Herztherapie - Predigt zu Hesekiel 18,1-4.21-24.30-32 von Martin Schmid
18,1-4.21-24.30-32

Herztherapie

Und des Herrn Wort geschah zu mir: Was habt ihr unter euch im Lande Israels für ein Sprichwort: „Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden“? So wahr ich lebe, spricht Gott der Herr: dies Sprichwort soll nicht mehr unter euch umgehen in Israel. Denn siehe, alle Menschen gehören mir; die Väter gehören mir so gut wie die Söhne; jeder, der sündigt, soll sterben.
Wenn sich aber der Gottlose bekehrt von allen seinen Sünden, die er getan hat, und hält alle meine Gesetze und übt Recht und Gerechtigkeit, so soll er am Leben bleiben und nicht sterben. Es soll an alle seine Übertretungen, die er begangen hat, nicht gedacht werden, sondern er soll am Leben bleiben um der Gerechtigkeit willen, die er getan hat. Meinst du, dass ich Gefallen habe am Tode des Gottlosen, spricht Gott der Herr, und nicht vielmehr daran, dass er sich bekehrt von seinen Wegen und am Leben bleibt? Und wenn sich der Gerechte abkehrt von seiner Gerechtigkeit und tut Unrecht und lebt nach allen Gräueln, die der Gottlose tut, sollte der am Leben bleiben? An alle seine Gerechtigkeit, die er getan hat, soll nicht gedacht werden, sondern in seiner Übertretung und Sünde, die er getan hat, soll er sterben.
Darum will ich euch richten, ihr vom Hause Israel, einen jeden nach seinem Weg, spricht Gott der Herr. Kehrt um und kehrt euch ab von allen euren  Übertretungen, damit ihr nicht durch sie in Schuld fallt. Werft von euch alle eure Übertretungen, die ihr begangen habt, und macht euch ein neues Herz und einen neuen Geist. Denn ich habe kein Gefallen am Tod des Sterbenden, spricht Gott der Herr. Darum bekehrt euch, so werdet ihr leben.


Liebe Gemeinde!

Das Leben kann uns Aufgaben stellen, an denen man sich fast die Zähne ausbeißt. Ähnlich kann es uns gehen bei manchen Texten. Auch die Worte des Propheten Hesekiel machen es Lesern und Hörern nicht leicht. Unverkennbar ist aber, dass sie heilen wollen, nicht verurteilen. Menschen sollen dem Tod entrissen und fürs Leben gewonnen werden. Deshalb könnte es ganz im Sinne des Propheten sein zu überlegen, wie seine Worte wohl klingen würden, wenn er nicht wie ein Richter sprechen würde, sondern eher wie ein Arzt. Stellen wir uns also vor, hier würde nicht verhandelt, sondern behandelt.
Die Hauptperson einer solchen Heilungsgeschichte wäre dann ein Verkrümmter. Also ein Mensch, der mit einem ähnlichen Leiden behaftet ist wie jene Frau, die Jesus einmal angesprochen hat, weil sie sich nicht mehr aufrichten konnte. Außer von dem Verkrümmten handelt eine solche Geschichte von dem Propheten Hesekiel. Er übernimmt jetzt also die Aufgabe des Arztes. Seine aufmerksame Zuwendung gilt diesem Krummgewachsenen. Dessen Krankheit, eine Verbiegung des Rückgrats, ist aber ein verbreitetes Übel, Rückenbeschwerden sind eine Volkskrankheit. Insofern kommt auch das Volk in der Geschichte vor. Das Volk, das sind die Mitbetroffenen, die interessiert zuhören. Das Volk, das sind wir.

Dreifach bedrückt steht der Mann da. Auf ihm liegt die alte Last, die durch Fehler und Versäumnisse der Väter entstanden ist: „Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden.“ Aber auch eigenes Tun belastet ihn so, dass man ihm nicht vorwerfen darf, er wolle die Schuld nur auf die Früheren abschieben.
Und durch die Aufforderung, das verfehlte Leben abzuwerfen und von innen heraus neu anzufangen, fühlt er sich überfordert.
Wir, das Volk, das ihm zuhört, werden ihm dreimal Recht geben. Denn wer von der Belastung durch fremdes Verfehlen spricht, der hat Recht. Im Fußball gilt zwar, wie man gesehen hat: wer beißt, muss büßen. Im übrigen Leben aber geht’s oft anders: Während die einen beißen, büßen dafür andere. Die Fehler der Väter zum Beispiel belasten die Kinder. Es gibt eben nicht nur die Gnade der späten Geburt, sondern auch die Last der Erben. Den „Nachgeborenen“ versucht Bertolt Brecht zwar zu erklären „ach, wir, die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit, konnten selber nicht freundlich sein“, und er bittet sie deshalb um Nachsicht. Trotzdem wird sich nichts daran ändern, dass nur wächst, was gesät wurde. Wie soll Gutes wachsen, wo Böses gesät wurde? Ach, die vielen Gedenktage dieses Jahres!
Darüber hinaus ist es doch so, dass Gott selber den Menschen durch Mose hat sagen lassen, ihre Verfehlungen würden sich als eine Art Verhängnis auf die kommenden Generationen auswirken „bis ins dritte und vierte Glied“. Man hat nicht den Eindruck, dass Mose da etwas missverstanden hätte.
Und Recht hat der Verkrümmte noch einmal in dem, wo er annimmt, auch das Leben eines einzelnen Menschen werde verbogen durch die falschen Entscheidungen, die wir getroffen, und die Verfehlungen und Irrtümer, die wir schon begangen haben. Was wir getan haben, bleibt nie ohne Folgen. Die legen sich um uns wie eine Zwangsjacke, die das Leben beengt.
Recht hätte aber auch jeder, werden wir sagen, der sich niedergedrückt fühlt durch das Prophetengebot „mach dir ein neues Herz“. Wir verstehen den Sinn. Die Hilfe für den Patienten soll von innen heraus kommen. Aber wie soll das möglich sein? Die Frage jenes frommen Gesprächspartners Jesu „kann denn ein Mensch von neuem geboren werden?“ war nicht unberechtigt. So legt sich auch für uns die skeptische Frage nahe, ob denn einer in der Lage sei, sich ein neues Herz zu machen. Wer hier „nein“ sagt, hat doch Recht.

Ist Hesekiel dann ein Arzt ohne Verständnis? Nimmt er den Gebeugten vor ihm gar nicht ernst? Er widerspricht. Doch mit seinem Widerspruch hat er bereits den Kampf aufgenommen mit der Krankheit. Und sein Glaube an eine Heilung schafft einen Freiraum für den Menschen, der sich an Gott hält. Nicht das Schicksal bestimmt unser Leben und nicht ein verschuldetes oder unverschuldetes Verhängnis, sondern der Leben schenkende und seinen Menschen zugewandte Gott. Ja, es scheint wirklich so, als habe für den Propheten der eine Sonnenstrahl, den Gott zwischen den Wolken herabschickt, eine größere Bedeutung als der ganze verhangene Himmel und alles Reden von dunklem Verhängnis.
Und nach seiner Einschätzung hat die Hoffnung auf ein neues Herz und einen neuen Geist ein größeres Gewicht als die nur allzu bekannte Klage über die Herzlosigkeit der Menschen und die Vereisung der Beziehungen untereinander. Das erklärt seine verblüffende Weisung: „Mach dir ein neues Herz!“
Es könnte sein, dass sogar der Schock, den diese Aufforderung auslöst, etwas Heilsames an sich hat. Erklärt sie doch die Verkrümmung zum Symptom, indem sie beim Herzen ansetzen will und dort den Kern des Leidens sieht. Deshalb der Vorschlag: Stellen wir uns dieser Herausforderung! Und fragen wir den Propheten, den wir nun weiterhin als einen Arzt verstehen, wie das denn möglich sein könnte. Hesekiel, sag uns, wie kriege ich ein neues Herz?

Die Antwort des Propheten läuft hinaus auf eine Art Herztherapie. Wobei das Herz nun nicht verstanden ist als Organ, sondern als Mitte der Person. Unser Herz könnte sich ändern. Seine Erneuerung beginnt bei dem, wie es sich bindet, wie es wägt und wie es sich zu erkennen gibt.

1. Wir sind nicht nur biologisch gebunden, es gibt auch eine Bindung des Herzens. Und wenn der Prophet bestreitet, dass das Verhalten der Väter zum Schicksal der Kinder wird, dann ergibt sich daraus ein Rat. Er könnte lauten: Such dir selbst einen Vater oder eine Mutter!
Niemand kann sich seine leiblichen Eltern aussuchen. Aber möglich wäre, unter denen, die uns vorausgegangen sind, jemand als Vater oder Mutter zu adoptieren. Adoptierte Eltern freuen sich, wenn sie beerbt werden. Sie geben gerne von dem, was ihnen wichtig war, an ihre Nachkommen ab. – Da wäre also zuerst zu überlegen: Von wem möchte ich mir helfen lassen? Von wem nehme ich gerne etwas an? Wem möchte ich ähnlich werden?
Der nächste Schritt wäre dann, für eine gewisse Zeit in den Schuhen dessen zu gehen, den wir gewählt haben. Die Welt eine Zeitlang mit seinen Augen zu sehen. Vielleicht: nach dessen Herz zu leben.

2. Unser Herz wägt die Dinge, die eine Last auf unser Leben legen. Aber was wiegt hier schwer und was wiegt leicht? Die Herzwaage ist anders geeicht als die Vernunftwaage. Auch Hesekiel wägt anders als die vernünftige Lebenserfahrung. Dem ist ein zweiter Ratschlag zu entnehmen:
Leg auf die andere Waagschale – das Leichte!
Auf die eine Waagschale des Lebens drückt das, was uns widerfährt. Auch das, was als Erblast auf uns liegt. Und das, was wir selbst an Belastendem in unserem Leben angehäuft haben. – Um nicht aus dem Gleichgewicht zu  kommen, muss man dann wohl auf die andere Schale etwas legen, was genauso schwer, genauso gewichtig, genauso eindrucksvoll ist. Etwas Bedeutendes wenn möglich! Nein, etwas Leichtes: Die Hinkehr zu Gott. Noch leichter: Gott das Gesicht hinhalten. Die Rabbinen haben, ganz im Sinne Hesekiels, gesagt: Um eines Menschen willen, der die Hinkehr zu Gott vollzogen hat, verzeiht Gott der ganzen Welt.
Es will mir scheinen, als seien die Dinge, mit denen wir uns hinwenden zu Gott, zugleich solche, bei denen uns das Herz aufgeht. Leg also, könnte man deshalb sagen, auf die andere Waagschale all das, bei dem dir das Herz aufgeht!
Das Leichteste wiegt am schwersten.

3. Unser Herz macht uns erkennbar. Wo das Herz spricht, ist das Visier hochgeklappt und die Amtsmiene abgesetzt. Nur mit dem Herzen kann man Antwort geben auf die Frage: Wer bist du eigentlich und wo stehst du? Der Prophet ermuntert uns zu antworten, indem er uns einen dritten Ratschlag gibt: Gib deine eigene Antwort und gib sie mit deinem Herzen!
Es ist schon so, dass das Leben uns Aufgaben stellen kann, an denen man sich fast die Zähne ausbeißt. Und es ist gut, sich dabei zeitweilig helfen zu lassen. Etwa durch ein väterliches oder mütterliches Vorbild. Oder durch einen Propheten, der sich aufs Heilen versteht. Aber schließlich muss - und darf! - ich auf die Herausforderungen des Lebens meine eigene Antwort geben, aufrecht, standhaft, selbständig. Sich hinkehren zu Gott bedeutet: Gott antworten. Aber ich muss nicht die Antwort geben können, die Hesekiel gab. Oder die Antwort, die Luther gab oder Dietrich Bonhoeffer oder sonst einer oder eine von den leuchtenden Großgestalten der Glaubensgeschichte. Nicht mehr als die eigene Antwort wird von uns erwartet. Das ist die Antwort, die wir mit dem Herzen geben. Auf die ich mein Herz drücke wie ein Siegel. So setze ich mein Herz aufs Spiel. So werde ich erkennbar. Ich antworte. Das eigene Leben wird zur Antwort darauf, dass Gott selbst uns aus seinem menschenfreundlichen Herzen heraus bejaht. Und das tut dem Herzen gut. Amen.

Perikope
06.07.2014
18,1-4.21-24.30-32