Der Januar war zu grau. „Friederike“ wehte zu heftig. Immer noch räumen wir auf – die Dachziegel, die gefällten Bäume, die eingedrückte Friedhofsmauer. Und dann die Statistik: So viele Sterbefälle – und so wenige Taufen…
Woraus leben wir als Gemeinde? Sind es die herausragenden Gottesdienste, die beglückenden Momente, in denen viel mehr Menschen kamen als wir uns vorgestellt hatten? Gewinnen wir unsere Kraft daraus, dass wir durchhalten? Anpacken und aufräumen? Dass wir manche Gottesdienste in sehr kleiner Zahl feiern, immer wieder. Dass wir erleben – wenn wir uns begegnen, dann sind wir nicht unter uns. Gottes Wort, Gottes Geist kommen dazu und machen das Wesen unseres Miteinanders aus. Oder sind es sogar genau die Momente, in denen wir realisieren: Wenn es nur von uns abhinge, dann könnten wir gleich einpacken. Es menschelt ja auch unter uns. Und jede/r ist den eigenen Befindlichkeiten am nächsten.
Für mich ist es die Einheit aller dieser Erfahrungen, die uns als Gemeinde ausmacht. Dass zu uns das Eingeständnis der Schwäche ebenso gehört wie der Jubel über einen gelungenen, großen Gottesdienst, der die Herzen von vielen erreicht. Wir leben als Gemeinde daraus, dass wir uns innerhalb dieser Pole bewegen – und darauf vertrauen, dass an jedem Punkt Gott mit uns ist.
Predigttext
Gerühmt muss werden; wenn es auch nichts nützt, so will ich doch kommen auf die Erscheinungen und Offenbarungen des Herrn. Ich kenne einen Menschen in Christus; vor vierzehn Jahren – ist er im Leib gewesen? Ich weiß es nicht; oder ist er außer dem Leib gewesen? Ich weiß es nicht; Gott weiß es –, da wurde derselbe entrückt bis in den dritten Himmel. Und ich kenne denselben Menschen – ob er im Leib oder außer dem Leib gewesen ist, weiß ich nicht; Gott weiß es –, der wurde entrückt in das Paradies und hörte unaussprechliche Worte, die kein Mensch sagen kann. Für denselben will ich mich rühmen; für mich selbst aber will ich mich nicht rühmen, außer meiner Schwachheit. Denn wenn ich mich rühmen wollte, wäre ich kein Narr; denn ich würde die Wahrheit sagen. Ich enthalte mich aber dessen, damit nicht jemand mich höher achte, als er an mir sieht oder von mir hört. Und damit ich mich wegen der hohen Offenbarungen nicht überhebe, ist mir gegeben ein Pfahl ins Fleisch, nämlich des Satans Engel, der mich mit Fäusten schlagen soll, damit ich mich nicht überhebe. Seinetwegen habe ich dreimal zum Herrn gefleht, dass er von mir weiche. Und er hat zu mir gesagt: Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft vollendet sich in der Schwachheit. Darum will ich mich am allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, auf dass die Kraft Christi bei mir wohne. Darum bin ich guten Mutes in Schwachheit, in Misshandlungen, in Nöten, in Verfolgungen und Ängsten um Christi willen; denn wenn ich schwach bin, so bin ich stark.
Wieder einmal bleibt Paulus nur der Brief nach Korinth. Von dort hört er vernichtende Urteile über sich. Diesem Mann und seinem Weg für die Gemeinde wollt ihr weiter vertrauen? Diesem ehemaligen Christenverfolger? Diesem schwachen Menschen? Über Paulus ist die Gemeinde doch längst hinausgewachsen… So könnten manche der korinthischen Stimmen gelautet haben… Könnten… denn bei diesem Briefverkehr kennen wir jeweils nur die Reaktionen, also das, was Paulus antwortet. In dem Abschnitt, den wir eben gehört haben, geht es ans Eingemachte. Himmlische Höhenflüge führt er an. Auf die ihn niemand Geringerer als Jesus Christus selber mitgenommen hat. Sogar einen Blick in das Paradies hat er werfen dürfen – und dort Dinge gehört und gesehen, für die er im Nachhinein gar keine Worte findet. Das Ganze geschah - vor vierzehn Jahren… Ist dieser angegriffene Apostel wirklich so bescheiden, dass er so lange über so eine überwältigende Erfahrung schweigt? Warum spricht er dann jetzt darüber?
Genau wissen wir das nicht. Generationen von Auslegern der Paulusbriefe haben versucht durch einen Vergleich der Paulusbriefe und durch Hinzuziehung weiterer Schriften Näheres herauszubekommen. Haben sie aber nicht. So wie Paulus jetzt davon berichtet, möchte er dadurch nur eines: Er lobt Gott für dieses Geschenk an ihn. Himmlische Höhenflüge…
Gleich im nächsten Gedankengang saust er mit Macht wieder dem Erdboden entgegen. Ein Stachel im Fleisch, eine körperliche Einschränkung macht ihm das Leben schwer. Gefleht hat er darum, diesen Makel loszuwerden, aber genützt hat es nichts. So spürt er es am eigenen Leib: Aus meiner eigenen Kraft heraus, weil ich etwa so ein stattliches Mannsbild bin, kann ich dem Lob Gottes kaum dienen.
Woraus leben wir als Gemeinde? Wir leben auch aus den Zeugnissen einzelner Menschen. Und obwohl diese Aussagen des Apostels ihren Ort innerhalb seines Ringens um die Gemeinde in Korinth haben, sind sie doch auch das Zeugnis eines Christen. Eines Christen, dem ein sehr vertrauter Umgang mit Jesus Christus und ein Einblick in uns Menschen eigentlich verschlossene Sphären gestattet wurde. Eine Krafterfahrung, die auch in schweren Zeiten trägt. Und dann schließt sich auch gleich das andere an: Die Klage über die eigene Begrenztheit, den schwachen Körper.
Beides steht an dieser Stelle nebeneinander, beide Pole des geistlichen Erlebens – die Erfüllung und das Angefochtensein.
Himmlische Höhenflüge und eine unsanfte Landung auf dem Boden der körperlichen Tatsachen. Das bleibt alles rätselhaft. Aber es führt uns auch mitten hinein in die Kirchenjahreszeit, die jetzt angebrochen ist – in der wir auf die Passionszeit zugehen. Himmlische Höhenflüge – das ist auch ein schönes Bild für die Weihnachtszeit mit all dem Wunderbaren, was wir gefeiert haben. Und der Weg durch die Passionszeit, das ist ein Weg durch alle Niederungen des menschlichen Lebens. Immer an der Seite von Jesus, dem Christus, Gottes Sohn und unserem Bruder.
Lass dir an meiner Gnade genügen, spricht Gott; denn meine Kraft vollendet sich in der Schwachheit… In diesem Satz ist schon ein österlicher Hoffnungsschimmer enthalten. Denn in dem Moment, in dem Jesus der Brutalität der Menschen ausgeliefert war, in dem er einen grauenvollen Tod starb, in dem Moment griff Gott ein und holte ihn ins Leben - als Hoffnung für alle Menschen, die leiden.
Sechzig Tage sind es noch bis Ostern. Zehn Tage noch befinden wir uns in dieser Zwischenzeit. Eine ruhige Zeit im Gemeindeleben. Wir blicken zurück – und blicken voraus. Denken an Glaubensfülle und beklagen Glaubensdürre. Wissen uns getragen auf dem Boden der gemeindlichen Tatsachen – und weit darüber hinausgehoben… Packen an, räumen auf. Schaffen Räume. Hören die Worte: Lass dir an meiner Gnade genügen.
Amen.
Liedvorschlag: Gott hat mir längst einen Engel gesandt (Durch Hohes und Tiefes, 344)