Vom Einüben in die Weisheit
Manchmal hing der Himmel meiner Kindheit zum Greifen nah über der Wiese. Dann klaubte ich mir die besten Wörter, Namen und Gestalten aus dem Blau und türmte mir unter den Wolkenbergen neue Geschichten zusammen. Zuerst die, die gern mal den Himmel kopfstehen lassen oder für einen Anflug von Ratlosigkeit sorgen: Mose, der vor lauter ungebremster Wut die nagelneuen Gebotstafeln Gottes zertrümmert. Der verlorene Sohn, der den halben Hof und (fast) den ganzen Himmel verprasst und trotzdem geliebt wird. Oder der ungläubige Thomas, der Gott erst anfassen muss, um glauben zu können. Da ist die sprechende Eselin und ihr liebenswürdig störrischer Reiter Bileam. Oder Jona, der Prophet, der ein ganz falsches Schiff bucht, um Gottes lästigen Aufträgen zu entkommen. Ich bewunderte Rebekka, die ihrem Schoßkind Jakob listig zu einem Segen verhalf, der seinem Zwillingsbruder versprochen war. Alles unter den Augen Gottes. Manchmal besuchte ich den Träumer Joseph, der seinen Träumen mehr traute als den verzweifelten Bosheiten seiner Brüder. Der lehrte mich, nicht alles zu glauben, was vor Augen ist. Mit der Weisheit seines Herzens bewahrte er ganz Ägypten vor der Hungersnot. Und schließlich: Von Sara lernte ich, dass ich von Herzen über die Engel Gottes lachen darf.
Meine aufsässigen Weisen haben alle Gott auf dem Herzen. Leidenschaftlich und immer angefochten fragen sie sich durch die Welt, wenn es sein muss, bis zu Gott. Alle haben ein unbeirrbares kindliches Herz. Leicht zu erkennen, denn so ein Herz hört niemals auf zu fragen.
„Begreift, was der Herr von euch will!“ heißt es im Text (V.17). So lange ein Mensch danach fragt, ist er unterwegs zu Gott.
In meinem kindlichen Herzen sorgte ich deshalb immer gern für aufregende Nachbarschaftshilfe. Pünktchen und Anton durften an die Krippe, Pippi Langstrumpf in Abrahams Schoß und Timm Thaler wusste möglicherweise am besten, wann man die Zeit besser nicht „auskauft“. Alle zusammen sahen zu, wie ernst es werden kann, wenn die Weisheit kämpfen muss: Don Quijote jagte mal wieder eine Gruppe Soldaten in die Flucht, die auch von ferne nicht harmlos aussahen – wie etwa Schafe oder Windmühlen. Der unbestechliche Bilderbuchritter ließ sich von niemandem etwas vormachen. Von ihm lernte ich, wie man die Erde lesen muss, wenn man den Himmel pflücken will. Dabei achtete er nicht auf berühmte Zaungäste. Schon gar nicht hörte er auf seinen neunmalklugen Freund Sancho, der mit seinem sachlichen Scharfblick die wirkliche Welt und erst recht den Himmel fast immer verfehlte.
Ob es um Weisheit geht oder um Glaubensdinge, ich habe meine himmlischen Lehrerinnen und Berater fast immer und überall bei mir. Sie bewohnen meinen „Himmel zum Mitnehmen“ bis auf den heutigen Tag. Mühsam habe ich gelernt, sorgsam auf sie zu hören. Ich lernte auch, dass so ein Himmel allezeit von neuem gefügt werden muss: mal zu einem Mosaik aus tausend Scherben, mal zu einem Wort aus tausend Wörtern. Mein liebes blaues Puzzle weiß in allen erdenklichen Farben zu leuchten. Aber es bleibt ein Himmel auf Abruf. Dennoch habe ich nicht verlernt, ihn überall zu „pflücken“, wie einen Strauß Wiesenblumen.
Was aber, wenn dieser Himmel eines Tages schließt? Wenn wir neu leben lernen müssten in einer mündigen Welt, „als ob es Gott nicht gäbe“? So jedenfalls hat es Dietrich Bonhoeffer in einer überaus „bösen Zeit“ formuliert. Hält unser Glaube auch das noch aus?
Stell dir vor, du legst dich schlafen zu deiner Zeit und erwachst in der
Haut- und Knochenzeit
So jedenfalls erging es Leonhard Auberg, dem Ich-Erzähler in dem Roman „Atemschaukel“ von Herta Müller.
Sein heiterer Himmel war mit einem Schlag rabenschwarz geworden, als er am 17. Januar 1945 nachts um drei aus dem Schlaf gerissen und von einer Patrouille abgeholt wird. Als Angehöriger der deutschen Minderheit in Rumänien wird er, kaum siebzehn Jahre alt, in ein Arbeitslager im Donbass deportiert.
In seiner Erinnerung weinte die Mutter ihm noch lange nach. Aber die Großmutter sprach ihm auf dem Hausflur eine Gewissheit ins Herz: „ICH WEIß, DU KOMMST WIEDER“. An diese fünf Worte wird er sich klammern. Denn schon während des wochenlangen Transports im Viehwagen bleiben viele teuer bezahlte Wahrheiten auf der Strecke und türmen sich zwischen den Bahngleisen zu „böser Zeit“.
„Kaufet die Zeit aus“, sagt der Predigttext. Aber im Lager ist die Zeit umstellt und bewacht von scharfen Wächtern: „Trübsal, Angst, Hunger, Kälte, Blöße, Gefahr und Krieg“ (Römer 8).
Schon bei der Ankunft haben viele Alltagsworte abgelaufene Schuhe. Auch ewige Gewissheiten verstummen langsam. Und Gott selbst scheint betreten zu schweigen. Die meisten Worte sind todmüde. Die meisten Menschen auch.
Immer wieder dreht sich der Zeitkreisel, droht der „Hungerengel“.
Phantomschmerzen der Kuckucksuhr
Das „Auskaufen der Zeit“ wird im Lager mit Seelengeld bezahlt. Das belegt eine Kuckucksuhr, die plötzlich in der Baracke am Nagel über dem Blecheimer hing und die böse Zeit hütete. Niemand wusste, woher sie gekommen war. Niemand wollte sie haben. Denn “… sie belästigte uns alle zusammen und jeden einzeln. Im leeren Nachmittag horchte das Ticken, ob man kam, ging, in seinem Bett schlief. Oder nur dalag, in sich selbst gekehrt oder abwartend, weil man zu hungrig zum Einschlafen und zum Aufstehen zu matt war. Aber nach dem Abwarten kam nichts, außer dem Ticken im Gaumenzäpfchen verdoppelt vom Ticken der Uhr. Eigentlich gehörte die Kuckucksuhr dem Hungerengel. Es ging hier im Lager doch gar nicht um unsere Zeit, nur um die Frage: Kuckuck, wie lang leb ich noch?“
Bis einer den Kuckuck von der Wand schlug. Aber der Phantomschmerz blieb lange.
Beschriftete Schätze
In Herta Müllers Buch gibt Leonhard Auberg nach fünf Jahren Zwangsarbeit Auskunft über sein wunderbares Überleben. Was er bewahrt, und vor allem, was ihn bewahrt hat, erzählt er mit ganz ungewohnten Worten. Meinen Weisheitshimmel kannte er ja nicht. Er hat ganz anders lernen müssen, seine Zeit abzusuchen und auszukaufen. Fünf Jahre. Tag für Tag. Pausenlos. Allerböseste Zeit. Was er nach der Haft nach Hause bringt, lässt aufhorchen:
„Kleine Schätze sind die, auf denen steht: Da bin ich. Größere Schätze sind die, auf denen steht: Weißt du noch?.
Die schönsten Schätze aber sind die, auf denen stehen wird: Da war ich.“
„Da bin ich“
Überlebensschätze liegen nicht auf der Straße. Stehen sie in der Bibel? Jedenfalls nicht auf den ersten Blick. Auberg musste sie jedenfalls mitten im Lager einsammeln, verstecken und behüten, wenn zwischen Alltagsangst oder Sonntagsenge die Zeit zuzuschlagen drohte:
Der graue Putz auf der Barackenwand macht Ernst mit einem Sonnenstrahl. Später tanzt der Mai durch die Brennnesseln. Eine Linde verborgt ihren Schatten an einen kurzen Sommertag. In einer Fensterzeile macht der alte Himmel ein paar Minuten Kopfstand.
Man lernt, ein helles Rechteck auf der weißen Wand des Wachturms lieb zu gewinnen. Das ist eine gute Übung. Alle Schätze fangen unten an.
„Weißt du noch?“
steht auf den größeren Schätzen. Aber wie Mehltau legt sich flüchtiges Heimweh darauf. Es stört und stöbert. Begegnungen, Erzählungen, sogar Umarmungen werden durchkämmt.
Die meisten Menschen hängen mit ihren Erinnerungen an einer Landschaft fest. An einem Gebirge, einem Fluss, einem Stadtviertel, einer Straße von früher. Manchen genügt ein Treppenhaus, ein Lichtmuster auf dem Asphalt, die untrügliche Farbe des Ginsters. Dann kommt zutage, „was allen in die Kindheit scheint“. Das erste buchstabierte Wort, sogar ein Brief an den lieben Gott. Auf allem steht: Weißt du noch?
Herzhimmel
Der schönste Himmel kann auf einmal leer sein, auch außerhalb aller Lager. Überall, wo das Diktat der bösen Zeit die Oberhand gewinnt, erscheint das Vertrauteste schnell fremd: Gott. Erst recht der Heilige Geist. Und alle Engel.
In einen fremden Himmel hängt niemand Geigen.
Zuerst vergeht einem das Singen. Dann das Beten. Zuletzt die Verheißungen. Aber der Geist weht, wo er will, fremd oder nicht, in der besten und in der bösesten Zeit.
Deshalb sind die schönsten Schätze die, auf denen stehen wird: Da war ich.
Sie klingen nach in einem Wiegenlied oder in einem Wind in den Weidenbäumen. Sie werden sichtbar in einer schnellen Schrift am Rand einer Buchseite. Oder in einem heimlichen Freudentanz nach der Heimkehr.
Da stößt der Erzähler am Ende des Romans noch einmal auf den Predigttext. Weltlich, aber treffsicher:
„Ich habe Zeit… Wenn der Uhrturm halb drei schlägt, fällt die Sonne ins Zimmer. Auf dem Fußboden ist der Schatten meines Tischchens ein Grammophonkoffer. Er spielt mir das Lied vom Seidelbast oder die plissiert getanzte Paloma. Ich hole das Kissen vom Sofa und tanze in meinen plumpen Nachmittag.“
Seither sind seine Lieder in meinem Herzhimmel aufgeschrieben.
Der Himmel hat eine große Weite.
Für Lieder. Für Gebete. Für Erinnerungen. Für Wunder. Für alle Nähe und für alles Ferne. Für Gott und für den Heiligen Geist. Und für seine schönsten Schätze:
Abrahams Schoß und Saras Lächeln. Moses Körbchen und Miriams Trommeln. Sogar Posaunen von Jericho. Eine Sprosse von Jakobs Leiter, ein Muster von Josephs Rock. Eine Saite von Davids Harfe und Salomonis Seide.
Im Herzhimmel gibt es kein einziges Haus aus fremdem Lehm.
Überall wird draufstehen: Da war ich.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die Predigt ist für eine Stadtteilgemeinde geschrieben, die eine rege, gut gemischte Zuhörerschaft erwarten lässt. Durch die Pandemie und vor allem vor dem anhaltenden Hintergrund des Krieges ist die Gemeinde hellhörig geworden und fragt: „Halten unsere Gewissheiten besser stand als unsere Gewohnheiten?“
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Das Buch „Atemschaukel“ von Herta Müller. Darin wird die Aufforderung des Predigttextes, „die Zeit auszukaufen“, dem Härtetest eines Gefangenenlagers ausgesetzt.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Dass es kindliche Gewissheiten gibt, die tröstlicher sind als alle erwachsenen Weisheiten zusammen.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Ich habe mit der Predigtcoach einen sehr lebendigen Dialog geführt. Ihre behutsamen Hinweise haben mich bestärkt, meinen Entwurf sehr verbessert und – sogar lang gehegte Denkgewohnheiten korrigiert.