Jedes Jahr ist ein „Jahr des Herrn“ - Predigt zu Lukas 4,16-21 von Reiner Kalmbach
4,16-21

Jedes Jahr ist ein „Jahr des Herrn“ - Predigt zu Lukas 4,16-21 von Reiner Kalmbach

Jedes Jahr ist ein „Jahr des Herrn“

Ein neues Jahr hat begonnen, hat Einzug gehalten. Was mag es mir bringen?, oder kann man von einem neuen Jahr überhaupt etwas „erwarten“?, müsste ich die Frage nicht umgekehrt stellen?: was kann ich in dieses Jahr einbringen, was erwartet „Gott“ von mir...?, ach ja, der liebe Gott, der will ja durch sein Wort zu uns sprechen, er will hier unter uns sein..., heute wie an jedem Gottesdienst.

Also hören wir es, es steht im Evangelium des Lukas, im 4. Kapitel, die Verse 16 – 21

Textlesung

Welch ein Wort!, sachlich und nüchtern beschreibt Lukas dieses Ereignis, und vielleicht gerade deshalb kommt es bei mir an, bewegt mich, (er)füllt meine Seele bis in den letzten Winkel...und wenn ich dieses Wort etwas länger auf mich einwirken lasse, dann entsteht so etwas wie eine Unruhe in mir, fast könnte ich sagen, es erschreckt mich.

Welch ein Wort!, und damit soll ein neues Jahr beginnen..., was wollen wir mehr?! (wir könnten es vielleicht ernst nehmen...). Schliesslich wird uns ein ganz besonderes Jahr verkündet: das „Gnadenjahr des Herrn“.

Jedes neue Jahr ist ein „Jahr des Herrn“.

Niemand weiss heute was morgen sein wird. Alles, was mit der Zukunft zu tun hat, ist offen, ungewiss...

Ja, diese Geschichte bewegt mich, vielleicht auch deshalb, weil sie mich an meinen eigenen Weg erinnert: Jesus kommt, vielleicht nach längerer Zeit zum ersten Mal, in sein Heimatdorf. Es muss ihm nicht unbedingt ein besonderer Ruf vorauseilen, dennoch wird seine Ankunft eine gewisse Aufmerksamkeit erregt haben.

Aufgewachsen bin ich in einem kleinen Dorf im Schwäbischen. Man kennt sich, man gehört zur „Dorfgemeinschaft“. Aber dann hat es mich fortgezogen. Ab und zu kam ich auf Besuch, das ist kaum aufgefallen. Viele junge Menschen zieht es in die Stadt. Später dann das Theologiestudium und danach die Ausreise nach Argentinien. Eines Tages kehre ich in mein Dorf zurück, nun als Pfarrer. Da gibt es für ein paar Tage kein anderes Gesprächsthema. Natürlich werde ich eingeladen am Sonntag zu predigen. Eine kleine Gemeinde, die sich allsonntäglich in der kleinen Dorfkirche versammelt. Der Kirchgang gehört einfach dazu, niemand würde diese Tradition in Frage stellen, alles nimmt seinen gewohnten Gang, auch die Liturgie, die Predigt...Früher, als ich noch dazu gehörte, fragte ich mich oft, ob das gepredigte Wort bei den Menschen überhaupt ankommt. Es wird wohl gehört, die Frage ist, aber wie?, spricht dieses Wort den Menschen in die Herzen?, in ihr persönliches Jetzt?, oder gehört es, eben wie all die anderen Dinge, einfach dazu? Man kann auch gewisse religiöse Überzeugungen haben, die man nicht missen mag, die einem wichtig sind, an denen man sich wärmt, in denen man zu Hause ist. Auch darin gibt es ein Heute, das Heute nämlich, das genauso wie das Gestern, genauso auch wie das Morgen sein wird. Man betet das Glaubensbekenntnis und auch das gehört dazu. Niemand würde die Existenz Gottes, seine Allmacht, in Frage stellen. Man kann in die Kirche gehen in der Erwartung, dass dort „ewige Wahrheiten“ verkündet, nein: „doziert“ werden. Aber niemand erwartet, dass jetzt irgend etwas passiert!

So stehe ich also auf der Kanzel und predige Sein Wort, jenes Wort, das von der selben Stelle aus jeden Sonntag die alten Gemäuer ausfüllt. Unten im Kirchenschiff sitzt meine Mutter, sie ist voller Stolz...Alle hören zu, man sieht, man spürt es, niemand schläft. Noch während ich predige, frage ich mich, ob sie ihrem Pfarrer die selbe Aufmerksamkeit schenken, eher nicht...Danach dann die Kommentare, ja, heute haben sie wirklich zugehört. Selbst der Pfarrer sagt anerkennend: „...heute nehmen die Menschen etwas mit nach Hause...“

War es so bei Jesus?, haben sie ihm mit aller Aufmerksamkeit zugehört, weil er, nach langer Zeit, die Seinen besucht...? Ich denke, ein bisschen schon. Das Wort aus dem Jesajabuch ist für die frommen Juden der Synagoge bestimmt nichts aussergewöhnliches, sie hören es nicht zum ersten Mal. Hätte einer von ihnen die selbe Stelle aus der Schriftrolle gelesen, kein Grund deshalb seinen verdienten Kirchenschlaf zu unterbrechen. Aber es ist Jesus, der einst unter uns lebte, Jesus, den wir doch alle kennen, wir haben zusammen mit ihm so manchen Schabernack getrieben. Also haben die Menschen ihre Ohren auf Empfang geschaltet..., und vielleicht auch ihre Herzen. Dieses Wort, aus seinem Munde, heute hört es sich ganz anderes an! Und Jesus weiss: heute hören sie mir wirklich zu. Und wer nicht ganz vernagelt ist, der spürt es sofort: das „mir“ und „mich“ in dem vorgelesenen Text weißt auf ihn hin. Irgendetwas geschieht da, das jedenfalls, verstehen die Nazarener. Aber es will ihnen einfach nicht in den Kopf, dass der, den sie von Kind auf in seiner ganzen Menschlichkeit kennen, der Erfüller der Verheissungen Gottes sein soll.

Nicht wahr?, so sieht es doch aus in unseren Gemeinden. Wir lesen, hören Gottes Wort, Sein Wort aus dem Munde des Propheten, der Apostel, der Evangelisten..., manchmal ist dieses Wort wie starker Tobak, es rüttelt und schüttelt uns, und dann kann es auch trösten, aufrichten..., aber dann ist auch schon vorbei, schliesslich steht es nur auf dem Papier, und da soll es auch bleiben!, wo kämen wir hin, wenn Gott unserer Bitte „...dein Reich komme, dein Wille geschehe, wie (bereits) im Himmel, so auch auf Erden...“, ganz plötzlich nachkommen würde...?, nein, besser nicht, lassen wir doch alles wie es war und ist..! Unsere Kirche, unsere Gemeinde im Dauerdämmerschlaf...

So stelle ich mir die Situation um Jesus vor. Eine Gemeinde die ihre Routine feiert, den allsabbatlichen Ritus, mit wunderschönen Texten und Gebeten..., und ganz plötzlich ändert sich alles: „heute ist dieses Wort erfüllt vor euren Ohren.“

Heute!, nicht gestern und auch nicht morgen, sondern jetzt!, in diesem Augenblick, da ER zu uns spricht. Wenn sie, die Zuhörer Jesu, wenn wir doch dieses Heute verstünden!

Wir kennen diese Situation: es gibt Augenblicke, in denen das Schicksal eines Volkes, oder gar der ganzen Menschheit gewissermassen an einem Faden hängt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war die Welt nie so nahe am Abgrund, wie während der Kubakrise. In buchstäblich letzter Sekunde konnte die atomare Katastrophe vermieden werden.

Jesus in der Synagoge: er ist der dessen Geist aus den alten und wunderschönen Texten spricht, er ist, gewissermassen, der Autor dieses Wortes, es verleiht seinem Willen Ausdruck. Deshalb spüre ich eine gewisse Unruhe in mir, deshalb richten sich alle Blicke auf Jesus.

Dass Gott allmächtig ist, ist immer wahr, zu jeder Stunde, auch ausserhalb des Gottesdienstes. Sich eine eigene Vorstellung von Gott zulegen, die Gebote studieren, Opfer darbringen und Psalmen singen nach der Väter Weise, das können die Nazarener (und wir!) immer. Wie aber, wenn sich das, was sich zwischen Gott und uns abspielt, eben nicht das Zur-Kenntnis-Nehmen einiger Wahrheiten über Gott wäre, sondern ein lebendiges Geschehen?, wenn ich plötzlich erkennen würde, dass Jesus selbst in seinem Wort lebendig ist, d.h., Er spricht mich persönlich an und zwar jetzt! Und dann erkenne ich, wie es um mich steht: ich bin ja selbst Teil der schlafenden Gemeinde, ich habe ja selbst immer wieder dafür gesorgt, dass dieses Wort auf dem Papier bleibt und sich von dort nicht fort bewegen kann.

Gerade kommen wir von Weihnachten her..., wie sieht es damit aus?, lassen wir jedes Jahr nur ein geschichtliches Ereignis auferstehen, um es zu glorifizieren?, können wir wirklich die Freude spüren, erfahren, „heute“ (noch) erleben, die „allem Volk“ widerfahren ist?, oder ist für uns der Heiland nicht heute, sondern gestern geboren...? Denn darum geht es doch, eigentlich in jedem Gottesdienst, also auch heute, jetzt!

Jesus spricht jetzt zu mir, zu uns, ich darf diesen Moment nicht wieder verstreichen lassen, eine verpasste Gelegenheit ist eine verlorene Gelegenheit! Das Reich Gottes öffnet sich mir, uns und zwar jetzt und hier!, das sagt Jesus seinen Zuhörern in Nazareth und er sagt es uns!

Im Grunde gibt es für uns Christen nur eine einzige sorgenswerte Sorge: was ereignet sich zwischen Gott und mir? Ja, was ereignet sich da? Jesus steht vor uns, das Gnadenjahr ist angebrochen, wir dürfen kommen..., weil

...der Verheissene mitten unter uns ist.

Ja, für uns ist das Jahr des Herrn bereits angebrochen. Dazu ist Jesus gekommen!, dieses kleine Detail ist ungeheuer wichtig: Jesus stand von der Krippe auf und ist auf den staubigen Strassen dieser Welt gewandert. Das Evangelium wird den Armen verkündet!, da hilft keine Ausrede, keine noch so hochtrabende Rechtfertigung..., es ist so!

Und weil das so ist, nimmt uns dieses Wort in die Pflicht.

Jesus hat seine Liebe zu den Menschen gepredigt und gelebt, bis in die letzte Konsequenz. Und es ist genau das, was er von den „Seinen“ auch erwartet. Jesus war kein Diplomat und noch viel weniger ein Kirchenpolitiker, der „hinter den Kulissen“ versucht, „etwas“ zu erreichen. Jesus war konkret, Jesus hat im Jetzt gelebt und gehandelt. Deshalb dürfen wir uns niemals mit der Klage über die ach so dunkle und böse Welt zufriedengeben. Deshalb sollen wir fragen: was können, was müssen wir tun...? Und wenn wir die Augen öffnen, dann werden wir die Antwort sehen.

In unserer Gemeinde im Süden Argentiniens haben die Frauen vor einigen Jahren zwei soziale Projekte in einem Elendsviertel eingerichtet. Sie haben „gesehen“, „mit den Augen Jesu“, wie es mir eine ältere Frau erklärte. Frauen lernen die Kleidung für ihre Familien selbst nähen, sie erhalten psychologische Hilfe, um mit der allgegenwärtigen Gewalt besser umgehen zu können. Ihre Kinder werden bei den Schulaufgaben betreut, sie dürfen richtig spielen, lachen zum ersten Mal in ihrem Leben..., „...zu verkündigen das Evangelium den Armen...“, die Blinden werden sehend, die Gefangenen frei sein.

Es stimmt schon: wenn wir es wagen dieses Wort ernst zu nehmen, wenn wir uns von ihm wirklich ansprechen lassen, wenn es vom Papier auf uns überspringt, wie ein Funke, dann entsteht Widerstand in uns, dann suchen wir nach irgend einem Ausweg.

Wir spazieren durch die Stadt und kreuzen plötzlich die Strasse, weil auf unserer Seite ein Bettler sitzt, den unser Gewissen am liebsten ignorieren möchte. Und wenn der Bettler Jesus ist?

Aber ich habe es selbst gesehen und erlebt: unsere Frauen „opfern“ ihre Zeit und ihr Geld, ihre Phantasie und ihre Gaben, mit grosser Freude. Jede von ihnen hätte ohne Probleme mehrere Ausreden parat..., aber sie nutzen das Jetzt, um das zu tun, was Gott von ihnen erwartet: am Bau des Reiches mitzuarbeiten. Sie sind mit einer Begeisterung dabei, die für mich fast unerklärlich ist, sie stecken Rückschritte und frustrierende Erfahrungen einfach weg, schauen nach vorne und machen weiter.

Wenn wir den Abschnitt bei Lukas weiterlesen, dann werden wir erfahren, dass die Nazarener das „Jetzt“ nicht erkannten, sie sahen sich nicht im „Gnadenjahr“, sie liessen die Gelegenheit verstreichen (wieder eine!) und jagten ihn aus der Stadt.

Es wäre eine wundervolle Herausforderung für unsere Gemeinde, für jeden von uns, dieses neue Jahr als Gnadenjahr zu erkennen, in dem sich die Verheissungen erfüllen, eben weil der Verheissene bereits unter uns ist.

Amen.