Hirte – nicht Mietling - Predigt zu Johannes 10,11-16 von Henning Kiene
10,11-6

Hirte – nicht Mietling 

Eine Frau erwacht in der Notaufnahme. Sie öffnet die Augen. Jemand ist im Raum. Ein junger Arzt verbindet gerade eine Wunde an ihrem Arm. „Wo bin ich?“, frag sie und dann „Was ist passiert? Wie komme ich hier her? ... Wo ist mein Fahrrad?“ Der Arzt spricht sie mit ihrem Namen an. Er erklärt ihr, was passiert sein könnte. Fahrradsturz, Krankenwagen, nicht harmlos, aber doch „nur eine Gehirnerschütterung“, mittelschwer. 48 Sunden solle sie hier bleiben, mindestens und sicherheitshalber. Er spricht sachlich, bleibt ruhig, stellt ihr einige Fragen, hört aufmerksam hin, sieht ihr immer wieder in die Augen. Das macht sie ruhiger und immer wenn er ihren Namen nennt, lässt ihre Anspannung spürbar nach.

Ein Mann erhält einen Anruf, „Anrufer anonym“ steht auf dem Display. „Anonym“, das ist selten. Er nimmt den Ruf an. Jemand meldet sich aus einem Krankenhaus. Er hört nur das Wichtigste, einen Namen…, seine Frau, ja. Die Rede ist von einem Sturz, einer Gehirnerschütterung, mittelschwer sei die und die Frau brauche einige wichtige Dinge. Er meldet sich bei seiner Kollegin ab, „geh los“, sagt die. Kaum 60 Minuten später meldet er sich auf der Notaufnahme. Der Arzt ist jünger, als er dachte. Der stellt sich vor, nennt seinen Namen, erklärt ihm und seiner Frau, was getan wurde. Diagnose: Gehirnerschütterung, nicht ganz leicht. Sie sieht verstört aus dem Krankenhausbett zu den beiden Männern auf. Dann lässt der Arzt die beiden alleine.

Wochen später sprechen die beiden von diesem Tag, sie von ihrem Sturz – niemand weiß, was wirklich passiert ist – und von diesem kritischen Moment, als sie zu Bewusstsein kam. „Da sagte jemand meinen Namen, das hat mich sehr beruhigt“, erinnert sie „und als man mir sagte, mein Mann käme, war ich nicht mehr so furchtbar aufgeregt.“ Er spricht von der klaren, ruhigen Stimme des Arztes. Mann und Frau sind sich einig: Da sind sie einem Profi begegnet, der weiß, wie man mit Menschen umgehen muss. „Das hätte auch schief gehen können“, sagen beide.

Dieser Arzt war kein „Mietling“, es war ein „Hirte“. Einer, der sich professionell, also fachlich und menschlich qualifiziert hat und der seine Sache kann, der sich Namen merkt, der weiß, wie man die großen Emotionen so lenkt, dass sie niemanden überfordern. Im richtigen Moment wusste er sich zurückzuziehen.

Hirten sind Profis. Sie wissen, was sie tun, kennen die Gefahren und wissen, wie man knifflige Momente meistert. Hirten arbeiten überall. Da war von einem Piloten die Rede, der kurz nach dem Unglück seine Fluggäste persönlich am Einstieg seines Airbusses persönlich. Alle Passagiere waren im dankbar. Da ist die Lehrerin, die vor ihre Klasse tritt. 20 Augenpaare sehen, was sie tut, 20 Ohren hören auf jedes Wort, das sie sagt. Sie weiß, sie trägt unendlich viel Verantwortung. Sie weicht dem Risiko nicht aus, gibt ihr Bestes. Da arbeitet die Redakteurin der Regionalzeitung, die weiß, ein falsch gewähltes Wort über die neue Asylantenunterkunft kann den Frieden des Ortes in Gefahr bringen. Sie wägt ihre Texte sorgfältig ab, will nur informieren. Es ist die Regel, dass Frauen und Männer ihr Leben nicht als Mietlinge bestreiten, sondern die Verantwortung, die sie tragen, kennen und genau wissen, sie zu tun haben.

II. Ich bin der Hirte

„Ich bin der gute Hirte“, höre ich Jesus. Ich sehe ihn vor mir. Viele Menschen haben von diesem Hirten gelernt. Das Wort Hirte gewinnt aus der Bibel seinen besonderen Klang. Ohne viel darüber nachzudenken, weckt die Bibel ein Bild für diese besondere Fürsorge, die der Hirte in seiner Arbeit walten lässt. Viele Menschen würden das, was sie tun, in andere Worte fassen, aber sie werden dennoch zu Hirtinnen und Hirten. Sie sorgen, helfen, unterstützen, handeln, hoffen, beten, sprechen, sind korrekt und menschlich zugewandt. Hirte sein, das ist absichtsfreie Zuwendung und birgt immer auch ein Risiko in sich. Hirte sein, das heißt: Eigene Ziele in den Hintergrund zu stellen und die, die einem anvertraut sind, sicher ans Ziel zu bringen.

So lesen sich die Evangelien: Jesus handelt für andere. Er inszeniert mit seinem Leben den Psalm 23 und setzt in Szene, was mit dem Satz „der Herr ist mein Hirte“ tatsächlich gemeint ist. Allein die Verben des Psalms weisen - auf dem Hintergrund der Texte dieses Sonntags gelesen - Jesus die Hauptrolle zu: Weiden, führen, erquicken, trösten, bereiten, salben, schenken, folgen, bleiben. Das sind neun Verben, die - spricht man sie in Folge aus - das Leben Jesu in konkrete Bilder umsetzen. Hirte sein wird zu einer Haltung, die Gott einnimmt.

Jesus ruft eine Welt ins Leben, die das stärkt, was das Leben erhält und fördert, es belebt und ihm Schutz verspricht. Weglaufen, wie ein Mietling, das gilt nicht. Hier wird getröstet, entängstigt, ermutigt, gestärkt, belebt. So wirkt Gott. Einige sagen jetzt: „Aber das wissen wir doch schon lange“, ja, so ist es. Aber ich behaupte – in Anlehnung an Martin Luther –: in dem Moment, in dem ich von dem Hirten höre, werde ich daran erinnert, dass das Christsein immer ein „Werden“ ist und nicht ein „Sein“. Mit dem christlichen Glauben besuchen wir alle eine Art lebenslangen Hütekurs, erwerben permanent Grundfertigkeiten des geistlichen Hirtenhandwerks.

III. Ausbildungsplätze für Hirtinnen und Hirten

Hirtinnen und Hirten, das werden nicht nur Romantiker, die sich nach einer Heidschnuckenherde in der Lüneburger Heide sehnen. Wer sich nach dem Berufsbild des Hirten oder der Hirtin umsieht, vielleicht diesen Beruf selber ergreifen möchte, trifft auf die Fachsprache der Agentur für Arbeit. Hirtinnen und Hirten heißen heute „Tierwirte/innnen der Fachrichtung Schäferei“. So ist der Beruf beschrieben: „Schafe (halten) für die Gewinnung von Fleisch, Milch und Wolle. Sie (die Hirten) versorgen und füttern Schafe, ziehen Jungtiere auf und pflegen kranke Tiere.“[1] Kurz: Sie übernehmen die Verantwortung für ihre Herde und die Hunde.

Die Schweizer Ausbildungsordnung beschreibt den Hirtinnen- und Hirtenberuf als Arbeit „zwischen Nutztier und Naturgewalt, - zwischen Bergwelt und Fleischproduktion - zwischen Besinnung und Bergsport, - zwischen Fachkenntnissen und Abenteuerlust.“[2] Ein Mietling hat hier keinen Platz, weil der Mietling entweder nur das Abenteuer sucht oder für sich selbst die nötige Sicherheit herbeisehnt. Hirtinnen und Hirten leben einerseits mit und in den Gefahren der Natur und wissen andererseits genau, wie sie für ihre Herde zu sorgen haben. Hier verbindet eine einzelne Person ihr Fachwissen und die erlernten Fähigkeiten mit dem nötigen Mut, den das Leben in Wind und Wetter, in der schroffen Bergewelt und in der ungeschützten Natur von ihr verlangt. Hirtinnen und Hirten brauchen Mut und sind zugleich Profis. „Es ist echte Knochenarbeit, aber ein wundervoller Job, wenn man gern bei Wind und Wetter draußen ist, Schafe mag und auch mit Hunden umgehen kann“, schreibt eine Schafhirtin. Vermutlich kennen das viele Menschen aus ihrem Berufsleben: Sie wissen, wie etwas zu machen ist, kennen die Routine und müssen dennoch mit viel Fingerspitzengefühl ihre Aufgaben immer auch neu angehen. So, wie der Arzt im Krankenhaus Ruhe ausstrahlte und ein Pilot vor sein Cockpit tritt und seine Fluggäste am Tag nach eine Katastrophe direkt anspricht, wie eine Lehrerin ihre Klasse kennt mit allen Stimmungen und doch weiß, es kommt auf jedes Wort an.

In dem Satz Jesu „Ich bin der gute Hirte“ schwingt mit: Hirtinnen und Hirten sind Könnerinnen und Könner in Sachen Fürsorge, Profis in ihrem Fach. Hirtinnen und Hirten verfügen über auseichenden Mut, sich auch in Momenten, die mit ungewöhnlichen Herausforderungen aufwarten, sicher zu bewegen. Sie leben und arbeiten zwischen diesen Extremen: Da ist das, was sie sicher beherrschen und das Unsichere, dem sie ebenso mutig, wie auch fachkundig begegnen.

IV. Zwischen Sicherheit und Risiko

In Christinnen und Christen sind solche Profis lebendig. Sie wissen, was ihnen geschenkt ist und das etwas von ihnen erwartet wird. Da ist diese Gnade Gottes, die sich im Leben wie eine wohltuende Ruhe ausbreitet, sie bringt das Gefühl mit sich, dass das Leben behütet ist und auch in rauen Zeiten bestehen kann. Da ist der Kummer der anderen, den man mittragen möchte und spürt, dass so etwas auch gelingen kann.

Es gibt eine Bewegung, die vom Mietling zur Hirtin und zum Hirten führt, die ist im christlichen Glauben fest verankert. Er erschafft keine Wegläuferinnen und Wegläufer, die ihre Beine unter den Arm nehmen, wenn es eng wird und schnell das Weite suchen, wenn es unbequem wird. Es ist die Risikobreitschaft, die sich der Gnade Gotte gewiss ist, die sich auf Gefahren einzustellen vermag. Es braucht Hirtinnen und Hirten, die nicht nur eine Nacht im Freien ertragen, sondern sich der Härte des Lebens in einem tieferen Sinn stellen. Die Frage nach dem Sinn des Ganzen, nach einem Ziel und der Richtung, in die es weiter geht, liegt für viele von uns in der Luft. Die Zeit der Hirten bricht an. Es braucht Frauen, Männer, Junge und Alte, die sich einfachen Lösungen, schnellen Parolen entziehen, die es aushalten auch ohne eilig gefundene Antwort zu leben. Es ist mehr als eine Nacht, die durch unwegsames Gelände führt. Der Hirtenberuf, den die Schweizer mit dem Wort „zwischen Nutztier und Naturgewalt“ beschreiben, beschreibt einen Aspekt des Glaubens. Es gibt eine Entsicherung der Gegenwart, an der wir mit tragen und die sich nicht in schnellen und einfachen Antworten ersticken lässt.

Hirtenarbeit ist Knochenarbeit, die sich für Leib und Seele stark macht. Diese Hirtinnen und Hirten sind zum Beispiel seit Wochen in Haltern am See auf den Beinen, andere helfen in den französischen Alpen, sie suchen Trost und lassen in der Katastrophe nicht einfach alles fallen und weichen nicht in irgendwelche Spekulationen aus. Ihr Dienst ist noch nicht zu Ende.

Das unterscheidet den Mietling vom Hirten: Der Mietling scheut die Knochenarbeit und weicht der Spannung aus, die mit dem Risiko verbunden ist. Wer Verantwortung übernimmt und signalisiert „Ich bin der Hirte“, zeigt, dass es jetzt kein Ausweichen mehr gibt. Solche Hirtinnen und Hirten gehen ins Risiko, tragen mit am Leben der anderen, weichen nicht aus, wenn es schwierig wird. Da sie Menschen sind, kennen sie auch Ihre Grenzen.

Solche Menschen gleichen dem Hirten aus der Bibel, der trägt alles Risiko, trägt an der Schwäche der Menschheit, erleidet den Zweifel des anderen Menschen als den eigenen Zweifel, und auch an der Erschütterung der anderen nimmt er teil. Der Hirte von dem das Evangelium spricht, erblickt sogar den Tod, durchleidet ihn. Dieser Hirte hütet über mein Leben, aber nicht nur äußerlich, wenn das Leben der Finsternis einer mondlosen Nacht ausgesetzt ist, er nimmt sich vor allem von innen heraus meiner Seele an. Das ist es, was mit dem Bild vom guten Hirten sichtbar wird: Ich weiß, dass da jemand ist, dessen Stimme meinen Namen nennt, dann wenn ich aufwache und nicht so genau weiß, wo ich bin.


[1] siehe: Tierwirt/in der Fachrichtung Schäferei, Quelle: BERUFENET http://arbeitsagentur.de — Stand: 01.12.2014 - http://berufenet.arbeitsagentur.de/berufe/docroot/r1/blobs/pdf/bkb/319…

[2]  AGRID, Schweizerische Schafhirtenausbildung, Lausanne 2008, S. 3 

 

Perikope
19.04.2015
10,11-6