I.
Wofür lohnt es sich, zu leben?
Das ist sicher provokativ, diese Frage hier und euch zu stellen: Mitten in der Seminarwoche. Ihr habt eurem Alltag eine ganze Woche Zeit abgetrotzt. Ihr lasst euch ein auf schwierige theologische Themen. Ihr müsst konzentriert zuhören und sollt euch selbst Gedanken machen und diskutieren. Nach den ersten Seminaren seit letztem Herbst war schon klar geworden: Das wird kein Spaziergang. Das kostet richtig Zeit und Kraft. Und es wird auch noch einige Zeit dauern, bis ihr die Früchte der Anstrengungen und Mühen ernten könnt.
Lohnt sich das alles? Ist das ein gutes Ziel, irgendwann selbst als Prädikantin oder Prädikant zu predigen, Gottesdienste zu leiten? Und wie ist es mit denen, die schon jetzt entschieden haben: Das lasse ich lieber. Soviel Zeit und Motivation habe ich nicht. Oder sogar: Dafür reichen meine Kräfte nicht. Wäre es nicht einfacher, sich solchen Herausforderungen erst gar nicht zu stellen? Man würde sich viel Mühe und auch das Eingeständnis der eigenen Grenzen ersparen.
Wofür lohnt es sich, zu leben? Diese Frage stellt sich natürlich auch in anderen Situationen: Wenn ich Mühe habe, eine Aufgabe zu erfüllen. Aber auch, wenn Leerlauf entsteht und mir nicht klar ist: Was ist eigentlich wichtig? Was soll ich anfangen mit meiner Kraft, meiner Zeit? Wenn ich meine Grenzen spüre, weil Krankheit oder Ängste lähmen. Dann kommen die Dinge auf den Prüfstand: Wenn wir in Grenzsituationen sind, die alles infrage stellen.
II.
Als Predigttext hören wir heute, was Paulus in einer solchen Grenzsituation schreibt (Phil 1, 15-2):
„15 Einige zwar predigen Christus aus Neid und Streitsucht, einige aber auch in guter Absicht: 16 diese aus Liebe, denn sie wissen, dass ich zur Verteidigung des Evangeliums hier liege; 17 jene aber verkündigen Christus aus Eigennutz und nicht lauter, denn sie möchten mir Trübsal bereiten in meiner Gefangenschaft. 18 Was tut's aber? Wenn nur Christus verkündigt wird auf jede Weise, es geschehe zum Vorwand oder in Wahrheit, so freue ich mich darüber.
Aber ich werde mich auch weiterhin freuen; 19 denn ich weiß, dass mir dies zum Heil ausgehen wird durch euer Gebet und durch den Beistand des Geistes Jesu Christi, 20 wie ich sehnlich erwarte und hoffe, dass ich in keinem Stück zuschanden werde, sondern dass frei und offen, wie allezeit so auch jetzt, Christus verherrlicht werde an meinem Leibe, es sei durch Leben oder durch Tod. 21 Denn Christus ist mein Leben, und Sterben ist mein Gewinn.“
Eine Grenzsituation: Paulus sitzt im Gefängnis. Der Ausgang seines Prozesses ist ungewiss. Die Todesstrafe droht ihm. Steht nun alles infrage? Aber Paulus ist stur, so leicht lässt er sich nicht abbringen von seinem Ziel. Gefängnis? Ja, bitte – dann wird endlich geredet über das, was ich zu sagen habe. Dann sieht man doch erst recht, welche Kraft meine Botschaft hat. Ich predige euch Christus, den Leidenden, den Gekreuzigten. Und wenn sie mich hier einsperren, bin ich doch noch viel glaubwürdiger. Das alles predigt doch besser, als viele Worte, was Christus bedeutet: mein Leiden, meine Schmerzen, meine Angst vor dem Tod.
Er ist unglaublich, dieser sture Apostel. Er fragt nicht: Lohnt sich das? Er sagt: Wenn sie mir den Mund verbieten, predigt mein Leib, mein Leben. Ich bin im Gefängnis, weil ich Christus predige – was kann mir besseres passieren? Er ist unglaublich, der sture Paulus.
III.
„Gelt Sophie, Jesus.“ – „Ja, aber du auch!“
Vor etwa 35 Jahren las ich diesen Wortwechsel zum ersten Mal – besser gesagt: ich hörte ihn, als Dialog in einem Film über die „Weiße Rose“. Ich hatte damals die sozialistische Schule gerade hinter mir. Ich war ratlos, wie es jetzt weitergehen könnte und suchte nach Orientierung, auch nach Orientierung für meinen Glauben. Dieser Dialog brachte es auf den Punkt: Der Glaube an Jesus Christus hat zu tun mit den Beziehungen der Menschen zueinander.
„Gelt Sophie – Jesus.“ Das sagte Magdalena Scholl am 22. Februar 1943 zum Abschied zu ihrer Tochter Sophie. Wenige Minuten später wurde Sophie Scholl hingerichtet. Sie hatte, zusammen mit ihrem Bruder Hand Scholl und anderen Studenten in München Flugblätter gegen den Nationalsozialismus geschrieben und verbreitet. Gegen den Krieg, gegen Hitler – für die Freiheit des Geistes und des Glaubens:
„Gibt es, so frage ich dich, der du ein Christ bist, gibt es in diesem Ringen ein Zögern … ein Hinausschieben der Entscheidung in der Hoffnung, daß ein anderer die Waffen erhebt, um dich zu verteidigen? Hat dir nicht Gott selbst die Kraft und den Mut gegeben zu kämpfen? Wir müssen das Böse dort angreifen, wo es am mächtigsten ist, und es ist am mächtigsten in der Macht Hitlers.“
So steht es in einem Flugblatt der „Weißen Rose“ vom Sommer 1942. Dann folgt ein Zitat aus dem Buch der Sprüche Salomos: „Ich wandte mich und sah an alles Unrecht, das geschah unter der Sonne; und siehe, da waren die Tränen derer, so Unrecht litten und hatten keinen Tröster; und die ihnen Unrecht taten, waren zu mächtig, daß sie keinen Tröster haben konnten. …“ „Wir schweigen nicht, wir sind euer böses Gewissen, die Weiße Rose läßt euch keine Ruhe!“1
„Gelt Sophie, Jesus.“ – „Ja, aber du auch!“
Hattest du keine Angst, Sophie? Wolltest du nicht leben? Hat sich das ‚gelohnt‘?
Der Blick auf Jesus, auf den gekreuzigten Christus. Der Blick auf den anderen Menschen, auf die Gesellschaft und das eigene Leben. Und die Frage: Wofür lohnt es sich, zu leben? Diese drei Dinge gehörten für Sophie Scholl, die 21jährige Studentin, offenbar zusammen. Sie ist, so haben es Augenzeugen beschrieben, ruhig und gefasst in den Tod gegangen. Sie hat ihr Leben nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt, sie wollte nicht sterben und sie hatte auch Angst. Ihr Leben und ihr Sterben zeigen auf Christus, den Gekreuzigten, den Leidenden und Mitleidenden:
„Gelt Sophie, Jesus.“ - „Ja, aber du auch!“
IV.
Was predigt mein Leben? Das Leben besteht ja meistens nicht aus Grenzsituationen, in denen alles auf einen Punkt kommt. Aber auch im scheinbar einfachen alltäglichen Leben stellt sich die Frage: Was heißt es, als Christ, als Christin, zu leben? Was predigt mein Leben?
Es geht nicht um heldenhaften Mut, nicht um Erfolgsgeschichten, nicht um moralische Bestnoten. Auch Paulus suchte nicht den Heldentod des Märtyrers: „… wie ich sehnlich erwarte und hoffe, dass ich in keinem Stück zuschanden werde, sondern dass frei und offen … Christus verherrlicht werde an meinem Leibe, sei es durch Leben oder durch den Tod.“ (V. 20) Paulus hält daran fest: Christus, der Gekreuzigte, wird sichtbar an den Erfahrungen seiner Glaubenden. Der einsame, zweifelnde Jesus im Garten Gethsemane erscheint in deiner Einsamkeit und deinen Zweifeln. Der Jesus, der unter dem Kreuzbalken zusammenbricht, erscheint in deinem Scheitern, den Niederlagen und Abbrüchen deines Lebens. Der Sterbende am Kreuz wird sichtbar in deiner Sterblichkeit und Todesangst.
In unseren Lebensgeschichten, im ganz alltäglichen und gewöhnlichen Lauf unserer Tage will Christus sichtbar werden.
V.
Was predigt mein Leben? Nicht erst dann, wenn einmal an meinem Grab eine Beerdigungsansprache gehalten wird. Sondern jetzt, mitten im Leben und im Alltag.
Paulus, unser apostolischer Glaubensbruder, ist rigoros und gelassen: „Wenn nur Christus verkündigt wird, auf jede Weise …“ (V. 18)
„Ja, aber du auch!“ – antwortet Sophie Scholl ihrer Mutter, ähnlich rigoros und gelassen. Der Glaube an den gekreuzigten Christus ist keine Versicherung für ein Leben, das „sich lohnt“. Aber er öffnet den Blick für das, was sich um Christi willen lohnt. Und er macht unser Leben durchsichtig für die Botschaft des Evangeliums: Gottes Leben über den Tod hinaus.
Amen.
1 I Drobisch, Klaus (Hrsg.), Wir schweigen nicht! Eine Dokumentation über den antifaschistischen Kampf Münchner Studenten 1942/43. Union Verlag Berlin, 1983, S. 101ff.