Hier werdet ihr Gott nicht finden!- Predigt zu Matthäus 21,14-17 von Julia Neuschwander
21,14-17

Eine riesige italienische Barockkirche in Rom. Santa Maria Maggiore. Riesige Marmorfluchten, Weiß, Rosa, Grau, Gold, alles prächtig, riesig, hallig, groß! So erinnere ich es. Als Schülerin hatte ich mit meinen Großeltern und meiner zwanzigjährigen Tante eine Ferienfahrt nach Rom gemacht. Meine Oma in voller Bewegung mit eiligen Schrittchen auf dem glatten Boden, quer durch den Mittelgang, ihre Arme schwenkend. Klein, mollig, mit Rock und dunkelblauer Strickjacke, mit umgehängter wippender Handtasche, grauen Haaren und Gesundheitsschuhen. Sie wirft ihre Arme nach oben: „Hier werdet ihr Gott nicht finden!“ tönt sie laut mit klarer, durchdringender, geschulter Stimme. Und immer wieder sagt sie es, immer lauter mit wohl dosierten, wirkungsvollen Pausen. Am Schluss ruft sie es, laut und deutlich, so dass die Leute stehen bleiben und ihr hinterherschauen. Mein Opa schaut neutral, meine junge Tante macht ein „Ich-bin-gar-nicht-da“-Gesicht und scheint ein Grinsen zu unterdrücken. Ich schaue es mir in Ruhe an und finde es dann richtig gut, wie meine Oma klein, aber umso energiegeladener ob der barocken Schönheit um sie herum voll Empörung den Gang entlangläuft. Ihre Augen blitzen. Sie ruft es jetzt richtig, richtig laut: „Hier werdet ihr Gott nicht finden.“

Meine Oma befindet sich mit ihrer Performance in bester Prophetentradition: Auch Jeremia, Jesaja, Hosea und Joel empörten sich und demonstrierten in Zeichenhandlungen ihren Unmut über einen aufwändigen und ihrer Meinung nach gottlosen Kult. Worum geht es denn eigentlich? Da geht es nicht mehr um Gott, fanden sie. Da geht es nicht mehr um das, was Gott von uns will, fanden sie. Ja, scheinheilig fanden sie das, wenn es den Armen im Lande schlecht geht und gleichzeitig Stiere zum Opfer verbrannt wurden, um Gott gnädig zu stimmen. „Zerreißt Eure Herzen und nicht Eure Kleider“, hielten sie dagegen. „Ich bin Euren Feiertagen gram“, überbrachten sie von Gott. „Es fließe aber das Recht wie Wasser“, wünschten sie sich für die Zukunft.

Wenn ich mir heute nochmal den Auftritt meiner Oma vorstelle,  habe ich gemischte Gefühle. Starke Emotionen, starke Auftritte sind mir heute ein bisschen peinlich. Das mag daran liegen, dass ich als Christin auch Kind meiner Zeit und meiner Kultur bin. Gefühlsbeherrscht zu sein galt nicht nur unter den Stoikern im alten Rom als Tugend, sondern sicherlich auch noch unter uns Christinnen und Christen. Wir unterscheiden da gerne in gute und schlechte Gefühle, mögen Freude und Traurigkeit schon lieber zulassen als Angst oder gar Ärger und Wut.

Macht das denn Sinn? Ist das denn richtig? Sicherlich irgendwo schon. Wer als Kind unter den unberechenbaren starken Wutanfällen seiner Eltern leiden musste, braucht lange, um sich davon zu erholen. Die Nachkriegsgeneration aus Kindern und Enkeln ist vielleicht deshalb vorsichtig bei starker Panik oder starker Beunruhigung, weil das Wissen immer noch in uns ist, dass in einem Luftschutzkeller eine Massenpanik auch einen Massentod auslösen kann. Gemäßigte, mäßigende Eltern sind daher sicher ein hohes Gut. Gleichzeitig müssen sie auch Grenzen ziehen können, Werte verteidigen - vielleicht lautstark, aber gewaltlos.

Kein Wunder, wenn sich auch das Christentum in den mäßigenden Strom der Kultur gut einfindet. Bibelverse empfehlen, die Sonne über dem eigenen Zorn nicht untergehen zu lassen und das mäßigende christliche Lied- und Textgut preist die Tugend des Aushaltens: „Man halte nur ein wenig stille“, „Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, halte ihm die linke hin.“. Vaterfiguren, die noch gewaltsam züchtigen, wie im Hebräerbrief beschrieben wird, sind dagegen heute mit Recht und zum Glück allgemein anerkannt absolut untragbar und wir nennen ihr Verhalten mit Recht und mit voller Überzeugung „Sünde“.
Was wir dabei aber vielleicht ein wenig vergessen, ist, dass das Stille halten und Sich-Nicht-Empören ebenfalls „Sünde“ sein kann, ebenfalls ein immer mehr „Sich-Entfernen-von-Gott“.
Wenn ich zu sehr stille halte, wenn ich nicht meine Grenze ziehe, weder für mich selbst noch für andere, wenn ich bewusst die Augen schließe vor offensichtlichem Unrecht, weil ich mich lieber nicht einmischen will in Familien, Beziehungen, Ehen, Arbeitshierarchien, dann ist das genauso „Sünde“. Wir sollten das nicht vergessen. Wenn ich stille halte, wenn ich meine Werte nicht schütze, sündige ich. „Man halte nur ein wenig stille“ ist Sünde, ein Verhalten, das mich immer weiter entfernt von mir selbst und Gott. Genauso wie eigenhändig Gewalt auszuüben und so andere zu schädigen. Ein klares, mutiges Wort zur richtigen Zeit dagegen kann viel bewirken – und wenn es vorläufig nur die Kultur verändert, in der wir leben.

Warum halten wir denn dann lieber alle ein bisschen stille, statt an der richtigen Stelle im gerechten Zorn den Mund aufzumachen? Wir sind nicht so erzogen, wir trauen uns nicht, wir befürchten Konsequenzen, Ablehnung, Mobbing, Trennung, Entlassung. Wir befürchten, nicht mehr gemocht zu werden. Als Erwachsene sind wir daher vielleicht lieber ein Leben lang lieb statt stressig, unbequem, nervig und anstrengend.
Wo wir Erwachsene uns schwer tun, sind Kinder Naturtalente. Wir Erwachsene müssen das angstfrei üben und brauchen gute Vorbilder. „Das ist unfair!“ sagt ein kleines Mädchen im Kindergarten sofort und im vollen Impetus, wenn sich jemand vordrängelt oder Dinge nicht gerecht verteilt werden.

Von der Wucht von Gottes gerechtem Zorn erzählen ganze Bücher der Bibel, auch das Jona-Buch, in dem Gott in gerechtem Zorn der Stadt Ninive den Untergang ausrichten lässt, dann aber die Stadt Ninive in gerechter Barmherzigkeit am Schluss verschont, weil die Menschen sich besinnen, ihre Untaten von Herzen zu bereuen und neu anzufangen.

Jeremia, Jesaja, Hosea, Joel– und Jesus. Ich stelle ihn mir vor, wie Jesus waffenlos, gewaltlos, aber umso effizienter in den Tempel rauscht. „Ihr habt aus meines Vaters Haus, eine Räuberhöhle gemacht!“ Am Vortag noch hatte er sich den Ort in Ruhe angeschaut: Da, wo römische Münzen mit dem Antlitz des Gottkaisers in gottesfürchtige Schekel umgetauscht werden, wo Tauben in Käfigen als Opfergaben verkauft werden, wo ein Gemache und Gewühle ist wie auf einem antiken Marktplatz, im Vorhof des Tempels nahe dem Allerheiligsten. Und dann ist er da, allein. Allein die Wucht seiner Entschlossenheit lässt die Leute aufschrecken. In gerechtem Zorn fegt er, ein einzelner Mann, durch die Halle und scheucht alle auf. Ruft Bibelzitate, wirft Verkaufstische um, agiert so lange, bis die ersten erschrocken zusammen packen und gehen. Andere suchen am Boden ihre Münzen zusammen, wieder andere bleiben wie gelähmt stehen und schauen zu. Vereinzelte haben einfach nur Angst. Die Hohepriester – und an sie ist das Ganze ja auch adressiert – schauen vom Rande ungläubig, fassungslos und wiederum zunehmend wütend zu. Wer gar nicht weint, wer gar keine Angst dabei hat, das sind die Kinder. Sie freuen sich an dem reinigenden Gewitter und beginnen in das Durcheinander laut zu schreien: „Hosianna!“ schreien sie, „Hosianna dem Sohn Davids!“

 

Jeremia, Jesaja, Hosea, Joel, Jesus - und in deren Tradition auch meine Oma. Worum geht es eigentlich? „Hier werdet ihr Gott nicht finden!“ mahnt meine Oma in gut reformatorischer Erfurter Tradition mitten im Prunk des römischen Barock. Eure Gottesdienste sind hohl, wenn die Menschen nicht mehr aus Nächstenliebe an ihrem Nächsten handeln, mahnen die Propheten. Eure alten Opfer haben ausgedient, sie helfen nicht mehr, der alte Opferkult ist am Ende, ihr müht Euch umsonst mit Münzen und Tauben und Opferkäufen, mahnt Jesus – auch im übertragenen Sinne. Jesus macht Schluss mit diesem Opferkult. Die alte Opferpraxis zieht nicht mehr. Was helfen Opfer, wenn das Grundsätzliche nicht stimmt. Was helfen uns Beichtgebete, Schuldbekenntnis, offene Schuld, Selbstbezichtigungen im Gottesdienst, wenn unser Handeln im Alltag dasselbe bleibt? Jesus heilt stattdessen sofort die Blinden und die Tauben, die im Raum sind, und lässt sie sehen und hören.

 

Wenn Menschen sich für andere aufopfern, für die Arbeit, die Familie, für den Partner, die Partnerin, dann ist das zu viel, dann geht das auf Kosten der eigenen Gesundheit, auf Kosten des eigenen Heil-Seins. Dann ist das nicht das Eigentliche mehr, um das es gehen muss. Dann ist das nicht mehr guter, heilsamer Dienst an der Gemeinschaft, dann ist das einfach nur unheilvoll. Der Messias, der Heilsbringer, der Friedenfürst rückt diese Verhältnisse zurecht. Er zieht dazu auf einem Esel ein statt auf einem Kampfross. Er wendet keine Gewalt an, aber umso mehr Entschlossenheit und Stärke. Er ist ein solcher Retter und agiert – in guter Gottessohntradition – in echtem gerechtem Zorn, wenn er in den Tempel einzieht und sich über das, was er dort findet, mutig und ungebremst empört. Er errichtet sein Reich, indem er den Hohepriestern erst einmal eine ungeheuerliche Provokation bietet. Das ist dann im wahrsten Sinne reinigend. Und darin Vorbild für beherzte, mutige, entschlossene Christinnen und Christen, die nicht stille halten, sondern klug und dosiert klare Kante zeigen, so unabweisbar wie gewaltlos. 

Die Geschichte von Jesu Auftritt im Tempel wurde nach seinem Tod erzählt. Sie erzählt bereits in ihren Details von Tod und Auferstehung. Jesus selbst kündigte es seinen Jüngern und Jüngerinnen an, dass er den Tempel abreißen und ihn in drei Tagen wieder aufbauen wird. Dabei dachte er an seinen eigenen Körper. Jesus will den Tempel abreißen und ihn in drei Tagen wieder aufbauen, so deuteten die Menschen es nach seinem Tod: Damit sei Jesu Körper gemeint. Ein Körper, der tödlich verletzt, tödlich zerstört und in drei Tagen wieder aufgebaut ist als Lichtleib mit Regenbogenaura, wie es wunderbar anzusehen ist beim Isenheimer Altar. Ja, was ist denn das? Das ist unser großer unbeirrbarer Glaube. Das ist unsere alles durchdringende Hoffnung. Wenn ein Körper tödlich verletzt wurde, kann er geheilt werden. Wenn ein afrikanisches Mädchen oder eine jesidische junge Frau jahrelang verschleppt, vergewaltigt und gedemütigt wurde, dann kann ihre Seele wieder aufgebaut werden, errichtet aus der Resilienz eigener und fremder Bausteine. Mit unserer Hilfe und mit Gottes Hilfe. Das ist unser Glaube, das ist unsere Hoffnung. Auf Trauer folgt Freude, auf Unrecht Gerechtigkeit und auf Gewalt Sicherheit, Schutz und Frieden.
Amen.

Perikope
14.05.2017
21,14-17