Die Predigt bezieht sich auf die zehn Gebote aus Exodus 20, 2-17.
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Amen.
Vor einiger Zeit haben unsere Bundestagsabgeordneten Post bekommen. Es war eine Drucksache, die den meisten von ihnen sicherlich noch lange im Gedächtnis bleiben wird. Und das will was heißen bei Leuten, die mit Schriftkram überschüttet werden. Es handelt sich um eine Bibel. Allerdings eine besondere Bibel. Jede Stelle der Heiligen Schrift, die mit dem Thema Gerechtigkeit zu tun hat, ist farbig unterlegt. Eine hundertfache Erinnerung daran, was der Auftrag der „Diener des Volkes“ ist: Gerechtigkeit für die Menschen in unserem Land und unserer Gesellschaft.
Was mag dieses Projekt wohl bei seinen Empfängern bewirken? Stirnrunzeln wegen einer gefühlten Übergriffigkeit? Anerkennendes Lächeln für eine smarte Idee? Ein zögernder Blick Richtung Papierkorb ?
Aber vielleicht ja auch das: der eine oder die andere Abgeordnete sinkt im Bürostuhl zurück und stellt sich der Frage, die im hektischen Getriebe des Alltags so oft untergeht: Woran orientiere ich mich eigentlich in meinen Entscheidungen?
Drei Menschen sind uns vorhin begegnet, liebe Gemeinde. Keiner von den Dreien hat uns im Unklaren darüber gelassen, dass ihnen eine solche Richtschnur wichtig ist. Nun sollte man meinen, dass ein Mensch, der sich an einen bestimmten Wertekatalog gebunden weiß, eine ziemlich klare Vorstellung davon hat, was richtig ist und was falsch. Doch bereits unsere Drei lassen ahnen, dass es so einfach offenbar nicht ist.
Und wir? Haben wir irgendeine Richtschnur? Und wenn ja, verbindlich ist sie für uns? Regeln, die jeder frei für sich interpretieren kann, sind das Papier nicht wert, auf dem sie stehen. Und Regeln, denen strikt gefolgt werden muss, führen leicht zu einem hartherzigen Umgang miteinander.
Selbst die zehn Gebote sind nicht frei von dieser Widersprüchlichkeit.
Deshalb möchte ich Sie gerne zu einem kleinen Ausflug einladen, um diesem Widerspruch auf die Spur zu kommen. Klettern wir in eine kleine Cessna, eine dieser sehr einfach ausgestatteten Propellermaschinen mit übersichtlichen Bordinstrumenten. Das einzige, was darin wirklich unverzichtbar ist, ist unser Kompass. Wenn der ausfällt, kriegen wir ein echtes Problem.
Wohin wollen wir fliegen? Ich schlage vor, wir steuern eine der Nordseeinseln an. Unser Kompass zeigt nach Norden, immer geradeaus. Genauso wie bei Alina: klarer Kurs, klare Richtung.
Das ist nun der Moment, in dem mir mein Kompass zum Gleichnis wird: Ich bin Hobbypilotin und als solche weiß ich, dass manchmal Kurskorrekturen oder Ausweichmanöver nötig sind. Der direkte Kurs führt uns nämlich über Kraftwerke und ein militärisches Sperrgebiet. Vielleicht taucht vor uns ein Vogelschwarm auf oder eine andere Maschine, die unseren Kurs kreuzt.
Auch wenn unser Kompass weiterhin den geraden, klaren Kurs Richtung Norden anzeigen wird, werden wir um der Sicherheit und des Überlebens willen zwischenzeitlich unseren Kurs verlassen, ohne ihn aber aus den Augen zu verlieren. In diesem Bild findet sich vielleicht Frau Gerard wieder, die für sich erkannt hat, dass ein klarer Kurs gut ist, aber nicht immer in vollkommener Konsequenz einzuhalten ist.
In meinen Augen sind die zehn Gebote ein solcher Kompass. Und ich finde, es lohnt sich, diesen Kompass einzusetzen, wenn wir in unserem Leben einen bestimmten Kurs verfolgen.
Doch es reicht nicht aus, in unübersichtlichen Situationen blind dem Kompass zu folgen nach dem Motto: „Augen zu und durch!“
So entspricht es einer gut protestantischen Haltung, verantwortlich zu handeln, statt stumpf einfach Vorschriften zu folgen. Für dieses verantwortliche Handeln hat schon Jesus auf einen Maßstab verwiesen, der die Gebote nicht außer Kraft setzt, uns aber dabei hilft, gegebenenfalls Kurskorrekturen vorzunehmen. Sein Maßstab lautete: Liebe Gott und liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Mit diesem Maßstab gewinnen wir in unserm Alltag manchen Ermessensspielraum.
Besonders, wenn wir mitten in einem Dilemma stecken und nicht mehr erkennen, was gut, wahr und richtig ist.
Der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer befand sich während der NS-Zeit in solch einem ernsten Dilemma. Das Gebot „Du sollst nicht töten“ war ihm heilig. Und dennoch beschloss er, sich dem bewaffneten Widerstand gegen Hitler anzuschließen.
Bonhoeffer ging das Risiko ein, mitschuldig an einem Mord zu werden. Das verstieß gegen das fünfte Gebot. Dadurch würde Bonhoeffer Schuld auf sich laden.
Umgekehrt jedoch genauso: Wenn er dem Gebot gefolgt wäre, jedes Leben, selbst das des Tyrannen Adolf Hitler unangetastet zu lassen, wäre er ebenfalls schuldig geworden.
An unzähligen Mitmenschen und auch an Gott.
Mit Blick auf das Kreuz hat Dietrich Bonhoeffer jedoch einen Ausweg aus diesem Dilemma gefunden: Er sieht dort Jesus von Nazareth, von dem wir glauben, dass er der Sohn Gottes ist. Die Römer hatten über ihn die Todesstrafe verhängt, obwohl er unschuldig war. Jesus nahm jedoch ihr Urteil an und ließ sich wie einen Verbrecher behandeln.
Schuldlos lud er Schuld auf sich. Die Schuld der ganzen Menschheit. Stellvertretend für uns alle.
Diese Deutung des Kreuzes brachte Dietrich Bonhoeffer zu einer wichtigen Erkenntnis: Wer sich zu dem gekreuzigten Christus bekennt und ihm konsequent nachfolgt, stellt die Liebe höher als sein reines Gewissen. Und er ist bereit, in extremen Situationen wie Jesus Christus Schuld auf sich zu laden, anstatt eine verantwortliche Tat zu verweigern. Nächstenliebe kann also dazu führen, dass man sich die Hände schmutzig macht.
Solche dramatischen Gewissensfragen, die in extreme Situationen führen, bleiben den meisten von uns wohl erspart. Aber auch wir können durchaus in ein Dilemma geraten. Darum ist es gut, sich auch ohne Not darüber bewusst zu werden, nach welchen Werten wir leben und handeln.
Die zehn Gebote, liebe Gemeinde, sind unser Kompass in einem freien, selbstbestimmten Leben. Innerhalb dieser Freiheit müssen wir uns nur daran messen lassen, wo wir dem Leben des Mitmenschen schaden und Gott missachten. Dieser Maßstab hilft uns aber auch dabei, als Christenmenschen gemeinsam einzuschreiten, wenn bei anderen Menschen diese Grenze verletzt wird.
Die „Bibeln für den Bundestag“ vielleicht dazu beigetragen, dass einmal mehr Menschen in diesem Sinne von der Weisheit des Gotteswortes profitieren:
Jeder Mensch, der den Geboten Gottes folgt, kann Klarheit für seine Lebensentscheidungen gewinnen. Zugleich vermitteln sie unserer Welt, wie kostbar dieses Geschenk Gottes ist: ein Lebenskompass, der es jedem Menschen ermöglicht, zu einer besseren, gerechteren Welt beizutragen.
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.