, für Großeltern, Tanten, Onkel, Freunde.
Wenn das lang erwartete Baby im Kreißsaal geboren worden ist, wollen es Verwandte und Freunde zuerst einmal sehen. Die Folgen werden später klar: Aus den Eltern und Schwiegereltern der Mutter werden plötzlich Großeltern, aus dem Ehemann ein Vater, aus Schwestern und Brüdern der Eheleute werden Tanten und Onkel, dazu kommen neue Nichten, Kusinen, Neffen. Und wenn das Baby – hoffentlich – gesund ist, spricht nichts dagegen, alle Verwandten und Freunde an dem kleinen Bettchen vorbeidefilieren zu lassen. Alle werden Lärm und Aufregung unterdrücken, um das kleine Wesen, das meistens schläft, zu bewundern. Ein paar Tage später schicken die Eltern ein Foto an die Geburtsstation der Klinik. Die Eltern zeigen ihre Dankbarkeit. Viele Geburtsstationen besitzen mittlerweile eigene Internet-Seiten, auf denen diese Fotos gesammelt und ausgestellt werden. Auf der Seite der Berliner Charité (1) heißt es: „In Zusammenarbeit mit der Firma Baby-Smile können wir Ihnen anbieten, dass das Bild Ihres Kindes schon kurz nach der Geburt weltweit über das Internet angesehen werden kann. Gerade für entfernt lebende Verwandte stellt dies eine gute Möglichkeit für das erste Kennenlernen dar.“
Drei Wochen später flattert bei Verwandten und Freunden eine lustige Geburtsanzeige in den Briefkasten. Außen steht dann auf rosa oder babyblauem Karton in großen Lettern: Fristlose Kündigung. Auf der linken Innenseite ein Foto, auf der rechten Innenseite der folgende Text: „Mir, Charlotte oder Ida oder Markus wurde am 23.Dezember um 22.30 nach neunmonatigem Aufenthalt mein Einzimmerapartment mit Vollpension wegen mietwidrigem Verhalten gekündigt. Ich habe mehrfach gegen die Wand getreten. Ich bin allerdings gerne ausgezogen, denn der Raum war für meine Größe von 52 cm und meine Gewicht von 3890 Gramm sowieso viel zu klein. Ihr erreicht mich unter meiner neuen Anschrift.“ Dann folgt noch die Adresse des Reihenhauses der Eltern in der Neubausiedlung.
Nicht alle Eltern verschleiern ihre Unsicherheit hinter solchen Formen des Humors. Bei der Anzeige ist von der nüchternen Angabe von Geburtsdatum, Gewicht und Namen bis zum Zitat eines Bibelverses alles gestattet. Die Geburtsanzeige hängt dann noch jahrelang an den Kühlschränken und Pinwänden der lieben Verwandten, bis die Tante dann beim Abitur des Babys denkt: Jetzt könnte ich aber einmal ein neues Foto meiner Nichte aufhängen.
Die Hirten der Weihnachtsgeschichte verhalten sich nicht viel anders als Verwandten, die eine Geburtsanzeige erhalten haben. Sie verbreiten weiter, was sie im Himmel und in der Krippe gesehen haben, weiter. Das ist so wunderbar, daß sie es einfach weiter erzählen müssen. Ein Kind ist geboren, der Heiland ist gekommen.
Trotzdem will ich nun nicht weiter auf die Hirten eingehen. Meine Aufmerksamkeit soll der wunderbaren Maria gelten, die auf ganz eigene Weise verarbeitet, was sie nach der Geburt erlebt. Lukas faßt das in einem ganz tiefgründigen und dennoch schlichten kurzen Satz zusammen: „Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen.“ Das ist einer der schönsten Verse aus der Weihnachtsgeschichte.
Die psychologische Schwangerschaftsexpertin würde zuerst einmal darauf hinweisen, daß selbstverständlich die Mutter Maria von der Geburt ihres eigenen Kindes emotional sehr stark berührt ist. Nicht alle Mütter freuen sich über die Geburt ihres Kindes, nicht wenige leiden nach der Geburt wegen der hormonellen Veränderungen unter einer Verstimmung, manchmal sogar unter einer Depression. Bei Maria ist das nicht der Fall (2). Sie läßt die Geburt, die Worte der Hirten und die Botschaft der Engel so nah wie möglich an sich heran. Sie bewegt jedes einzelne Wort in ihrem Herz. Maria läßt es zu, daß die Geburt ihres Sohnes sie im tiefsten Sinn des Wortes - berührt. Maria übt sich in der Zärtlichkeit des Herzens. Das ist nicht jedem gegeben. Diese Bewegung von der Oberfläche in die Tiefe macht mir die Mutter Maria besonders sympathisch. Maria ist im Inneren bewegt, sie sucht und findet den tieferen Sinn dieser Geburt.
Weihnacht fällt ja auf die Zeit der Wintersonnenwende, wenn die Tage am kürzesten und die Nächte am längsten dauern. Menschen, die empfindlich gegen das Fehlen von Tageslicht sind, neigen gerade dann zu depressiven Verstimmungen. Man kann dagegen ankämpfen, mit Glühwein, mit glitzerndem Lametta, mit der weihnachtlichen Beleuchtung der Fußgängerzonen, mit brennenden Kerzen am Adventskranz. Manche Menschen retten sich wirklich mit Hilfe von Weihnachtsmärkten über den Winterblues. Aber im Grunde bleibt Weihnachten so an der Oberfläche, sein tieferer Sinn von Glauben und Gottvertrauen geht unter im Grillrauch der Bratwürste und in den Kratzern der Eisbahn. Im Herzen bewegt sich da nicht so viel, auch wenn Lebkuchen, Eislaufen und Tannenbaumschmücken an Weihnachten Leib und Seele festlich zusammenhalten.
Maria, die ja sozusagen Weihnachten als erste erlebt hat, gibt ihrem Glauben, Gefühlen und Denken eine besondere Richtung – nämlich mitten ins Herz hinein. Sie entwickelt, jenseits von Kitsch und Medizin, eine bemerkenswerte Psychologie des Glaubens. Das Herz ist der Ort, an dem die Grundentscheidungen und Konturen eines Lebens festgelegt sind. Im Herzen ist aufbewahrt, was einen Menschen ausmacht und ihn im Innersten zusammenhält. Manchmal dringt von diesen Grundentscheidungen des Herzens wenig an die Oberfläche. Im Herzen verborgen liegen die Träume, Wünsche und Lebenspläne eines Menschen, seine Sehnsüchte, Werte und Orientierungen. Was ein Mensch im Herzen trägt, läßt sich gut verbergen, manches schlummert dort so sicher wie in einem Tresor. Nach außen, in der Familie oder in der Öffentlichkeit kann man viele Kompromisse eingehen. Oft reicht es aus, die Erwartungen der anderen einigermaßen zu erfüllen, ohne mit dem Herzen bei der Sache zu sein.
Ohne alle Kompromisse: Weihnachten gehört mitten ins Herz von jedem Menschen. Nicht auf den Weihnachtsmarkt, nicht an den Glühweinstand, nicht unter den Tannenbaum, nicht in Geschenkpapier verpackt. Und Maria war die erste, die Weihnachten in ihrem Herzen zugelassen hat. Sie bewegte dort weihnachtliche Worte, so lange, bis sie verstand und glaubte, was in der Krippe und bei den Hirten auf dem Feld geschehen war. Weihnachten zielt ins Herz, nicht auaf die Oberflächen.
Maria bewegte die Worte der Hirten in ihrem Herzen. Was hat ihr das Herz geöffnet? Was hat Vertrauen gestiftet? Bestimmt mußte sie sich von den Anstrengungen und den Schmerzen der Geburt erholen. Keine Hebamme und kein Gynäkologe hat ihr geholfen. Bestimmt konnte sie sich in den ersten Stunden nur mit Mühe bewegen. Sie hat sich ausgeruht. Vielleicht hat sie sich an den Engel erinnert, der ihr die Geburt des Sohnes angekündigt hatte. Vielleicht kam ihr der Besuch bei Elisabeth in den Sinn, von dem der Evangelist Lukas ebenfalls erzählt. Die Vorgeschichte mit dem Engel, Elisabeth, Johannes und Zacharias hat ihr Herz geöffnet für diese Geburt, die viel mehr war als „nur“ eine Geburt.
Ich bin überzeugt: Maria war vorbereitet auf die Hirten. Die Worte der Hirten waren nur der Anfang der Geschichte ihres Sohnes, die Maria von nun an nicht mehr loslassen würde. Damit ist weit mehr gemeint als die enge Beziehung, die alle Mütter lebenslang zu ihren Kindern pflegen. Oft reicht diese Beziehung so lange, bis einer von beiden stirbt. Maria wird ihren Sohn mit nach Ägypten nehmen, um ihn vor den Kindermördern des Herodes zu schützen. Sie wird ihn bei den Rabbinern wiederfinden, mit denen der zwölfjährige Jesus selbstbewußt theologische Diskussionen führt. Sie wird ihn heilen, reden, trösten sehen. Sie wird auch trauernd und machtlos anwesend sein, während er hingerichtet wird (3). Und all das, was sie sieht und erfährt, wird sie genauso in ihrem Herzen bewegen wie die ersten Worte der Hirten, die in dem Neugeborenen als erste den Heiland der Welt sahen.
Es ergibt sich die Frage: Was ist in Marias Herz geschehen? Lukas schweigt sich darüber aus, auch er konnte schließlich nicht in Marias Herz hineinsehen. Er sagt: Die Worte waren in Bewegung. Sie waren flüssig, deutungsoffen, die ganze Geschichte hatte sich, so kurz nach der Geburt noch nicht verfestigt oder festgesetzt. Ich bin sicher, in diese Herzensbewegung waren nicht nur Gewißheit und Glück hineingemischt, sondern auch Gedanken an überwundene Schmerzen, Zweifel, vielleicht ein wenig Traurigkeit, der Geburtsblues, ein Stöhnen über Last und Schwierigkeit der Aufgabe als Mutter, Sorge um die Gesundheit des Neugeborenen, all das, was jede Mutter bewegt. Langsam und nachhaltig wird sich das alles gesetzt und verdichtet haben. Von Lukas, wie gesagt, erfahren wir nichts darüber, mehr als den einen Blick auf Marias bewegtes Herz gestattet er sich nicht.
Aber dieser eine Blick ins Herz genügt auch. Dieser eine Blick leitet an, unter die Oberfläche des Menschen und unter die Oberfläche Weihnachtens zu blicken. Auf der Seite des Menschen befindet sich unter der Oberfläche das Herz. Auf der Seite Weihnachtens finden sich unter der Oberfläche Glauben und Vertrauen.
Niemand kann sein Herz für alles öffnen, was auf ihn einprasselt. Er wäre dauernd damit beschäftigt, Mitleid, Einfühlung und Solidarität auf all diejenigen zu verteilen, die es bitter nötig haben. Jeder wird sich irgendwann die Frage stellen: Was lasse ich an mich heran und was nicht? Herzen unterscheiden sich wie Gesichter. Jeder blickt auf seine eigene Herzensgeschichte zurück. Oft reden wir gar nicht darüber, was uns in besonderem Maße anrührt oder berührt oder zum Lachen oder Weinen bringt.
Am ersten Weihnachtstag ist schon ein verstohlener Blick auf das zurückliegende Jahr erlaubt. Und ins Blickfeld kommen die Flüchtlinge aus Syrien, wo Bürgerkrieg herrscht, kommt auch der Formel-1-Weltmeister, der nach einem Sturz beim Skifahren Monate lang im Koma lag. Ins Blickfeld kommen die christlichen und muslimischen Flüchtlinge im Irak, die vor dem Terror des Islamischen Staates zu entkommen suchten. Ins Blickfeld kommt die Fußballweltmeisterschaft: Mario Götzes entscheidendes Tor hat tagelangen Jubel hervorgerufen und ganz Deutschland in Euphorie versetzt. Obwohl das nicht viel zu seinem fußballerischen Erfolg beiträgt: Mario Götze ist bekennender Christ, der bei Facebook und Twitter zu seinem Glauben steht. Ob Maria sich das Finale der Fußballweltmeisterschaft angeschaut und mitgefiebert hätte? Wäre sie mit dem Herzen dabeigewesen?
Weihnachten und die Krippe blenden die großen und kleinen Aufregungen, Krisen und Probleme der Weltgeschichte nicht aus. Das Kind verdeckt nicht das Elend der Welt. Aber wer dieses kleine schlafende Kind in der Krippe bis an sein Herz heranläßt wie Maria, der gewinnt die Dinge des Lebens, vom Finale bis zur Krise einen anderen, neuen Herzensblick. Wer dieses Kind in der Krippe mit dem Herzen ansieht, der spürt Hoffnung, Zuversicht und Vertrauen - wie bei allen Kindern, die gerade im Moment geboren worden sind. Hoffnung und Vertrauen auf die Zukunft paaren sich mit Schutzbedürftigkeit, Sorge und Verläßlichkeit: Eltern sorgen dafür, daß das Kind heranwächst und in Geborgenheit und Güte aufwächst.
Maria aber sieht mit ihrem Herzen noch etwas anderes, nämlich die Bereitschaft Gottes, sich nicht nur ihr selbst, sondern allen Menschen zuzuwenden. Darum bewegt Maria auch die Worte der Hirten in ihrem Herz, denn die Hirten haben die Engel aus dem Himmel gesehen. Maria sieht die Krippe, den Stall, das kleine Kind, die Windeln, das schmutzige Stroh, die anderen Tiere. Vielleicht stellt sie sich die pragmatischen Fragen, die nun anstehen: Wie kann ich genügend Windeln besorgen? Wie kann ich unser Kind vor dem Geheimdienst des Herodes schützen? Wie schnell erhole ich mich von den Anstrengungen der Geburt, damit wir nach Nazareth zurückkehren können? Aber hinter all diesen Fragen steht die größere Gewißheit, daß der Gott der Bibel, der das Volk Israel aus Ägypten herausgeführt hat, in diesem Kind den Menschen so nahe gekommen ist wie noch niemals zuvor.
Liebe Gemeinde, ich möchte am Ende nichts anderes tun als Sie einzuladen, die Welt genauso zu betrachten, wie Maria das getan hat: nämlich mit dem Herzen. Vor all die Probleme und Schwierigkeiten des Lebens, die nicht geleugnet oder verharmlost werden sollen, schiebt sich dieses Kind, in dem wie in niemand anderem der allmächtige und barmherzige Gott selbst sichtbar wird. Alle neugeborenen Kinder stiften Zuversicht und Zukunft, weil ihre Geburt von dem Vertrauen getragen ist, daß die Kinder in der Fürsorge der Eltern heranwachsen und ihr eigenes Leben gestalten können. Die Geburt Jesu von Nazareth in Bethlehem unterscheidet sich in dieser Hinsicht nicht von allen anderen Geburten. Aber mit der Geburt dieses Kindes kommt zusätzlich das Vertrauen in die Welt, daß Gott die Menschen nicht allein läßt, sondern sie im Herzen auf ihrem Lebensweg begleitet. Maria spürt die Herzenssache des Glaubens.
Und der Friede Gottes, welcher an Weihnachten bis in unsere Herzen gelangt, sei mit euch allen. Amen.
(1) Ein Beispiel für eine Babygalerie findet sich unter http://www.babygalerie24.de/campus-virchow/ Solche Beispiele lassen sich aber in der Regel auch mit dem Lokalkolorit einer Geburtstation in der Nähe des Predigtortes versehen.
(2) Über den Zusammenhang von Geburt und Weihnachten Wolfgang Vögele, Der Heiland im Kinderwagen. Theologische Anmerkungen zu Heinrich Schütz' Weihnachtshistorie, Glauben leben. Zeitschrift für Spiritualität im Alltag, Heft 1, Januar, Februar 2012, 19-21 oder wolfgangvoegele.files.wordpress.com/2010/11/schc3bctz-weihnachtshistorie.pdf
(3) Schriftsteller haben Marias Geschichte immer wieder aufgenommen und nacherzählt. Ein sehr spannender Versuch findet sich in Colm Toibins kurzem Roman „Marias Testament“. Dazu Wolfgang Vögele, Mater dolorosa auf der Couch, Ta katoptrizomena, H.88, 2014, http://www.theomag.de/88/wv08.htm