Im Sorgen Gott Gott sein lassen – Predigt zu 1. Petrus 5,5-11 von Christina-Maria Bammel
5,5-11

Liebe Gemeinde,

ein Politiker, weltbekannt, und ein Komiker, weltberühmt, gehen am Strand entlang. Churchill und Chaplin. Nicht die Politik, nicht das außer Rand und Band geratene Weltgeschehen beschäftigt sie. Auch über das Filmgeschäft reden sie nicht. Es interessiert nur eine Frage, die sie beide verbindet und immer wieder zusammenführt: Wie kannst du dem Strudel widerstehen, der dich so gern aus dem Leben ziehen möchte? Wie geht das mit der „Disziplin gegen den Tod“? Und was, wenn sich das Widerstehen gar nicht mehr zu lohnen scheint? Michael Köhlmeier hat Szenen dieses Gespräches literarisch skizziert: „Zwei Herren am Strand.“ Darin lässt Köhlmeier neben Winston Churchill und Charly Chaplin auch andere Personen aus dem Churchill-Clan auftreten, auch dessen Ehefrau Clementine. Sie bringt das gesamte Ehe- und Familienleben im Modus der Sorge zu: Immer vorbereitet sein auf das Schlimmste, das ist ihre Devise. Sie weiß um die depressiven Täler ihres Mannes nur zu gut. Und dann „zersorgt“ sich Clementine noch um einige ihrer Kinder. Aber am Ende hilft es alles nichts: Die Kinder gehen ihre Kreuzwege mehr oder weniger einsam und sie enden tödlich. Sucht und Depression, berufliches Scheitern – es kommt alles zusammen. Köhlmeier lässt Clementine Churchill einmal sagen: „Man sorgt sich nicht um diejenigen, die man am meisten liebt, sondern um jene, von denen die größte Gefahr für das eigene Wohlsein ausgeht. Sorge ist nichts anders als `bemäntelter Egoismus`.“

Was für eine ernüchternde und harte Einsicht: Die Sorge um die Anderen am Ende doch nicht mehr als die Sorge um sich selbst – camouflierter Egoismus? Lasst also das Sorgen sein!? Im Falle von Clementine Churchill, so legt es Michael Köhlmeier nahe, hätte weniger Sorge und mehr beherztes Entscheiden und Agieren geholfen. Von Anfang an.

Es gibt Menschen, die machen sich Sorgen, aber das ist dann auch das Einzige, was sie machen. Vom Sorgenmachen allein passiert noch nichts. Solche Sorgen machen einen allenfalls schlapp und träge. Sie fesseln, man geht ihnen regelrecht auf den Leim. Alles kann zu einer Sorge werden, stellen die Churchills und die Chaplins fest. Alles! Am Ende haben die Sorgen ein ganzes Leben zerfressen, weil dem Sorgen nichts entgegengesetzt, ihnen nicht widerstanden werden konnte. Zersorgen und zermürben zwängt ein, macht krumm und klein.

Lasst das Sorgen sein? Geht nicht so einfach, und so einfach macht es sich der Briefschreiber im Petrusbrief gleich gar nicht. Er gibt ebenso wenig besserwisserischen Ratschläge und Beurteilungen aus der Ferne.

Der da schreibt, er weiß: Es braucht ein realistisches, menschliches, ausgesprochen menschenfreundliches Augenmaß im Sorgen und Lassen. Es kann nämlich eine Form von Schöpfungs- und Macherarroganz sein, mit seiner Sorge zu meinen, alles lösen zu müssen und zu können. So wird Sorge auch zu einer Spielart der Selbstüberschätzung. Darum ist es gut, auch im Sorgen Gott Gott sein zu lassen. Gott ist ein sorgender Gott. Das ist die Grundmelodie, in der hier ein Wissender und zugleich ein Glaubender schreibt. Das macht diesen Brief so kostbar. Diese Kostbarkeit ist gleich mehrfach bemerkenswert und mag hinein ziehen in jede Faser unseres Leibes. Der Glaube wird zu einer zutiefst leiblichen Angelegenheit, weil dieser Gott, in dessen Kraft hier einer schreibt, ein leiblicher, ein inkarnierter Gott geworden ist. Der leibliche Glaube ist für den Briefschreiber der Schlüssel im Umgang mit der Sorge. Die Haltung des Glaubens erklärt er uns, wenn er anfängt:

Haltet fest an der Demut!

An etwas festzuhalten, das braucht Muskelkraft und Entschlossenheit. Aber dieses Halten und Festhalten hilft mir, in eine Haltung hinein zu wachsen, mich nicht wegzuducken oder eierweich dahin zu fließen, sondern wirklich etwas festhalten können. Eine Einsicht, eine Überzeugung. Dann kann es sein, dass ich diese Haltung nicht nur in mir trage und bewahre, sondern mich auch selbst erfahre als die Festgehaltene, von Gott Gehaltene. Dann kann es sein, dass ich Gottes Kraft spüre bis in den letzten und ersten Rückenwirbel hinein. An der Demut vor Gott festzuhalten verdeutlicht mir, dass Gott weder meine Vorsorgekasse noch mein „Wünscheerfüller“ ist. Wenn Gott mir das Dach wird, unter dem ich stehen kann, stehe ich darunter fest. Mit Haltung eben. Ich muss nicht betteln, um darunter zu kriechen. Aber finde ich mich dort ein, finde ich noch mehr als das bergende Dach:

Beugt euch unter die gewaltige Hand Gottes“. Gewaltig ist diese Hand dort, wo sie dich stärkt und kräftigt, wo sie – wie eine Elternhand, wenn es gut geht – Vertrauen gibt und auch im Dunkeln gefunden wird. Sich in die Hand eines anderen begeben. Die Nachfrage nach massierenden, heilenden, einrenkenden und therapierenden Händen ist in unseren Tagen enorm –  ein Indiz für die Sehnsucht nach der Hand, die echten Kontakt anbietet, was auch immer an „Echtem“ und an „Kontakt“ darin gefunden wird.

Gott erhöht zu seiner Zeit.

Höhergestellt und erhöht zu werden – wenn wir es hier und da ganz handfest erleben, spüren wir sofort den besseren Überblick, manchmal sogar den freieren Ausblick. Etwas höher gestellt zu werden, zieht raus aus der Perspektive des eingezogenen Kopfes, des Geduckten und des eingezwängten Sichtfeldes. Ich erinnere noch mein erstes Konzert mit dem ersten Freund. Massen von Menschen stehen vor der riesigen Bühne im Staub des Sommers. Schlechte Sicht, die Füße eng an eng, überall. Da nahm er einfach die stets mit ihrem Gewicht kämpfende Teenagerin hoch und setzte sie sich auf die Schultern. Eine Stunde, zwei Stunden. Erhöht und getragen war ich – unvergessen über Jahrzehnte. Was für eine körperliche Anstrengung es gewesen sein muss, davon zeugten die tiefblauen Flecken des jungen Mannes am nächsten Tag.

Seid nüchtern und wach“, mahnt der Briefschreiber weiter. Ein Imperativ nicht nur für den Kopf. Fallen einem aber erstmal die Augen zu – was für ein Kampf kann das bedeuten, auf der Autobahn etwa um Mitternacht, wenn die letzten paar 100 Kilometer noch zurückgelegt werden müssen. Oder wenn du unbedingt wach bleiben willst neben dem Bett im Krankenhaus – man hat es doch versprochen… Ich sehe den werdenden Vater vor mir, der sich nach zwölf durchwachten Stunden vor der Geburt des Kindes so sehr danach sehnt, mal eben auf der Nachbarliege im Kreißsaal weg zu schlummern. Aber er bleibt dabei, er kämpft. Alles andere wäre fatal. Wachsam und nüchtern bleiben, gerade dann, wenn die Gedanken Karussell fahren wollen. Eben dieses Karussell stoppen, das Wesentliche sortieren, den Blick für Grenzen und Geländer schärfen. Was dann zu sehen ist, mag vielleicht zum Fürchten sein, zunächst.

Denn wie ein brüllender Löwe geht der Widersacher umher.

Man müsste diesem „schwarzen Hund“ fest ins Auge blicken. So ähnlich verhandeln Churchill und Chaplin ihre Begegnung mit dem, was das Leben dunkel und hässlich macht: „der schwarze Hund“ wird es genannt. Bei Churchill (und Chaplin) beschreibt sich damit das Ausbrechen der Nachtgedanken, die in den Strudel reißen. Und der wiederum reißt einen letztlich aus dem letzten bisschen Lebenswillen. Der brüllende Löwe, der schwarze Hund, Teufel oder das gähnende Nichts… wie auch immer wir diese Macht nennen, die uns aus dem Leben ziehen will, eines bleibt gleich: Mit festem Blick zurückschauen, stehen bleiben, weil wir aufgestellte, ins Stehen gebrachte Menschen sind. Welche Kräfte auch immer sich hier aufspielen, maskiert oder mit klarem Visier – ie erhalten nicht den Sieg, dass wir uns in Angst zerbissen vor ihnen wegschleichen.

Stehen und hinsehen und widerstehen. Ich muss an die Turner, Tänzer und Gymnastikolympioniken denken, die stehen müssen am Ende des Programms – wie eine Eins. Bloß keinen Schritt daneben in der letzten Sekunde! Es ist eine Kunst, in der Seele und Körperbalance zusammen klingen. Es ist das I-Tüpfelchen der höchsten Sportlichkeit. Stehen! Ein winziger Schritt daneben bedeutet Punktabzug. Aber es ist möglich: Sprung und stehen! Zu widerstehen, das ist nicht allein eine besonders sportliche Angelegenheit, denn es geht um Leben und Tod, um die Existenz. Hier steht alles auf dem Spiel… nicht ein paar zu lösende Alltagsfragen, die am nächsten Tag schon wieder vergessen sind. Auch hier bleibt der Brief handfest, zum Greifen und Begreifen in Mark und Bein.
Aber jetzt müsst ihr nicht aus euch heraus stark, kräftig, standfest sein. Ihr werdet dazu gemacht. Ihr werdet stark, kräftig, standfest gemacht. Gottes Einsatz! Er kräftigt, stärkt, gründet, und – so höre ich weiter – stellt dich auf, hält dich. Er weitet und schärft dir Blick und Sinne gleichermaßen.

Was sieht der geschärfte Blick? Was sich zeigt, ist nicht schwer zu erkennen, aber schwer auszusprechen. Maßlos und höllisch das Leiden der Menschen-Geschwister, nur wenige Flugstunden von uns entfernt. Verfolgt und versklavt wie Tausende von jesidischen Frauen und Kindern in diesem Augenblick, schon viel zu lang gefangen in Systemen von Terror und Überwachung. Auch sie haben ein Bild von brüllenden Löwen, Widersachern und schwarzen Hunden – ein allzu klares, tödlich vor Augen stehendes Bild. Weltweit die Geschwister anzusehen heißt ihre Geschichten von Leid und Verfolgung mit auszuhalten, das unaussprechlich Leidvolle nicht wegschweigen, sondern in Worte zu fassen. Das ist ein Anfang von Fürsorge mit Konsequenz und Konsequenzen.

Am Anfang dieses Anfangs steht aber noch etwas durch und durch in Mark und Bein Gehendes: Ihr seid berufen, beauftragt, begabt dazu. Habt ihr das gehört, ist das angekommen im Kopf? Ist der ganze Mensch davon begriffen und umgriffen? Gerufen werden – das geht unter die Haut, wenn es entsprechend kraftvoll und hörbar kommt. Das spürt man, das überhört man nicht einfach so. Ihr seid gerufen, gemeinsam mit allen Geschwistern dieser Erde, dass ihr leben sollt in einem Reich der Gehaltenen und Aufgerichteten. Mit ihnen werden wir aufrecht gehen. Uns nicht mehr größer und höher machen müssen, als wir sind. Wissend, wer dich und mich aufgerichtet hat, woher mir die aufrichtende Kraft kommt, diese Kraft zum Aufstehen. Stehen bleiben und couragiert den Blick auf das richten, was Angst machen und einem den Boden unter den Füßen wegziehen will. Denn unser Grund ist fester.Er ist Jesus Christus selbst.

Das steht in Geltung jede Minute deiner verbleibenden Lebenszeit. Lass es ein, denn hier wird darauf gesetzt, dass in höchster Unfreiheit Gott Freiraum, Lebensraum, Atemraum stiften kann. In größter Unfreiheit auch die Erfahrung von größter Freiheit? Möglich ist es! Klar könnten wir zahllose „Gegenbeispiele“ nennen, in denen nur zu erkennen war, dass aus Unfreiheit nichts Gutes kam, dass Unfreiheit schlicht Unfreiheit blieb, aber das ist es doch gerade: Einer reißt den Schleier dessen nochmal durch, einer macht das Lebenswort zum Freiheitswort. Dafür ist nur noch eine weitere Körper-Seele-Geist-Übung wichtig. Der Sorgenwurf. Wirf! Und – so behauptet der Petrusbrief – Gott kümmert sich! Das ist keine Aufforderung, mit den Aufgaben, die uns das Leben stellt, einfach alle anderen im Umkreis zu belasten und zu beschießen. Es ist die Aufforderung, immer wieder den richtigen Zeitpunkt zu finden, um die Kummerbälle in unseren Händen loszulassen – mit Kopf und Körper.

Wie viele Kummerbälle jetzt gerade in den Hände gehalten werden sehe ich nicht. Aber ich frage mich: Gibt es da leichte Päckchen, die man vielleicht bei einer Tasse Tee besprechen kann? Oder ist es eher ein übergroßer Rucksack, der über einem hängt, den man kaum allein aufgesetzt bekommt, geschweige denn irgendwo hinwerfen kann? Schaffen wir ihn – den Sorgenwurf? Keine Sorge wird da geleugnet. Sie wird gesehen, aufgenommen, aber dann auch möglichst kraftvoll geworfen – und zwar in die richtige Richtung: Gott in die Arme. Gott fängt sie – die weit Geworfenen und die kurz Geworfenen.

Alle eure Sorge werft auf ihn; denn er sorgt für euch.“
Könnte sein, dass das Herz so frei wird für Wichtiges: für Sanftmut und Großmut, für Güte und Freundlichkeit. Berührbar, berührt und berührend bleiben – dafür lohnt sich der Versuch jeden Tag neu. Amen.

Perikope
04.09.2016
5,5-11