Im Tod kann ein neuer Anfang liegen - Predigt zu Johannes 19,16-30 von Peter Haigis
19,16-30

Im Tod kann ein neuer Anfang liegen

Liebe Gemeinde,

mit großer Aufmerksamkeit lässt uns der Evangelist Johannes am Geschehen um Jesu Kreuzigung teilhaben. Wie in einem Drama führt er uns die einzelnen entscheidenden Szenen nacheinander vor Augen, ja wir können uns die Szenenfolge vorstellen wie in einem Film:

Die Einleitung ist nur knapp in Bilder gefasst. Sie zeigt uns Jesus, wie er sein Kreuz trägt und anschließend die Aufrichtung seines Kreuzes zwischen den beiden anderen Hingerichteten. Dann wendet sich der Blick auf eine Spott-Inschrift über dem Kreuz, die Pilatus hat anbringen lassen: „Jesus von Nazareth, der König der Juden“. Wir werden Zeugen einer Debatte zwischen dem Hohen Rat und Pilatus um diese Kreuzesinschrift. Die Hohenpriester erkennen den darin beabsichtigten demütigenden Sarkasmus der politischen Besatzungsmacht und wollen Pilatus dazu bewegen, die Inschrift zu relativieren: „Schreibe, dass er es behauptet hat, der König der Juden zu sein…“ Doch Pilatus lässt sich darauf nicht ein.

In der bildenden Kunst hat die Unmittelbarkeit dieser Szene Maler immer wieder dazu verleitet, das Gespräch zwischen dem Hohen Rat und Pilatus unter dem Kreuz Jesu stattfinden zu lassen– doch das ist unwahrscheinlich. Die Erzählung des Evangelisten Johannes operiert hier härter und unvermittelter und hängt den kurzen Dialog an die Kreuzigungsszene an, wie wir es von der Schnitttechnik des Films kennen. Dort sind Raum- und Zeitsprünge ungehindert möglich.

Szenenwechsel zurück nach Golgatha, etwas abseits des Kreuzeshügels selbst: Wir sehen einige römische Soldaten, wie sie um die Kleider Jesu, auch um sein besonders, nämlich an einem Stück gewebtes Obergewand, losen – wohl kaum mit Würfel und Würfelbecher, aber vielleicht mit längeren und kürzeren Holzstöckchen oder mit Münzen. Das Zitat aus Ps. 22 höre ich nicht – es ist nicht Teil des Films, der da vor meinem inneren Auge abläuft (noch nicht); es ist vielmehr Teil der Gedanken eines Filmzuschauers, der dieses Psalmwort assoziiert, als er die Soldaten abseits neben dem Kreuz Jesu um dessen Kleider losen sieht.

Erneuter Szenenwechsel, die Kamera schwenkt hinüber auf die andere Seite. Dort werden wir am Fuß des Kreuzes Jesu zu Zeugen einer wechselseitigen Adoption zwischen Johannes und der Mutter Jesu, die Jesus selbst noch vom Kreuz herab veranlasst – als Stiftung einer neuen Gemeinschaft, wie sie die Gemeinde Jesu Christi darstellt, so hat man sie später verstanden. Ich sehe in dem Film, der da vor meinen Augen abläuft, Jesus nicht selbst sprechen, höre nur seine Stimme aus dem Off.

Und dann kommt es zu einem rätselhaften Schlussbild: Jesus äußert, Durst zu haben. Jemand (wer eigentlich?, einer der Soldaten?, ein Schaulustiger?, einer aus dem Freundeskreis Jesu? – ich sehe nur Hände) nimmt ein wenig Essig aus einem Gefäß in einem Schwamm auf und reicht Jesus das getränkte Büschel auf einem Ysoprohr hinauf. Ich sehe die Kamera langsam den schwankenden Schwamm verfolgen, bis er vor dem Gesicht Jesu schweben bleibt. Der saugt daran und stirbt mit den Worten „Es ist vollbracht!“

Schwarzblende – der Film von der Passion Jesu ist zu Ende. Es wird weitere Folgen geben, eine Fortsetzung wie bei einer Serie, doch für heute ist Schluss – und ich bleibe mit diesem letzten merkwürdigen Szenenbild alleine. Nun bin ich es, der assoziiert, dem die Gedanken durch den Kopf fahren. Was sollte das?

Essig hat eine betäubende Wirkung. Er wird Jesus an den Mund geführt, nicht um ihn zu verhöhnen oder gar als zynische Antwort auf Jesu Ruf „Mich dürstet“, sondern um seine Qualen am Kreuz zu lindern. Aber welche Bedeutung hat dieses „Es ist vollbracht“? Wörtlich steht beim Evangelisten Johannes: „Es ist vollendet!“ Die Synchronfassung, die ich sehe, müsste Jesus diese Worte in den Mund legen – oder besser noch: Ich sehe den Film im Original mit Untertitel und erfasse den anderen Wortlaut des Originals so nebenbei.

„Es ist vollendet!“ Also: Welchen Sinn hat der Tod Jesu am Ende? – Das ist doch die Frage, die sich gebündelt in Jesu letztem Wort stellt.

Der Tod kann viele Gesichter haben. Er kann brutal und abrupt über menschliches Leben hereinbrechen; er kann zerreißen und zerstören, was noch unfertig ist; er kann das Scheitern eines großen Lebensplans oder Lebenswerks bedeuten. Leben als Fragment, als Bruchstück. Der Tod kann aber auch sanft und erlösend wirken; er kann schweres, ja unerträgliches Leiden beenden. All das schwingt im Wort „Ende“ mit und ist doch in Jesu Ausspruch „Es ist vollendet!“ nicht gemeint.

Jesu Tod könnte als Ende seines Leidens verstanden werden, ja! Jesu Mutter könnte es aus Mitgefühl mit ihrem Sohn heraus so sagen: „Nun hat er es überstanden.“ Eine Redeweise, nicht so fremd und fern von mancher Erfahrung, die wir selbst machen.

Jesu Tod könnte auch als Niederlage aufgefasst werden. Jesu Jünger könnten es mit resigniertem Unterton so sehen: „Nun ist alles vorbei!“ Und auch diesen hoffnungslosen Seufzer kennen wir.

Jesu Tod könnte als Beseitigung eines Störenfrieds empfunden werden. Der Hohe Rat könnte es siegesgewiss so meinen: „Endlich ist er erledigt.“

Doch der Evangelist Johannes hat ein anderes Verständnis vom Tod Jesu. Er zieht die Bilanz: Jesu Werk ist vollendet. Hier hat er es zum Ziel gebracht. Damit durchbricht er alle Erwartungen und Erfahrungen im Umgang mit einem frühen, schmerzhaften, brutalen und gewaltsamen Tod. Wie kann dieser Tod Sinn machen?

Wahrscheinlich kann man das Schlussbild der Kreuzigung Jesu nur recht begreifen, wenn man den Ps. 22 im Ohr hat, den jüdischen Sterbepsalm. Möglicherweise hat ihn auch Jesus am Kreuz gebetet. Und in dieser Kreuzigungsszene kommt es nun zu merkwürdigen Parallelen zwischen dem Sterbepsalm 22 und dem Geschehen, das Jesus in den letzten Stunden und Minuten seines Lebens widerfährt. Vielleicht wäre es darum sinnvoll, man könnte den Ps. 22 zumindest im Abspann eines solchen Passionsfilms, wie er uns hier präsentiert wird, lesen – wenigstens in Auszügen:

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?

Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne.

Mein Gott, des Tages rufe ich, doch antwortest du nicht, und des Nachts, doch finde ich keine Ruhe.

Du aber bist heilig, der du thronst über den Lobgesängen Israels.

Unsere Väter hofften auf dich, und da sie hofften, halfst du ihnen heraus.

Zu dir schrieen sie und wurden errettet, sie hofften auf dich und wurden nicht zuschanden.

Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch, ein Spott der Leute und verachtet vom Volke.

Alle, die mich sehen, verspotten mich, sperren das Maul auf und schütteln den Kopf:

‚Er klage es dem Herrn, der helfe ihm heraus und rette ihn, hat er Gefallen an ihm.‘

Sei nicht ferne von mir, denn Angst ist nahe; denn es ist hier kein Helfer.

Sie haben meine Hände und Füße durchgraben.

Ich kann alle meine Knochen zählen; sie aber schauen zu und sehen auf mich herab.

Sie teilen meine Kleider unter sich und werfen das Los um mein Gewand.

Aber du, Herr, sei nicht ferne; meine Stärke, eile, mir zu helfen!“

Ps. 22 beschreibt die Wüste menschlichen Sterbens. In mancher Begleitung Sterbender tut sich diese Wüste auf, in der kein menschliches und menschenwürdiges Dasein mehr möglich scheint. Die Übereinstimmungen zwischen diesem Sterbepsalm und der Kreuzigungsgeschichte, die bei Johannes, aber auch bei den anderen Evangelisten zu finden sind, sollen zeigen, wie Jesus, der doch Gott selbst unter uns Menschen ist, teilhat an den Niederungen und Niedrigkeiten menschlichen Lebens. Hier wird diese Wüste, wie sie sich im Sterben eines Menschen auftun kann, von Jesus durchquert.

Doch Ps. 22 endet nicht an dieser Stelle, bis zu der ich ihn soeben gelesen habe. Und deshalb ist Jesu Teilhabe an der Todesqual des Menschen im Spiegel von Ps. 22 mehr als ein Mit-Leiden. Der Schluss des Psalms weist über das Sterben hinaus auf Gottes Zukunft mit den Menschen. Und in Jesu Geschick bis zum Tode am Kreuz, so wie es uns der Evangelist Johannes beschreibt, will er nun auch diese Hoffnungsperspektive über einem jedem Menschenleben aufleuchten lassen.

„Ich will deinen Namen kundtun unter meinen Brüdern, ich will dich in der Gemeinde rühmen.

Die Elenden sollen essen, dass sie satt werden; und die nach dem Herrn fragen, werden ihn preisen; euer Herz soll ewiglich leben.
Es werden gedenken und sich zum Herrn bekehren aller Welt Enden und vor ihm anbeten alle Geschlechter der Heiden.
Denn des Herrn ist das Reich, und er herrscht unter den Heiden.
Ihn werden anbeten alle, die in der Erde schlafen; vor ihm werden die Knie beugen alle, die zum Staube hinabfuhren und ihr Leben nicht konnten erhalten.“

Gottes Geschichte mit uns geht nach dem Tod Jesu weiter, ja sie beginnt dann erst von neuem. Menschen werden Gott erkennen und anbeten. Sie kommen zum Glauben, an den, der jeder Lebensgestaltung Grund und Perspektive gibt. Sie sammeln sich in einer großen Lebensgemeinschaft, in der sie sich gegenseitig tragen und stützen, genannt die Gemeinde Jesu Christi. Sie erfahren, dass sie satt und heil werden. Sie erleben, wie Gottes Reich des Friedens und der Gerechtigkeit im kleinen Maßstab ihrer Gemeinschaft Gestalt gewinnt.

Und auch unser bescheidenes Erdendasein – mag es uns rund erscheinen oder abgebrochen – ist im Tode nicht am Ende. Im Ps. 22 richtet sich der Blick auf eine Gemeinschaft mit Gott über den Tod hinaus. Freilich, von einer Verlängerung unseres irdischen Daseins ist in dieser Hoffnungsperspektive nicht die Rede. Das Rad des Lebens, die alte Mühle, dreht sich nicht einfach taumelnd weiter. Das Leben der jenseitigen Welt trägt den Charakter der Anbetung Gottes – ein Bild für ununterbrochene und ungehinderte Gemeinschaft mit Gott, vielleicht wie das Getragensein in einer wunderbaren, nie enden wollenden Musik, wie das Schwingen und Bewegtwerden in einem unendlichen Reigen. Ein Bild auch für Leidensfreiheit und Angstverlust.

„Der Herr hat es getan.“ – Das ist der Schluss von Ps. 22. Darauf bezieht sich Jesu Wort: „Es ist vollbracht!“ – „Es ist vollendet!“ In Jesu Leben ist dieser Schluss des Ps. 22 zur Erfüllung gekommen. Der Anfang einer neuen Geschichte Gottes mit den Menschen ist gemacht. Nun wird es weitergehen, auch nach Jesu Tod – in denen, die angesteckt sind von der Liebe Jesu; in denen, die in ihm mit ihrer Gottessehnsucht an ein Ziel gekommen sind und Erfüllung gefunden haben und die Freude darüber nun anderen mitteilen; in denen, die Jesus nachfolgen über seinen Tod hinaus, und auch in denen, die mit ihrem irdischen Leben abschließen müssen und nach vorne nicht in ein dunkles Nichts blicken, sondern in das Licht der ewigen Gemeinschaft mit Gott. Jesu Leben war erst der Anfang, aber ein Anfang, der bereits alles in sich trägt – ein Anfang, der es in sich hat. AMEN.

Perikope
03.04.2015
19,16-30