"Ist Leiden Gottes Wille?", Predigt zu Jesaja 50, 4-9 von Dorothea Zager
50,4
Ist Leiden Gottes Wille?
An einem der letzten Julitage des Jahres 1941 schrillt in Auschwitz die Lagersirene. Drei Häftlinge sind geflohen. Beim Abendappell ergeht an die Blöcke 14 a und 17 kein Kommando zum Wegtreten. Lagerführer Karl Fritsch eröffnet den Häftlingen, dass aus ihren Reihen wegen der Flucht ihrer Kameraden etliche in den Hungerbunker müssten.
Am nächsten Morgen rücken alle anderen Blocks zur Arbeit aus; die Blöcke 14a und 17 nicht. Den ganzen Tag über müssen die Häftlinge in der sengenden Julisonne auf dem Appellplatz stehen bleiben.
Nach dem Abendappell schreitet Lagerführer Fritsch vom Rapportführer Palitzsch und einigen SS-Männern begleitet, die Reihen ab. „Die Flüchtlinge sind nicht gefunden worden!“, brüllt er. „Dafür verrecken zehn von Euch im Hungerbunker.“
Willkürlich benennt er die Opfer. „Der da!“, „Der!“ – „und  der da!“ Er ist bereits an Pater Maximilian Kolbe vorbei, als sein Wahl auf Françizek Gajowniçek fällt, einen Familienvater. Der zittert am ganzen Körper. Und er weint um Frau und Kinder zuhause.
Gott der HERR hat mir das Ohr geöffnet. Und ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück.
Da tritt Pater Kolbe vor und bleibt vor Fritsch stehen. Der Lagerführer greift zur Waffe. „Halt, was will dieses polnische Schwein von mir?“
Der Gefangene antwortet ruhig: „Ich möchte anstelle dieses Verurteilten sterben.“
Ichbot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel.
„Wer bist du?“
Die Antwort ist kurz: „Katholischer Priester.“
Es folgt ein Moment des Schweigens. Schließlich entscheidet Fritsch mit heiserer Stimme: „Einverstanden!“
Françizek Gajowniçek darf ins Glied zurücktreten. Pater Maximilian Kolbe wird zusammen mit neun anderen Häftlingen in den Todesbunker geführt.
Gott der HERR hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Jünger haben, dass ich wisse, mit den Müden zu rechter Zeit zu reden. Alle Morgen weckt er mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören.
Dort betet er mit den Gefangenen und spricht ihnen Mut zu.
Am 14. August wird Pater Kolbe und drei andere Verurteilte, die noch nicht verhungert waren, durcheine Phenolspritze umgebracht und im Krematorium verbrannt. Er wurde 47 Jahre alt.
Der Opfergedanke in der Bibel ist vielen Menschen zuwider. Ein bitterer Anstoß. Opfer? Das kann Gott doch nicht gewollt haben! Dass Menschen Menschen opfern. Dass Menschen sich für andere opfern. Das kann doch unmöglich Gottes Wille sein!
„Dass das aber nicht Gott sein könne, dessen Stimme Abraham da hört, davon muss er doch überzeugt gewesen sein; denn wenn das, was durch diese Stimme da verlangt wird, dem moralischen Gesetz zuwider ist, dann mag diese Erscheinung Abraham noch so majestätisch und unnatürlich vorgekommen sein, er muss sie einfach für eine Täuschung halten. Ja, Abraham hätte auf diese vermeintliche göttliche Stimme sagen müssen: es ist ganz sicher, dass ich meinen guten Sohn nicht töten muss. Aber dass Du da, der Du mir erscheinst und dies von mir forderst, Gott bist, das ist nicht wahr!“ – liebe Gemeinde, kein Geringerer als der große Philosoph Immanuel Kant schleudert unserer Geschichte diese heftigen Worte ins Gesicht: Das kann nicht Gott gewesen sein, der eine solche Grausamkeit von Abraham verlangt!“[1]
Der Gott der Liebe, der Gott des Lebens, der Gott, der uns später das Gebot „Du sollst nicht töten“ in unsere Herzen schrieb, der soll die grausame Opferung eines Kindes verlangt haben?? Nein, das kann nicht unser Gott gewesen sein!
Immanuel Kant drückt aus, was uns bedrückt, wenn wir solche Geschichte hören. So etwas verlangt der Gott nicht, den wir lieben und den uns die Evangelien verkündigen.
Ähnlich geht es uns mit dem Kreuzestod Jesu. War das wirklich ein Opfer, das Gott brauchte, um uns zu vergeben? Muss ein Mensch sterben, damit die Sünden der Menschen gesühnt werden? Kann überhaupt ein Mensch für die Sünden eines anderen sterben? Ist Schuld übertragbar?
Jahrhundertelang rüttelte niemand an dieser Vorstellung: Jesus wurde zum Lamm Gottes. Wir dürfen unsere Schuld auf seine Schultern legen. Und er trägt sie ans Kreuz. So wie der Sündenbock des Alten Bundes am Versöhnungstag die Schuld des Volkes auf sich nahm, um in der Wüste für die Schuld des Volkes zu büßen und zu sterben. Sein Blut – für uns vergossen. Sein Leib – für uns gegeben.
Jahrhundertelang rüttelte niemand an dieser Vorstellung. Bis zur Aufklärung. Da entdeckte man, dass der Gedanke, Sünde und Schuld ist nicht übertragbar, längst schon im Alten Testament angeklungen war:
In Jeremia 31[2] kann man lesen: „Siehe, es kommen Tage, spricht der HERR, da soll es geschehen: ich will über sie wachen, um aufzubauen und zu pflanzen. In jenen Tagen wird man nicht mehr sagen: „Die Väter haben saure Trauben gegessen, und den Kindern sind die Zähne stumpf geworden“[3]sondern jedermann wird an seiner eigenen Missetat sterben; welcher Mensch saure Trauben isst, dessen Zähne sollen stumpf werden!!
Längst hatte man erkannt, dass es stellvertretende Strafe nicht geben kann, aber erst Immanuel Kant war es, der diese Gedanken in Worte fasste: Keiner kann die Schuld eines anderen tragen. Keiner kann für einen anderen büßen. Jeder muss für das was er tut, selbst gerade stehen. Für das Gute, das er tut, aber eben auch für das Böse.
Und so zuwider uns der Gedanke ist, dass es Gottes Wille gewesen sein soll, dass Abraham seinen einzigen Sohn hätte schlachten sollen, nur um zu zeigen, wie gehorsam er ist.
So unlogisch erscheint uns, dass der Tod eines einzigen gerechten Menschen uns alle von unseren Sünden befreien soll. Alle Menschen, die bereits gewesen sind, uns heute und womöglich auch diejenigen, die noch kommen sollen. Aller derer Schuld – auf dem Rücken eines einzigen Menschen? Und das als eine Sühneleistung für Gott? Braucht er das? Ist Gottes Größe nicht so groß, dass er nicht auch verzeihen könnte ohne ein Opfer?
Wir denken an Jesus, an seine Botschaft, an sein eigenes Handeln. Wie er mit Zöllnern und Sündern an einem Tisch gesessen hat, ihnen Liebe und Vergebung schenkte, ohne ein Opfer zuvor zu verlangen.
Wir denken an das Gleichnis vom Verlorenen Sohn. Welches Opfer hat der Vater da gefordert, bevor er den Heimkehrenden, den Umgekehrten wieder in die Arme schloss? Keins! Er war einfach nur glücklich, dass der Sohn umgekehrt war, zurückgekehrt war. „Er war tot, und nun ist er lebendig. Freu Dich mit mir“, so sagt er dem daheimgebliebenen Bruder. „Freu dich mit mir!“ So groß ist im Himmel die Freude über einen, der Buße tut – mehr als über 99 Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.
Gottes Barmherzigkeit braucht keine Opfer.
Und doch: Durchzieht uns nicht, wenn wir die Schilderung dieser außergewöhnlichen und erschütternden Szene auf dem Appellplatz in Auschwitz hören, durchzieht uns nicht gerade hier das gegenteilige Gefühl: Ja, hier, ja gerade hier ist Gottes Wolle geschehen! Durch die Selbsthingabe des polnischen Priesters ist inmitten von gottloser, willkürlicher und brutaler Menschentat Gottes Wille geschehen.
Inmitten des tausendfachen Grauens, die binnen weniger Jahre in den Konzentrationslagern geschahen.  Inmitten einer geschichtlichen Wahrheit, vor der wir heute noch fassungslos stehen.
Inmitten von ungezählten Verbrechen gegen die Menschlichkeit und gegen den Gotteswillen, leuchtet hier etwas auf von Gehorsam, von Liebe und von Demut. Ja, hier mitten drin ist etwas geschehen, was doch Gottes Wille war: einer hat geliebt. Ein einziger hat geliebt und gab sein Leben für einen anderen.
Eine Erkenntnis, die uns tief anrührt und erschüttert, fesselt und aufrüttelt.
Was ist hier geschehen?
War es ein Opfer so wie es die Hingabe Isaaks sein sollte? Eine Probe auf den Glaubensgehorsam? Eine Läuterung für das Vertrauen?
Nein, ein solches Opfer war es nicht. Es wurde ja auch nicht – wie bei Isaak – in letzter Minute verhindert.
War es ein Opfer wie das Kreuz von Golgatha? Ein Tod, von dem wir bekennen, dass er einen jeden, der glaubt, von den Sünden befreit? Weil da ein Gehorsamerseinen Rücken darbot denen, die ihn schlugen, und seine Wangen denen, die ihn rauften. Weil da ein Gerechter seinAngesicht nicht vor Schmach und Speichel verbarg?
Nein, einen Sühnetod gibt es nicht und er ist auch hier nicht gemeint.
Was aber war es dann?
  Warum rührt uns das Handeln des Maximilian Kolbe so an?
  Warum kommt uns diese Selbsthingabe so tief menschlich vor, so wahrhaftig, so glaubwürdig? Warum haben wir das Gefühl: Ja, genau das ist richtige Nachfolge. Ja, genau hier ist Gottes Willen geschehen.
Dieser Tod Maximilian Kolbes rührt es zum einen deshalb so an, weil wir sehen, hier ist es einem Menschen gelungen, wirklich und ganz konsequent in der Nachfolge Jesu zu leben, und sogar in der Nachfolge Jesu zu sterben. Er hat wirklich versucht, Jesus gleich zu werden, und es ist ihm gelungen. Er ging wie Jesus freiwillig in den Tod. Und er hat die Liebe gelebt, von der Jesus selbst gesprochen hat: „Keiner hat größere Liebe als der, der sein Leben hingibt für seine Freunde."[4]“
Das zweite, das uns so erschüttert und auch überrascht: die Geradlinigkeit und Ruhe, mit der Maximilian Kolbe diesen Tod auf sich nahm.
Aber Gott der HERR hilft mir, darum werde ich nicht zuschanden. Darum hab ich mein Angesicht hart gemacht wie einen Kieselstein; denn ich weiß, dass ich nicht zuschanden werde.
Zeitlebens hatte er das Armutsideal, das ja den Orden der Franziskaner prägte, sehr ernst genommen. Zeitlebens hatte er die Liebe und die Hingabe als die Erfüllung des Willens Gottes gepredigt und vorzuleben versucht. Und das gelang ihm sogar im Sterben: In seinem Tod hat er die Demut in kaum zu überbietender Weise bezeugt.
Kein Ekel, keine Angst, ja noch nicht einmal der Selbsterhaltungstrieb, der doch jedem Menschen innewohnt, konnten ihn daran hindern, für einen anderen in den Tod zu gehen, damit dieser zurückkehren darf zu seiner Frau und zu seinen Kindern. Françizek Gajowniçek überlebte das Konzentrationslager und kehrte zurück. Er starb erst 1995.
Das letzte und ich denke auch die wichtigste Deutung des Todes dieses Mannes liegt darin: in seinem Sterben errang Pater Maximilian Kolbe einen Sieg über das Grauen von Auschwitz. Wie ein österliches Licht leuchtet dieses Handeln über dem ganzen todbringenden Geschehen dieser Jahre. Pater Kolbe hat den Beweis geliefert: die Ohnmacht und die Liebe sind stärker als der Hass.
Er ist nahe, der mich gerecht spricht; wer will mit mir rechten? Lasst uns zusammen vortreten! Wer will mein Recht anfechten? Der komme her zu mir!
Siehe, Gott der HERR hilft mir; wer will mich verdammen? Siehe, sie alle werden wie Kleider zerfallen, die die Motten fressen.
Die ersten, die auf solche Weise, die Wirkung dieses Todes erfahren hatten, waren die Häftlinge selbst, die das Geschehen in Auschwitz miterlebt hatten. Einer von ihnen, Jerzy Bielecki, schreibt:
„In Auschwitz erlebte man die Degradierung des Menschen. Zehntausende erfuhren die Krise des Menschseins an sich selbst. Tierische Instinkte wurden wach [...]
Und da traf es uns wie ein Schock: Mitten unter uns ist einer, der in dieser geistigen Finsternis das Banner der Liebe hoch hält. Pater Maximilians Tat wurde für Tausende von Gefangenen zum Beweis dafür, dass es eine wahre Welt gibt und gab. Es war dies ein Schock voller Optimismus, der uns unsere Kraft zurückgab.
Zu sagen, Pater Maximilian sei für einen von uns oder für dessen Familie gestorben, ist eine zu simple Erklärung.
Dieser Tod war für Tausende die Rettung, und darauf beruht die Größe dieses Sterbens.“[5]
Amen.

  
  
    [1]       zitiert nach: Gerd Theißen, Lebenszeichen. Predigten und Meditationen, Gütersloh 1998, S. 19f.
  
  
    [2]       Jeremia 31,27-29.
  
  
    [3]             Klagelieder 5,7; Hesekiel 18,2.
  
  
    [4]       Johannes 15,13.
  
  
    [5]       Jerzy Bielecki, Wer ein Leben rettet. Die Geschichte einer Liebe in Auschwitz, Berlin 2009.
     
Perikope
01.04.2012
50,4