Ihr werdet Kraft empfangen - Predigt zu Apostelgeschichte 1,1-11 von Mira Stare
1,1-11

Ihr werdet Kraft empfangen

Liebe Schwestern und Brüder,

der erste lukanische Bericht, das Lukasevangelium, erzählt über die Taten und die Lehre des irdischen Jesu und wie die Menschen durch Jesus Heilung und Heil erfahren. Er erzählt vom Weg des irdischen Jesus, der von Galiläa nach Jerusalem führt und wie Jesus immer stärker auch auf Widerstand stößt. In Jerusalem kommt der Leidensweg Jesu zu seinem Ende. Der gewaltsame Tod am Kreuz ist jedoch nicht das Letzte, wovon das Lukasevangelium berichtet. Zuerst die Frauen und dann auch die Apostel erreicht die Osterbotschaft. Noch mehr, der Auferstandene selbst erscheint den Seinen auf dem Weg nach Emmaus und in Jerusalem und lässt sich erkennen. Er versammelt sie wieder, bestätigt sie als seine Zeugen und gibt ihnen seine Zusagen und seinen Segen. Während er sie segnet, wird er in den Himmel emporgehoben. Nun scheint es wirklich, dass die Erzählung hier zu ihrem Ende kommt. Das stimmt jedoch nur teilweise. Denn sie lässt manche Aussagen noch offen. So sollen die Nachfolger/innen Jesu noch solange in Jerusalem bleiben, bis sie mit der Kraft aus der Höhe bekleidet werden. Der Zeuge des irdischen, auferstandenen und erhöhten Jesus zu sein und mit ihm verbunden zu sein, braucht eine neue Kraft, die Kraft von oben. Um mit Jesus über seinen Tod und seine Himmelfahrt hinaus weiter verbunden zu bleiben, braucht es die Kraft von oben.

Und hier, wo der erste lukanische Bericht aufhört, beginnt der zweite lukanische Bericht, die Apostelgeschichte. Diese stellt nicht die Taten der Apostel in den Vordergrund, sondern jene des auferstandenen und erhöhten Jesus, die er durch die Apostel und alle seine Zeugen wirkt. Bevor es aber zu diesem Wirken kommt, wird zuerst erzählt, wie die Zeugen Jesu für ihre Sendung gestärkt und vorbereitet werden. So erscheint der auferstandene und bereits erhöhte Jesus den Seinen 40 Tage hindurch. Die sinnbildhafte Zahl vierzig kann gedeutet werden als Zeit spezieller Gottesnähe, die im Alten Testament bereits Mose und Elija erfahren (vgl. Ex 24,18; 34,28; 1 Kön 19,8). Auch der irdische Jesus verbringt vor Beginn seines öffentlichen Wirkens 40 Tage in der Wüste und damit in besonderer Nähe zu Gott (Lk 4,1-13). Ähnlich erfahren in der Apostelgeschichte die Jünger Jesu vor Beginn ihres Auftretens in der Öffentlichkeit 40 Tage lang besondere Nähe des Auferstandenen.

Die Begegnungen mit Jesus in diesen 40 Tagen sind durch drei Elemente charakterisiert: Erstens redet Jesus ihnen vom Reich Gottes, dem zentralen Thema seiner Verkündigung im irdischen Leben. Seine Zuwendung zu Armen, Leidenden und Ausgestoßenen und sein heilendes Wirken ist die spezifische Weise, wie das Reich Gottes erfahrbar wird. Der auferstandene und erhöhte Jesus hat dasselbe Anliegen wie in seinem irdischen Leben: das Reich Gottes und die Frohbotschaft für die Armen, Leidenden und Ausgegrenzten zu verkünden. Das rechte Verständnis des Reiches Gottes ist auch mit dem Osterglauben verbunden. Denn zum Reich Gottes gehört auch der Bereich des unzerstörbaren Lebens in der Gemeinschaft mit dem auferstandenen und erhöhten Jesus.

Zweitens erfahren sie, die Nachfolger Jesu, 40 Tage lang die Mahlgemeinschaft mit Jesus. Wie mit dem irdischen Jesus, essen sie nun mit dem Auferstandenen. Drittens bekommen sie von ihm Zusagen. Wie bis jetzt nur Jesus selbst, werden nun auch die Seinen mit dem Heiligen Geist – und nicht nur mit Wasser – getauft. Sie werden die Kraft, den Heiligen Geist, empfangen. Das ist dieselbe Verheißung, die sie am Schluss des Lukasevangeliums bekommen. In dieser Kraft werden sie die Zeugen Jesu in Jerusalem und in der ganzen Welt sein. Diese Zusagen beginnen sich in der Apostelgeschichte zu verwirklichen, anfangend mit dem Pfingstereignis, bei welchem sich der Heilige Geist auf die junge und schnelle wachsende christliche Gemeinde niederlässt und sie für ihre Zeugnisaufgabe in der Welt „kleidet“ und bestärkt.

Liebe Schwester und Brüder, wir sind heute eingeladen, diesen Schritt vom ersten zum zweiten lukanischen Bericht zu machen, vom irdischen zum auferstandenen und erhöhten Jesus, der geheimnisvoll mitten unter uns ist. Seine Himmelfahrt bedeutet nicht den Abschied, sondern die neue Art seiner Gegenwart. Wie den Seinen teilt er auch uns sein Wort vom Reich Gottes mit und stärkt uns mit seinem Brot. Auch uns öffnet er den Raum des Geistes und stärkt uns durch die Kraft von oben, den Heiligen Geist, damit wir in dieser Kraft und nicht aus eigener Kraft als seine Zeugen in unserer Welt leben.

Perikope
05.05.2016
1,1-11