Im Magnetfeld des Geistes: Unterscheiden lernen und weise werden - Predigt zu 1.Korinther 12,4–11 von Ulrich Kappes
12,4-11

Im Magnetfeld des Geistes: Unterscheiden lernen und weise werden - Predigt zu 1.Korinther 12,4–11 von Ulrich Kappes

Im Magnetfeld des Geistes: Unterscheiden lernen und weise werden

„Verschiedene Gaben – ein Geist.
Verschiedene Ämter – ein Herr.
Verschiedene Kräfte – ein Gott.“
Paulus spricht vom Geist Gottes so, als würde er die spätere Lehre der Kirche vorwegnehmen. Gott- Vater, Christus – der Herr und von ihnen geht der „Geist“ aus. „Ein Geist, ein Herr, ein Gott.“
Wir können uns die Wirklichkeit des Geistes im Bild von Magnet und Magnetfeld veranschaulichen. Ein Magnetfeld geht von einem Stern aus. Das All ist von Magnetfeldern durchzogen. Die Sonne, die Erde, den Mond umgeben Magnetfelder. Die Magnetfelder sind konstitutiv dafür, dass das All so ist, wie es ist.
Das Magnetfeld ist unsichtbar, aber vorhanden. Jeder Kompass beweist das. Die Kompassnadel wird vom Magnetfeld des Nordpols angezogen und in eine bestimmte Richtung gelenkt, auch wenn das alles unsichtbar geschieht.

Paulus spricht davon, dass der Geist mit seinem Kraftfeld das Leben einer Gemeinde prägt. Er ist es, der die eine und den einen zu etwas Besonderem macht. Wo menschliches Empfinden nur menschliches Handeln wahrnimmt, ist es in Wahrheit der Geist, der das bewirkt. Eine kühne These. Können wir das nachsprechen?

Ein grundlegendes Problem des Magnetfeldes ist seine Störanfälligkeit. Der Kompass von einst wird darum heute nur noch selten als Navigationsgerät verwandt. Man kann oft gar nicht sagen, woher die Störung des Magnetfeldes kommt. Sie ist unvermittelt da.
Das „Magnetfeld“ Gottes, die Gegenwart seiner Nähe im Geist, das Empfinden, im Gebet oder im Glauben gestärkt zu werden, ist nicht Tag für Tag in gleicher Weise erfahrbar. Das Kraftfeld des Geistes, in das wir eintauchen möchten, ist oft genug verschlossen. Zum Glauben gehört die bittere Erfahrung, nichts von Gott zu spüren und einfach nur dieselbe / derselbe zu sein und zu bleiben.

Demgegenüber wirkt die Schilderung der Gemeinde in Korinth wie der Bericht aus einer anderen Welt. Es ist so wie mit Pompeji, der antiken Stadt in Süditalien. Sie wurde im 2.Jahrhundert vom Vesuv verschüttet und systematisch erst im 19. Jahrhundert ausgegraben. Unter der Ascheschicht kam das blühende Leben der Mittelmeermetropole zum Vorschein, ihre Lebensfreude und Farbpracht. Wandmalereien, Geschäftsanzeigen, Handwerkerarbeiten wurden sichtbar. Man konnte sich die Farbenpracht und Buntheit dieser Stadt in dieser Lebendigkeit gar nicht vorstellen.

In dem Text, den wir hörten, ist über die Zeiten ein ungemein lebendiges, in seiner Vielfalt farbenprächtiges Gemeindeleben für die Nachwelt festgehalten. Es ist so, wie es der Oldenburger Bischof Stählin einst in Auslegung des Textes einmal sagte: „Das Ganze zeigt das Leben der Gemeinde noch so sehr in einem ‚feuerflüssigen’, noch nicht ausgeglühten und verfestigten Zustand, dass es unsinnig wäre, daraus eine Regel abzuleiten.“I1I Was in anderen Briefen des Paulus erkennbar ist und in seiner Struktur bis heute im Großen und Ganzen gleich geblieben ist, nämlich ein Gegenüber von Predigtamt und Gemeinde, fehlt.
Was war das für eine geistbewegte Gemeinde: „Dem einen wird durch den Geist gegeben, von der Weisheit zu reden, dem anderen wird gegeben von der Erkenntnis zu reden, nach demselben Geist, einem anderen der Glaube, in demselben Geist.“

Wie wohl wir mit einer solchen Gemeindeverfassung unsere Schwierigkeiten haben und natürlich das Rad einer zweitausendjährigen Kirchengeschichte nicht auf korinthisches Niveau zurückdrehen können, enthält der Bericht einige unverzichtbare Aussagen über Kirche und Glauben.

Grundlegend ist, die Besonderheit dieses Textes zu sehen.
Die neun verschiedenen Geistesgaben, die uns in den Versen 8–10 genannt werden I2I, stehen nicht für „natürliche“ Begabungen. Sie sind nicht vergleichbar mit Musikalität oder zeichnerischem Talent oder Redegewandtheit, wie wir sie in unterschiedlicher Weise als natürliche Veranlagungen besitzen. Die Gemeinde wird nicht mit einem Organismus verglichen, der sich aus gegensätzlichen Teilen zusammen setzt, die sich wunderbar ergänzen. so geht es hier, z. B. im Unterschied zum 12. Kapitel des Römerbriefes, nicht um die Frage der gegenseitigen Unterstützung durch unterschiedliche Begabungen. Festzuhalten ist, dass Paulus  nicht von unterschiedlichen Begabungen, sondern unterschiedlichen Eingebungen spricht. Das ist der Punkt, den es festzuhalten gilt und der Schlüssel zu diesem Text.

Die chaotisch wirkende Gemeinde im einstigen Korinth lebte mit allen Fasern das Priestertum aller Gläubigen, nach der jede und jeder zur Priesterin und zum Priester bestimmt ist. Ort dafür war die Versammlung der Gemeinde. Weil der Geist „jedem“ seine besondere Erkenntnis und Einsicht in den Glauben schenkte, ihm eingab, kann und soll jeder diese frank und frei äußern. So entsteht eine geistgewirkte, bunte und interessante Gemeinde.

Die erste, alles andere als beiläufige, unbequeme Frage, die der Text an uns stellt, lautet darum: „Was hat mir Gottes Geist gegeben, das „zum Nutzen aller dient“? Was habe ich erhalten, das ich zur Stärkung der Gemeinde beitragen kann? Wie weit auch die Wirklichkeit unserer Gemeinden von dem korinthischen Ideal entfernt ist, dringt er tief in uns ein. „Jeder hat eine Geistesgabe. Auch ich. Bringe ich sie in die Gemeinde ein?

Versuchen wir, der Spur der skizzierten Geistesgaben zu folgen, so möchte ich zwei heraus heben.
Einmal spricht Paulus von der „Gabe, die Geister zu unterscheiden“.
Das war angesichts der überquellenden Meinungsäußerungen in den Versammlungen eine Grundvoraussetzung, nicht in einer Flut von Darlegungen und Argumenten unterzugehen. Sie betraf, was an Worten der Schrift zitiert wurde ebenso wie deren Auslegung oder die angeführten praktischen Fälle als Veranschaulichung. Es galt in Korinth und es gilt für uns, „die Geister zu unterscheiden“. Das ist unvermeidlich subjektiv, aber gerade darum bereichernd.
Ich kann, um es kurz zu erläutern, im Rahmen der Unterscheidung der Geister in der Gemeinde erzählen, welche Worte der Schrift mir besonders wichtig sind. Es ist denkbar, dass ich über meine Vorbilder berichte, die mir Lehrer im Glauben geworden sind. Möglich ist es auch, über den Umgang mit der Zeit, wie Schriftlesung und Gebet ihren Platz im Alltag haben, zu reden.
Die „Gabe der Unterscheidung der Geister“ bedeutet, zu sagen, dass ich in diesem Wort, in diesem Menschen, in dieser Verhaltensform eine Lebenshilfe gefunden habe. Ich verleihe sozusagen manchem Schriftwort und  manchem Christen eine Art Adelstitel, der besagt, dass ich sie als Gott in mein Leben gesandt ansehe und darum hoch und heilig halte.

Zum anderen:
Paulus spricht gleich zu Beginn, und wohl nicht ohne Absicht gleich zu Beginn, davon, dass „durch den Geist Weisheitsrede gegeben“I3I wird. Das ist die erste der von ihm aufgeführten Geistesgaben.
„Weisheitsrede“ ist etwas anderes als eine bloß kluge Rede. Spricht ein Mensch zu uns „weise Worte“, sind das mehr als nur kluge Worte.
„Weisheit“ im biblischen Sinn zeichnet sich als eine Verschmelzung verschiedener Elemente aus. Wer „weise“ redet, beachtet die Verfassung des Menschen, zu dem er spricht. Mit einem niedergeschlagenen Menschen redet „der Weise“ anders als mit einem selbstbewussten und starken Menschen. Der „Weise“ bedenkt die gegenwärtige Situation und richtet sich nach ihr mit seinen Worten und Taten. „Weise“ zu sprechen, heißt zu wissen, dass es heute dieses und morgen jenes Standpunktes bedarf, dass das Leben nicht steht, sondern fließt.
Der Weise  belehrt und bereichert, aber sein Standpunkt und seine Belehrung sind nicht Selbstdarstellung. Keines seiner Worte dient erkennbar oder verborgen seinem Ruhm. Der „Weis“ spricht in dem Wissen, ein „Weiser“ zu sein, weil er weiß, wie wenig der Mensch ausrichten kann. So selbstbewusst er spricht, so klein weiß er sich. Die Weisheit, die er kennt, ist nur ein Bruchteil der Weisheit der Menschheit, erst recht Gottes.

Als der byzantinische Kaiser Justinian im Jahr 532 einen Aufstand, den Senatoren gegen ihn angezettelt hatten, niedergeschlagen hatte, ließ er in Konstantinopel eine Kirche bauen, die den Namen „Heilige Weisheit“, Hagia Sophia, trägt. Er beauftragte dazu die Architekten Athenemius von Tralles und Isidor von Milet. Beide waren vor allem Meister in der Mathematik.
Vorgegeben war, so gut es mit Mitteln der Baukunst möglich war, das Wesen der Weisheit abzubilden. Justinian wollte „einen Bau errichten, der seit den Zeiten Adams nicht seinesgleichen hatte und niemals haben wird“I4I
Die Hagia Sophia wird auf den ersten Blick von einer großen Kuppel dominiert, die von vier Säulen getragen wird. Diese Säulen vereinen sich ihrerseits so mit den Wänden, dass sie nicht als Säulen wahr genommen werden. So entsteht der Eindruck als würde die Kuppel an goldenen Ketten aufgehängt sein und über dem Gottesdienstraum schweben. Der Raum wird auf diese Weise optisch stark vergrößert.
Die meiste Last der zentralen Kuppel wird aber von zwei Halbkuppeln, im Altarbereich und Eingangsbereich getragen. Sie geben die Achse vor. Trotz dieses Zentralbaucharakters hat die Kirche eine klare Ausrichtung auf Kreuz und Altar.
Die Wände der Hagia Sophia bestehen aus Marmor und Mosaik. Hier herrscht Gold vor, weil Gold das hellste Metall ist und Licht auf die Wandgemälde aus Mosaik wirft. Das Goldmosaik gibt der Kirche nahezu stündlich ein anderes, flimmerndes Aussehen.
Diese Wände der heutigen Moschee sind verhängt.

„Durch den Geist wird euch Weisheit gegeben, sagt Paulus. Der „Geist“ ist nicht stetig erfahrbar. Er ist nicht abrufbar. Er ist wie im Mosaik der Hagia Sophia sehr wandelbar.
Weisheit ist als Gabe des Geistes nicht verfügbar.

Das Wesen der „Weisheit“ erklärt die Kuppel der Hagia Sophia. ‚Bedenke, dass du die Hagia Sophia von deinem Standpunkt aus erklärst, definierst und beschreibst. Neben deiner Sicht haben aber unter dem Himmelsgewölbe viele andere ihren Platz. So sei bescheiden.

Biblische Weisheit ist anders als menschliche Weisheit wie die Hagia Sophia auf Christus ausgerichtet. Sie sucht das Magnetfeld des Christus und damit das Magnetfeld der Liebe.
Der wesentliche Unterschied zur Klugheit ist bei der Weisheit, dass sie nie ohne die Liebe ist.
Liebe aber wird in der Ausrichtung auf Christus und das Neue Testament erworben.

„Durch den Geist Weisheitsrede“ zu erhalten, ist, wie die Hagia Sophia zu betreten, sich von ihrer Architektur überwältigen zu lassen und dann innerlich gewandelt nach draußen zurück zu kehren.
Der Geist führt uns weg von der Klugheit zur Weisheit, von einem Leben fern von der Gemeinde für die Gemeinde. Er macht uns mutig, zu bekennen: Hier und hier und hier habe ich den Geist erfahren und halte fest, was er mir offenbart hat und gebe es weiter.
                                                                                  
ANMERKUNGEN
I1I Wilhelm Stählin, Predigthilfen II. Episteln, Kassel 1959, S. 176.
I2I Wolfgang Schrage, Der erste Brief an die Korinther, 3. Teilband, Zürich, Düsseldorf, Neukirchen-Vluyn 1999, S. 147.
I3I Übersetzung Schrage, a. a. O., S. 135.
I4I Christa Schug-Wille, Byzanz und seine Welt, München o. J., S. 111.