Hungrig satt, angreifbar getragen, arm reich - Predigt zu Matthäus 4,1-11 von Helmut Liebs
4,1-11

Hungrig satt, angreifbar getragen, arm reich

Liebe Gemeinde,

wenn jemand sagt: „Jetzt ist es Matthäi am Letzen“, oder „Mir ist zumute wie Matthäi am Letzten“, dann steht es schlimm. Dann ist jemand am Ende, oder zumindest fast am Ende: finanziell oder seelisch oder körperlich oder alles zusammen. Eine schwierige Situation hat sich zugespitzt und nun scheint die Katastrophe, der Zusammenbruch, das Ende unausweichlich. Dann sagt jemand redensartlich: „Jetzt ist es Matthäi am Letzten.“

Woher kommt diese Redensart? Wir finden sie in Martin Luthers Kleinem Katechismus [4. Teil: von der Taufe], wo der Reformator schreibt: „Aufs erste muss man vor allen Dingen die Worte wohl wissen, … darauf die Taufe gegründet ist, nämlich da der Herr Christus spricht Matthäi am Letzten: Geht hin in alle Welt, lehrt alle Heiden und tauft sie im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.“

Also meint Luther mit „Matthäi am Letzten“ den Schluss des Matthäusevangeliums. „Matthäi am Letzten“, das sind die letzten Zeilen dieses Evangeliums. Und wie lautet der allerletzte Satz? Sie kennen ihn [, wir haben ihn in der Schriftlesung gehört.]: „Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“ Weil also die letzten Zeilen damit enden, dass Christus bis zum Weltende bei uns ist, wurde „Matthäi am Letzten“ zur Redensart für den Weltuntergang oder zumindest für Schlimmes, das sehr bald kommt oder bereits eingetroffen.

In Zeiten wie den unsrigen könnte man wirklich meinen, dass bereits „Matthäi am Letzten“ ist. Angesichts der Schreckensnachrichten, die uns täglich erreichen, ist man Mal um Mal zutiefst erschüttert darüber, was Menschen mit zerstörerischer Macht Menschen antun. Und selbst der gläubigste Mensch kann ins Zweifeln darüber kommen, ob das wirklich gilt, was der auferstandene Christus in eben der letzten Passage des Matthäusevangeliums sagt: „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden.“ Die Gewalt, die Macht, die Herrschaft über unserer Welt scheinen gänzlich andere zu haben als Christus. Nicht Zuwendung, sondern Ausgrenzung scheint die Macht zu haben. Nicht Liebe, sondern Hass. Nicht Freiheit, sondern Zwang. Nicht Leben, sondern Tod. So sieht es vielerorts aus.

Ich will versuchen, einen Weg zu weisen, dennoch zu glauben, dass der Sohn Gottes die Macht hat. Auch wenn es eine Macht eigener Art ist. Ich will versuchen, uns im Glauben an seine Macht stark zu machen. Allem "Matthäi am Letzten“ zum Trotz. Denn den Weg zu Glaubensgewissheit weist Christus selbst. Und um ihn zu gehen, den Weg, lese ich weiter, was der Auferstandene in seiner letzten Rede laut Matthäusevangelium sagt: Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen haben. Und siehe: ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“

Einen Aspekt dieser Rede, in vielen Bibeln mit „Missionsbefehl“ überschreiben, möchte ich herausgreifen; nämlich die Aufforderung „Machet zu Jüngern alle Völker“. „Machet zu Jüngern alle Völker“ ist die uns vertraute Formulierung, wie sie in den meisten Bibeln steht. Im griechischen Urtext steht allerdings nichts von Jüngern, sondern korrekt übersetzt müsste es heißen: Machet zu Schülern alle Völker. Also: lasst sie lesen und lernen, erzählt und erklärt, zeigt und zeugt davon, was ich euch gesagt habe, was ihr mit mir erlebt habt. Dann mögen sie zu glauben beginnen, dass mir tatsächlich alle Gewalt im Himmel und auf Erden gegeben ist.

Liebe Gemeinde, so möchte ich denn der Aufforderung Christi folgen und bei ihm sozusagen in die Schule gehen und den Bibeltext lesen, wie er für heute als Predigtgrundlage vorgeschlagen ist, und will daraus lernen. Es ist die Geschichte von der Versuchung Jesu, zu lesen im vierten Kapitel des Matthäusevangeliums.

[Lesung von Matthäus 4,1-11]

Wer hungrig ist, ist verführbar. Jesus war hungrig: nach vierzig Tagen und Nächten des Fastens. Auch wer einsam ist, ist verführbar. Jesus war einsam: Wüste, nichts als Wüste um ihn herum. Jesus war hungrig, Jesus war einsam. Er hat sich dem Hunger und der Einsamkeit ausgesetzt und hat darin erlitten, worunter Menschen aller Zeiten und aller Orten gelitten haben und noch leiden. Der Theologe Helmut Thielicke schrieb dazu [Helmut Thielicke, Zwischen Gott und Satan, München 1960, Seite 68f; zitiert nach „Für Arbeit und Besinnung“, Nr. 2, 15. Januar 2015, Seite 14]: „Darum schreit mit seinem Hunger die ganze Not des Menschen in ihm, es schreien ihre Krankheiten und Schmerzen und das viele, viele Leid, der Jammer der Gefängnisse und Irrenhäuser, das Blut der Kriege, es schreit die Sinnlosigkeit von so vielem, und es schreien die Tränen von unendlich vielen Nächten. Wirklich: er trägt das Leid der Welt.“

Und zu dem, der da trägt des Leid der Welt in Hunger und Einsamkeit kommt nun einer; tritt an ihn heran, spricht ihn an, mit einem vertraulichen „Du“ und macht ein Angebot, das eigentlich nicht abzulehnen ist: Hunger? Steine? Mach doch Brot daraus! Du, als Sohn Gottes, Sohn des Schöpfers, ausgestattet mit der Macht, zu schaffen, was immer Dir gefällt, Du brauchst es doch nur auszusprechen, und schon werden diese Steine zu Brot, und Du wirst satt.

Jesus, er weist das verführerische Angebot zurück, Schöpfer anstelle des Schöpfers zu sein. Er hungert lieber, als sich aus Eigennutz der Macht zu bedienen, die ihm zur Verfügung stünde. Machtgebrauch zum puren Eigennutzen ist Machtmissbrauch. Nicht Brot wird mich am Leben halten, sondern Gott. „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht.“ Indem Jesus dieses entgegnet, beruft er sich auf ein Wort aus dem 5. Buch Mose. Dort wird daran erinnert, dass Gott das Volk Israel 40 Jahre lang in der Wüste und durch diese hindurch führte, bis das Volk gemäß Gottes Verheißung das Land Kanaan erreichte. Die Verheißung Gottes ist der Anfang. Die Erfüllung ist das Ziel. Ihm hat sich das Volk Israel anvertraut, ihm vertraut auch der in Wüste hungernde und einsame Jesus.

Jesus hat das Angebot des Verführers unter Verweis auf Gott und sein Wort abgewehrt. Doch der Verführer ist lernfähig. Er führt Jesus an den Ort der Verehrung Gottes, er führt Jesus auf das Dach des Tempels in Jerusalem und sagt ihm nun seinerseits ein Bibelwort: Wirf dich herunter, denn es steht geschrieben, dass Gott seinen Engeln befehlen wird, dich auf Händen zu tragen. Wirf dich herunter, dann werden wir sehen, ob Gott zu seinem Wort steht. Wirf dich herunter, und liefere den Beweis für Gott. Falls nicht … nun es steht so nicht im Bibeltext, aber wir können uns denken, was wäre, falls Gott seine Engel nicht schicken würde: Gott wäre entmachtet.

Jesus weist auch dieses verführerische Angebot zurück. Und das, obwohl hier Jesu Glaube und die Glaubwürdigkeit Gottes auf dem Spiel stehen. Hat er sich doch in seiner vorherigen Antwort auf Gott berufen, aus dessen Wort er, Jesus, lebe. Jesus weist den Verführer zurück, indem er wiederum mit einem Bibelwort antwortet: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen.“ Gott wird nicht auf die Probe gestellt. Die Souveränität Gottes ist indiskutabel. Sie ist jenseits dessen, was der Mensch an Für und Wider vorbringen kann. Gott lässt sich nicht nötigen. Er ist nicht verfügbar. Einen Gottesbeweis herbeiführen zu wollen, indem er zum Einlösen seines Worte genötigt wird, ist unverschämt. Jesus lässt Gott lieber unbewiesen, als ihn aus Eigennutz, nämlich um nicht unglaubwürdig dazu stehen, zum Beweis herauszufordern. Jesus bleibt in seinem Glauben lieber angreifbar als in unzulässig abzusichern.

Jesus hat das Angebot der Verführers zum zweiten Mal abgewehrt; dieses Mal unter Verweis auf Gottes unverfügbare Hoheit, die zu testen dem Menschen nicht zusteht. Doch der Verführer ist lernfähig. Wenn offensichtlich Gott der absolute Souverän ist, dann muss er als solcher abgelöst werden. Er führt Jesus auf einen Berg, von dem aus die ganze Welt überschaubar ist. Wenn Du mich anbetest, dann gebe ich Dir mehr als Dein Gott Dir je geben kann: Ich gebe Dir die Weltherrschaft samt allen Herrlichkeiten, die die Welt zu bieten hat! Alle Herrlichkeiten … ich sehe es förmlich glitzern und gleißen, blitzen und blinken: das Nobelchalet in den Alpen, die Jacht im Hafen von Cannes, das Dinner mit den Reichen und Schönen in Shanghai; keine Sorgen, nur Freuden, keine Ängste, nur Macht.

Jesus weist auch dieses verführerische Angebot zurück. Herrlichkeit ist bei Gott allein. Anbetung ist vor Gott allein. Niederfallen vor dem Verführer ist Knechtschaft. Glaube an Gott ist Kindschaft. Jesus bleibt Gott gehorsam, statt sich aus Eigennutz der Welt zu bedienen, die ihm der Verführer zu Füßen legt – um den Preis, dass er sich ihm zu Füßen legen müsste. Einmal mehr ist es ein Wort Gottes, das Jesus in dieser Verführung stärkt: „Du sollst anbeten den Herrn, deinen Gott, und ihm allein dienen.“

Am Ende ist Jesus ohnmächtig. Er nutzt nicht seine Schöpferkraft. Er bekommt keinen Gottesbeweis. Er übernimmt nicht die Weltherrschaft samt allen Herrlichkeiten. Jesus bleibt hungrig, angreifbar und arm. Drei Mal wurde er verführt. Drei Mal widerstand er dank Gottes Wort. Johannes Brenz, der Reformator Württembergs, schrieb dazu: „Christus kämpft mit keinen anderen Waffen als mit der Heiligen Schrift.“ [Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus, EKK I/1, 1985, Seite 139, Fußnote 39)

Und wir? Auch wir bleiben ohnmächtig. Auch wir bleiben hungrig, angreifbar und arm. Doch wir bleiben es nicht uns selbst. Sondern wir bleiben hungrig vor Gott, angreifbar vor Gott, arm vor Gott. Und es ist unser Vertrauen auf Gott, in welchem wir dann doch – so paradox es klingt – satt werden, getragen sind und reich beschenkt. Es ist dieses Paradox, welches die Existenz als Christ auszeichnet: hungrig, aber satt; angreifbar, aber getragen; arm, aber reich.

Und es war ein kurzer Satz Jesu, welcher die Verführung, nicht in diesem Paradox zu leben, schließlich beendete: „Weg mit dir, Satan!“ Da verließ ihn der Verführer. Und Engel traten zu Jesus und dienten ihm.

Verzichten wir an dieser Stelle auf eine ausführliche Erörterung, ob und wie es den Satan, Teufel, Diabolos gibt. Die Bezeichnungen meinen alle dasselbe: Gegner und Ankläger Gottes, Verführer, Verleumder und Verwirrer, Täuscher, Trickser und Durcheinanderwerfer. Er ist Chiffre für das Böse und deshalb Zerstörerische schlechthin. Allein mit der Leben spendenden Kraft Gottes, wie sie von Anbeginn und bis ans Ende in der Welt ist, kann das Böse abgewehrt oder gar – rechnen wir immer damit – das Bösen zum Gutes gewendet werdet.

Ein Versuch zu erklären, warum Jesus die Zerstörungsversuche des Satans abwehren konnte: Jesus war ganz bei sich. Möglicherweise eine Frucht seines Fastens. Der Hunger, das Ungesichert sein, die Armut: er hat es gänzlich bejaht und als zu sich gehörend verstanden, hat es integriert. Und das Geheimnis darin: er war ganz bei sich, indem er ganz bei Gott war.

Sophie Scholl, die heute (22. Februar) vor genau 71 Jahren vom Bösen ermordet wurde, schrieb: „Und wenn in mir noch so viele Teufel rasen, ich will mich an das Seil klammern, das mir Gott in Jesus Christus zugeworfen hat.“ [Sophie Scholl/Fritz Hartnagel, Damit wir uns nicht verlieren, Seite 432; zitiert nach „Für Arbeit und Besinnung“, Nr. 2, 15. Januar 2015, Seite 16]

Ich sagte eingangs, dass wir gut daran tun, wenn es „Matthäi am Letzten“ ist, in die Schule Jesu zu gehen. Die Geschichte von der Versuchung Jesu ist eine harte und leichte Schule zugleich. Einerseits führt sie uns eine dramatische Begebenheit vor Augen, die ans Limit führt. Doch andererseits ist sie nicht belehrend, sondern erlaubt uns, eigene Entdeckungen zu machen. Entdeckungen mit einer Geschichte, die kein Publikum hatte. Eine Geschichte, von der wir nicht sagen können, ob sie sich so tatsächlich zugetragen hat. Faktencheck ist hier nicht möglich. Und doch ist es eine wahre Geschichte, insofern darin Wahres über Gott und mit Gott zur Sprache kommt. Es ist Gott, bei dem wir – in welchen Nöten auch immer – nicht verloren gehen. Denn er hat mit seinem Sohn alle Gewalt im Himmel und auf Erden.

So sind wir denn bei Jesus in die Schule gegangen. Und haben in ihm den gesehen, der jegliche Not mit uns teilt. Und haben einmal mehr gelernt, was wir sind: Hungrig satt, angreifbar getragen, arm reich. Amen.

 

Perikope
22.02.2015
4,1-11