Hier habe ich eine Lobby! - Predigt zu Markus 7,31-37 von Jens Junginger
7,31-37

Hier habe ich eine Lobby! - Predigt zu Markus 7,31-37 von Jens Junginger

Hier habe ich eine Lobby!

Liebe Gemeinde,
ich höre jetzt wieder deutlich besser.
Ich höre einzelne Stimmen aus diffusem Stimmengewirr heraus oder wenn mir jemand leise etwas ins Ohr flüstert.
Das Gezwitscher der Vögel und andere Geräusche höre ich wieder deutlich lauter:
vorbeifahrende Autos, Flugzeuge, allgemeinen Stadtlärm.
So wie es die normal Hörenden auch wahrnehmen.
Das ist nicht nur angenehm.
Das Hörgerät in meinem linken Ohr macht all das möglich.
Es hat mich geöffnet, auch für die feinen und leisen Töne meiner Mitmenschen.
Genial ist, dass wir heute solche technischen Hilfsmittel haben.
Erstaunlich, dass sich manche davor zieren, sich Ihrer Schwerhörigkeit zu stellen.
Man sieht‘s wirklich kaum, sagt man mir.

„Effata“ ist das Wort, mit dem ich diese Erfahrung beschreiben möchte.
Ein seltsames, befremdliches, unverständliches Wort. Es heißt „öffne dich“!
Wie komme ich dazu es zu verwenden?

Ich möchte Ihnen dazu eine biblische Geschichte vorlesen.
Nachzulesen ist sie im Markusevangelium, Kapitel 7, in den Versen 31 bis 37.
Ich lese die Geschichte nach der Übersetzung der Basisbibel:

31Danach verließ Jesus die Gegend von Tyrus wieder.
Er kam über
Sidon zum See von Galiläa,
mitten ins Gebiet der
Zehn Städte.

32Da brachten Leute einen Taubstummen zu ihm.
Sie baten Jesus:
»Leg ihm deine Hand auf.«
33Und Jesus führte ihn ein Stück
von der Volksmenge weg.
Er legte seine Finger in die Ohren des Taubstummen
und berührte dessen Zunge mit Speichel.
34Dann blickte er zum
Himmel auf,
seufzte und sagte zu ihm: »Effata!«
Das heißt: »Öffne dich!«
35Und sofort öffneten sich seine Ohren,
seine Zunge löste sich
und er konnte normal sprechen.
36Und Jesus schärfte ihnen ein,
nichts davon weiterzuerzählen.
Aber je mehr er darauf bestand,
desto mehr machten sie es bekannt.

37Die Leute gerieten außer sich vor Staunen
und sagten:
»Wie gut ist alles, was er getan hat.
Er macht,
dass die Tauben hören
und dass die Stummen reden können.«


Liebe Gemeinde,
zwischen Nicht-hören und Stumm-bleiben besteht ein unmittelbarer Zusammenhang.

Das Unvermögen eines vierjährigen Mädchens, die nicht richtig sprechen konnte, weil sie, wie sich herausstellen sollte, die Worte nie richtig vernommen hatte, hat vor einigen Jahren ihre Mutter veranlasst, das Kind untersuchen zu lassen
Es stellte sich heraus:
Das Nicht- hören hat das Sprechen verhindert. Gehörlosigkeit macht stumm.

Hören ist das erste und letzte Tun von uns Menschen.
Wer auf die Welt kommt, kennt die Stimme seiner Mutter längst.
Wer im Sterben liegt hört was um ihn herum geschieht.  Wenn wir gerade mal 0,9 Millimeter groß sind wachsen uns Ohren. Ab dem 135. Tag hat die Innenohrschnecke (Cochlea) ihre definitive Größe erreicht und wird nicht mehr wachsen.[1]
In einem Brief seiner gerade verstorbenen Mutter, den mir der Sohn, ein Musiker, zeigte,
las ich, dass der schon als Baby mit der Klaviermusik seines Opas aufgewachsen ist.
Die Frage, wie er zur Musik kam, hatte sich damit erledigt.
Was wir unbewusst schon früh hören, prägt uns.
Wenn wir jedoch nichts hören bleibt uns ein wesentlicher Teil der Welt versperrt.
Man ist außen vor.

Taubstumme, heute sagen wir „Gehörlose“ gibt es in unserer westlichen Welt immer weniger. Gehörlose Babys erhalten schon früh Implantate. Wir haben unglaubliche technische Möglichkeiten. Die Gebärdensprache ist selbstverständlicher geworden. Gehörlose kommunizieren öffentlich.

Zur Zeit Jesu – und noch viele weitere Jahrhunderte lang - war das noch anders.
Ziemlich anders.
Man hatte die Hilfsmittel nicht. Aber nicht nur das.
Menschen mit jeglicher Art körperlicher und seelischer Einschränkungen galten als nicht vollwertige Menschen, sondern als von der Natur, den Göttern oder von Gott bestrafte Menschen. Sie waren eine Last und eine Belästigung für die Allgemeinheit.
Sie waren tabu.

In vielen Teilen der Welt ist das heute noch so. Inklusion fängt auch bei uns gerade erst so langsam an.
Manche haben einen starken Überlebenswillen, aller Ablehnung und Ausgrenzung zum Trotz.
Manche schaffen das aber nicht, oder nicht mehr.
Sie haben längst resigniert.

Bei dem Menschen in der Geschichte scheint es auch so gewesen zu sein.
Leute haben ihn zu Jesus gebracht. Erstaunlich und mutig war das von ihnen:
„Leg ihm die Hand auf, baten sie.“
Er war die einzige und letzte Hoffnung.
Jugendliche die von Auslandsaufenthalten bei christlichen Partnerkirchen etwa in Indien zurückkehren, sind erstaunt und erschrocken zugleich.
Weil sie dort erlebt haben, dass Gehörlose, wie auch andre schwache, behinderte Menschen in den dortigen Mehrheitsgesellschaften nichts gelten, keine Beachtung, geschweige denn Hilfe bekommen, ja, dass es als ein Tabu gilt, sich mit ihnen abzugeben.

Sie haben erlebt, nur in christlichen Einrichtungen sind sie willkommen.  Die sind ihr letzte Hoffnung. Warum?
Die Effata-Geschichte ist einer der Auslöser gewesen für das christliche Engagement für Menschen mit körperlich, psychisch, seelisch, geistig oder sozial bedingter Beeinträchtigungen.
Hier haben die Menschen Anerkennung ihrer menschliche Würde, Stärkung und Förderung erlebt.
In diesem Geist hat im 18. Jahrhundert Samuel Heinicke in Hamburg Gehörlose unterrichtet um sie von dem Ruf zu befreien, sie seien nicht bildbar und geistig verkümmert.
Das war ein weiterer Schritt der Öffnung, der Gehörlosen und der Gesellschaft.[2]

Und es ist diese biblische Szene, die erste Anstöße gab:

Jesus blickt zum Himmel, während er seinen Finger ins Ohr des Menschen legt, als suche er nach einem Durchgang. Bei besonders schweren, seelisch oder körperlich Kraft fordernden  Herausforderungen, bei denen wir  auf zusätzliche Kraft von außen angewiesen sind blicken auch wir unbewusst, mit einem Seufzen, nach oben.
Jesus seufzt. Er  gibt sich ganz und gar hin, so weit, dass er die Flüssigkeit seines eigenen Sprachorgans zum Einsatz bringt. Ein Zeichen engster Vertraulichkeit.
Jesus lässt sich in einem Maß auf einen Menschen ein, wie es  tiefer kaum möglich ist.
Sinnliche konkreter, krasser, außergewöhnlicher geht es nicht.
So dicht, so Körper- und Seelennah sind heute am ehesten nur enge Familienangehörige,  Ärzte und Pflegekräfte, Sozialarbeiter, Erziehrinnen, Psychologen  und Therapeuten an Menschen dran.

Liebe Gemeinde
So nahe dran sein an Menschen, sich- hinwenden, berühren und heilendes Befähigen das erwartet und erhofft sich die Gesellschaft heute von der Kirche. Es ist ihr Ursprung.
Schauen wir genauer hin, wo genau sich diese Heilung des Taubstummen ereignet:
Jesus hält sich in der Diaspora auf, im Bereich der zehn Städte, abseits des  jüdischen Kernlands, in der religiösen Fremde.
Sein Ruf hat sich aber bis dort herumgesprochen.
Auch da, oder vielleicht gerade da, hat man ganz besondere Erwartungen an ihn.
Man setzt Hoffnung auf ihn, auf den Messias, auf individuelles Heil und Heilung.
Vielleicht auch auf noch mehr, auf ein besseres Leben und bessere Zeiten.
In der Fremde ist Jesus unterwegs.

Liebe Gemeinde!
Ich halte diesen Ortshinweis für bedenkenswert.
Wir Christen, die christlichen Kirchen, befinden uns heute auch in der Fremde.
Fulbert Steffensky sprach auf dem Tuttlinger Kirchentag von der „Kirche im Exil.“


In Stuttgart sind noch etwa 50 Christen. 
In Tuttlingen sind es noch etwa 2/3, mit abnehmender Tendenz. Deutschlandweit sinkt die Anbindung an die Kirchen.
Viele haben ein indifferentes Verhältnis zur Kirche.

Andererseits fällt auf, da, wo die Kirche im Sinne  Jesu, helfend, zuwendende, berührend, helfend, aufrichtend, mit anwaltschaftlichem Engagement auftritt und als glaubwürdig und authentisch erlebt wird, wie im Bereich der Diakonie oder jetzt in der Flüchtlingsarbeit, da erfreut sie sich einer überaus hohen Akzeptanz und Zustimmung. [3]
Das heißt es dann: Die tun was für die Menschen. Die kümmern sich.
Die schrecken auch nicht zurück, wie  Jesus selbst es tat, den Finger in die Wunden zu legen und sich auch mal nicht so ganz sittengemäß zu verhalten und auf Probleme hinzuweisen.

Jesus wendet sich im wahrsten Sinne der Wörter mit Herz Mund und Hand dem Stummen und Gehörlosen zu. Und seine Zunge löste sich und die Ohren öffneten sich. Effata !

Es ist Sinnbild für das diakonische Handeln der Kirchen.
Es ist sogar zum Name von diakonischen Einrichtungen geworden.
Effata ! Wo das geschieht ist Kirche, in der Seelsorge, in Beratungen, Fördermaßnahmen, in diakonischen Einrichtungen.

Diese Geschichte lässt auch uns aufhorchen und achtsam werden, für die Verstummten und für die, die keine Ansprache mehr haben und mitten unter uns leben. Für Frauen und Männer, alte Menschen, Kinder und Jugendliche, die auf Grund einschlägiger, schleichender, tief in die Seele reichender negativer und traumatischer Erfahrungen taub und stumm geworden sind,

Die vier jährige Samira fällt im Kindergarten nicht auf. Sie ist still. Sie macht sich nicht bemerkbar. Man könnte auch sagen, sie ist lieb, zu lieb, sagt die Erzieherin.
Sie und ihre Familie sind geflohen.
Samira braucht professionelle Hilfe, ein ganz besonderes Einfühlungsvermögen und Förderung, damit sich ihre Zunge löst?
Adam hingegen hört überhaupt nicht, wenn man ihm Regeln setzen will. Nein, er ist nicht einfach ungezogen. Es kommt nichts an bei ihm. Er ist irgendwie taub, auch seine Laute sind nicht identifizierbar.

Eine Kirche in der Fremde, eine Kirche in der Nachfolge Jesu Christi ist gerufen wieder näher dran zu sein an den Menschen um uns und diakonischer zu werden.

Jesus ist es nicht gelungen, sein Engagement geheim zu halten. Das überrascht nicht.
Auch wir brauchen solches  Engagement nicht verschämt bescheiden geheim zu halten.
Und wenn ein vormals verstummter und taub gewordener nach der guten Erfahrung in einer evangelischen Einrichtung aus tiefstem Herzen sagen kann:
Hier habe ich eine Lobby. Hier geht es mir gut!
dann bringt das zum Ausdruck, wie sich christlich motiviertes Helfen auszuwirken vermag.
Damit brauchen wir uns als diakonische Kirche auch nicht zu einer gesellschaftlich nützlichen sozialen Wärmestube degradieren zu lassen.
Und eine Gesellschaft,  der Staat und die Politik kann sich nicht damit begnügen, den Kirchen in der Diakonie  die Rolle zuzuschreiben: Gut das ihr euch um die Bedürftigen kümmert, macht das, dann müssen wir es weniger tun und können sparen.

Die individuelle Zuwendung, Beratung und Förderung ist unabdingbar. Und sie geschieht.
Aber das allein reicht nicht hin. Da steht noch etwas aus
Und als Kirche sind wir beauftragt mit dafür Sorge zu tragen, dass das Reich Gottes besser wachsen kann, im Himmel wie auf Erden und dass es für mehr Menschen spürbarer und erlebbarer wird.
Herbei arbeiten, herbei lieben oder herbei fordern lässt es sich nicht.
Doch haben wir den Auftrag uns auf den Weg zu machen, und darauf hinzuweisen,
dass man von den reichen Einnahmen mehr dafür verwenden kann,
dafür dass die Verschlossenen, Abgetauchten, Verstummten und Abgestumpften und Taub gewordenen wieder befähigt werden und Kraft bekommen, an einem guten Leben teilzuhaben und teil zu nehmen.
Als Kirche Jesu Christi bleiben wir begnadet und befähigt, gerade in der Fremde, im Exil,aus dem Hören zu reden und zu handeln, auf das in der Bach'schen Matthäuspassion gesungene Wort Gottes:
Er hat uns allen wohltuend
Dem Blinden gab er das Gesicht
Die Lahmen macht er gehend
Er sagt uns Seins Vaters Wort
Er trieb die Teufel fort
Betrübte hat er aufgericht'
Er nahm die Sünder auf und an
Sonst hat mein Jesus nichts getan.[4]


Amen


[1] Vgl Sabine Rückert, Die Erhörte, in die Zeit 34/2004. Zitiert in: Göttinger Predigtmeditationen 69, S. 390, von Johanna Haberer.

[2] Johanna Haberer in: Göttinger Predigtmeditationen, S. 394

[3] Gerhard Wegner, Religiöse Kommunikation und Kirchenbindung. Ende des liberalen Paradigmas? Leipzig 2015 S.7ff

[4] zit. a.a.O. S. 395