Inklusion à la Jesus - Predigt zu Mk 7,31-37 von Rudolf Rengstorf
7,31-37

Inklusion à la Jesus - Predigt zu Mk 7,31-37 von Rudolf Rengstorf

Als er wieder fortging aus dem Gebiet von Tyrus, kam er durch Sidon an das Galiläische Meer, mitten in das Gebiet der Zehn Städte. Und sie brachten zu ihm einen, der taub war und stammelte, und baten ihn, dass er ihm die Hand auflege. Und er nahm ihn aus der Menge beiseite und legte ihm die Finger in die Ohren und spuckte aus und berührte seine Zunge und sah auf zum Himmel und seufzte und sprach zu ihm: Hefata!, das heißt: Tu dich auf! Und sogleich taten sich seine Ohren auf, und die Fessel seiner Zunge wurde gelöst, und er redete richtig. Und er gebot ihnen, sie sollten’s niemandem sagen. Je mehr er’s ihnen aber verbot, desto mehr breiteten sie es aus. Und sie wunderten sich über die Maßen und sprachen: Er hat alles wohl gemacht; die Tauben macht er hören und die Sprachlosen reden. (Markus 7,31-37)

 

Liebe Leserin, lieber Leser!

Heilungsgeschichten wie diese - so erlebe ich es immer wieder – schaffen zunächst einen nahezu unüberbrückbaren Abstand. Weil sie gelesen und gehört werden als Protokolle eines schier unglaublichen Geschehens aus ferner Vergangenheit. Ob das wirklich so gewesen ist, fragt man sich unwillkürlich. Und wenn, was hat das mit uns heute zu tun? Doch weitererzählt und aufgeschrieben worden sind diese Geschichten, weil sie Hörende und Lesende immer von neuem ansprechen und sie mit hineinverwickeln wollen in das Geschehen, das Jesus da in Gang gesetzt hat. Mal sehen, ob das auch mit uns geht.
Jesus befand sich in dieser Geschichte auf heidnischem Gebiet, also bewohnt von Menschen, die vom Gott Israels nur wenig wussten. Man muss also nicht viel mitbringen, wenn man dem Heilbringer begegnen will.

Und sie brachten zu ihm einen, der taub war und stammelte, und baten ihn, dass er ihm die Hand auflege.

Wenn sie an religiösem Wissen oder an rechtem Glauben auch nicht viel mitbrachten: Sie brachten den Menschen mit, der zeit seines Lebens ihr Sorgenkind gewesen war. Sie sagten eben nicht: Der arme Teufel kriegt, taub und stumm, wie er ist, ja doch nichts mit. Nein, nein, wenn da einer kommt, von dem so viel Gutes erzählt wird, dann kommt das Sorgenkind natürlich mit. Hören würde er ja nichts, aber die Hand sollte Jesus ihm auflegen. Damit er zu spüren bekam: Ich bin auch gemeint. Ich gehöre dazu und bin miteinbezogen in das, was von diesem Mann ausgeht.
Mit uns war das doch nicht anders, als wir von Eltern und Paten zur Taufe gebracht wurden, auch wenn wir nichts verstehen und nicht sprechen konnten. Wir sollten miteinbezogen werden in das, was von Jesus ausgeht. Bei der Konfirmation hat sich das wiederholt. Auch da war es mit dem Verstehen noch nicht so weit her. Auch von der vielbeschworenen Mündigkeit im Glauben war noch nicht viel da. Und weil es beim Zugang zu Jesus aufs Verstehen und vernünftiges Sprechen nicht ankommt, werden bei der Konfirmation auch die geistig und sprachlich behinderten Jugendlichen ganz selbstverständlich mit einbezogen. Ohne die Geschichten davon, wie Jesus mit Kranken und Behinderten umgegangen ist, wäre das – da bin ich sicher – nicht so selbstverständlich. Der Segen, der von dem Erlebnis ausgeht, vor Gott genauso dazustehen wie die anderen, der kann kaum überschätzt werden.
Eine derartige Konfirmation steht mir besonders vor Augen: Angelika war ein geisitg behindertes Mädchen. Sie ging auf eine Sonderschule und hätte mit ihren Mitschülerinnen konfirmiert werden können. Den Eltern aber lag daran, dass sie in ihrer Heimatgemeinde eingesegnet wurde. Von zwei Nachbarmädchen wurde sie im Konfirmationsgottesdienst in die Mitte genommen. Ich legte den dreien zum Segen die Hände auf und endete mit dem Kreuzeszeichen. Da strahlte Angelika über das ganze Gesicht und sie begann fröhlich in die Hände zu klatschen. Ihre beiden Mitkonfirmandinnen stutzten einen Augenblick und klatschten dann auch. Die Gemeine stutzte ebenfalls und schloss sich dann – zunächst zaghaft, dann immer beherzter – an. Nach jeder weiteren Einsegnung wiederholte sich der Beifall. Die Stimmung war gelöst wie selten. Und am Ende nach dem Auszug bedankten sich viele bei Angelika für die gute Idee.

Und wie sieht das aus, wenn Jesus sich einem Taubstummen zuwandte?

Er nahm ihn aus der Menge beiseite.

Er sah, dass der Mann in der Menge keine Chance hatte, an ihn heranzukommen. Denn da waren viele Menschen, die das Sorgenkind als Zumutung empfanden. Sie schubsten ihn zur Seite. Was will der denn hier? Kriegt doch sowieso nichts mit. Steht doch nur im Wege und stört. Doch sie sind im Wege und stören. Darum holt Jesus den Mann heraus aus der Menge, schirmt ihn ab vor den Menschen, die seine Behinderung nur noch verstärken. Weil sie ihn herumstoßen und ihn völlig durcheinanderbringen. Solange er die Menge um sich hat, ist er vor Angst auch noch gelähmt, verfolgt von Argwohn und Unsicherheit über das, was da um ihn herum geschieht. Doch jetzt ist die Menge ausgeblendet. Und er hat Jesus ganz für sich allein.
Er erlebt damit, was heute für jeden Patienten selbstverständlich ist: dass die Sprechzimmertür sich schließt und man allein ist mit dem Arzt. Da braucht man sich nicht vor anderen in Acht nehmen, es geht nur noch um das, was einem fehlt. Ohne diese Abgeschirmtheit und ohne die ärztliche Schweigepflicht wäre es gar nicht möglich, herauszufinden, was dem einzelnen fehlt und welche Hilfe er braucht.

Und nun, da Jesus den Patienten ganz für sich hat, stellt er sich auch voll auf ihn ein:

Er legte ihm die Finger in die Ohren, und spuckte aus und berührte mit dem Speichel seine Zunge.

Er, der große Prediger, verstummt, teilt sich in einer Sprache mit, die auch ein Taubstummer verstehen kann: Er legt ihm seine Finger in die Ohren, damit er Hände spürt, die nichts als heilen wollen; die Bewegung von Fingern, die einen leisen vorsichtigen Zugang suchen da, wo sonst nichts durchkommt. Dann legt er seinen eigenen Speichel dem Kranken in den stummen Mund. Für den Taubstummen ist es heilsam zu spüren, dass Jesus sich unmittelbar mit dem verbindet, was ihn behindert. Sanftheit und ungeteilte Zuwendung – darum allein geht es hier.
Sanftheit und Zuwendung sind bis heute die Voraussetzung dafür, dass Kranken und Behinderten geholfen wird. Und wo Sanftheit und Zuwendung fehlen, helfen auch keine Medikamente. Grade traf ich eine Bekannte, die nach einer Reha nach Hause kam und klagte, alle Anwendungen hätten nichts gebracht, weil die Ärztin sie von oben herab behandelt habe.
Sanftheit und Zuwendung sind im Übrigen auch die einzige Möglichkeit an Menschen heranzukommen, die hören können, aber nichts aufnehmen, die zwar sprechen können, aber stumm sind für das verbindende und weiterführende Wort. Vorhaltungen und Drohungen verhärten. Allein Sanftheit und Zuwendung vermögen einen aus welchen Gründen auch immer verschlossenen Menschen zu öffnen.
Ich erlebe das immer wieder bei meinen regelmäßigen Begegnungen mit einem an paranoider Schizophrenie erkrankten Mann. Er hängt Verschwörungstheorien an, fühlt sich verfolgt, macht sich immer von neuem schwere Vorwürfe, für die es keinen Grund gibt. Er erwartet, dass ich mich mit seinen Wahnideen auseinandersetze und Stellung nehme.  Das führt aber nie zu einem Ergebnis. Beim nächsten Mal sind all seine Wahnideen wieder da, als hätten wir das nie zu klären versucht. Das bringt mich häufig genug auf die Palme. Ich werde laut, falle aus der Rolle und fühle mich hinterher hundeelend. Es gibt nur eines, was hilft: Mich an Jesus zu erinnern und mich zu üben in Behutsamkeit und Sanftheit. Meinem Gegenüber ohne Widerrede zuzuhören und nach freundlichen Worten zu suchen, die ihn beruhigen und ihm Respekt erweisen. Nur so kommt es zu Gesprächsphasen, in denen wir beide Nähe zueinander verspüren. Und die tut beiden gut.

Und Jesus sah auf zum Himmel und seufzte und sprach zu ihm: Hephata! das heißt: Tu dich auf!

Mit dem Blick zum Himmel zeigt Jesus: Ich bin kein Übermensch, kein Alleskönner. Alles hängt daran, dass Gott hilft und schafft, dass es gut wird. Aus eigener Kraft kann er die Behinderung nicht überwinden. Aber er kann für den Mann beten mit einem Wort, das auch der Taube versteht, weil er es vom Munde ablesen kann: Hephata - das ist Lautmalerei: Tu dich auf!
Damals bei Jesus hat diese Bitte sofort geholfen. Bei uns aber bleibt es beim Bitten. Behinderungen und Krankheiten verschwinden nicht. Und doch ist das „Hephata“ unter uns überall lebendig und stark. Was denn sonst treibt Ärzte und Pflegende, Angehörige, Freundinnen und Freunde an, gegen das Leiden anzugehen? Warum tun sie alles in ihren Kräften Stehende, um zu helfen und der Heilung entgegenzuarbeiten? Woher kommt es, dass ein leidender Mensch von denen, die um ihn sind, so gut wie nie aufgegeben wird? In dem allen erkenne ich das „Hephata“, auch wenn von Gott meist nicht die Rede ist. Aber die Leidenden wissen, was es bedeutet: Mein Leben ist wichtig. Ich bin nicht allein. Dieses Hephata wird nicht mit einem Schlag erfüllt. Aber es schiebt voran auf dem Weg, auf dem es gut wird. Darum lässt die Hoffnung Menschen nicht los bis zum letzten Atemzug. Wer hält sie lebendig, diese proaktive Zuversicht, wenn nicht Gott selbst? Denn er ist das Ja zu unserem Leben. Amen. .   

 

 

 

 

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Superintendent i.R. Rudolf Rengstorf: 

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich habe Menschen vor Augen, die im Internet auf diese Predigt gestoßen sind und sie lesen möchten. Unter ihnen sind vielleicht Kolleginnen und Kollegen, die auf der Suche nach Impulsen für ihre eigene Predigt sind. Wer diese Predigt für den Gottesdienst ganz übernehmen möchte, sollte bedenken, dass sie fürs Lesen geschrieben ist. Für das Hören muss sie noch bearbeitet werden. Vor allem müssten längere Sätze auseinandergenommen werden.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Mich in diese Geschichte und die Akteure hineinzuversetzen, mal in die Eltern, dann in die Menge, in den Taubstummen selbst und schließlich in Jesus. Und dann nach Parallelen in meinem Umfeld zu suchen.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Ganz wichtig ist mir die Entdeckung, dass das therapeutische Handeln Jesu sich heute in Praxen und der Inklusion von behinderten Menschen wiederholt. Das „Wunder“ ist in die Realität eingegangen, ohne in ihr aufzugehen. Dass alles gut wird, steht noch aus und gibt die Richtung an für unser therapeutisches Handeln.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Meinem Predigtcoach habe ich die Anregung zu verdanken, meine Entdeckungen durch Erzählungen zu konkretisieren und das „Hephata“ mit seinen Folgen genauso in die Realität einfließen zu lassen wie den geschützten Raum, Sanftheit und Zuwendung.

Perikope
Datum 22.08.2021
Bibelbuch: Markus
Kapitel / Verse: 7,31-37