Jesus als Aufklärer - Predigt zu Joh 16,5-15 von Reinhardt Schmidt-Rost
16,5-15

Jesus als Aufklärer - Predigt zu Joh 16,5-15 von Reinhardt Schmidt-Rost

Jetzt aber gehe ich hin zu dem, der mich gesandt hat; und niemand von euch fragt mich: Wo gehst du hin? Doch weil ich dies zu euch geredet habe, ist euer Herz voll Trauer. Aber ich sage euch die Wahrheit: Es ist gut für euch, dass ich weggehe. Denn wenn ich nicht weggehe, kommt der Tröster nicht zu euch. Wenn ich aber gehe, werde ich ihn zu euch senden. Und wenn er kommt, wird er der Welt die Augen auftun über die Sünde und über die Gerechtigkeit und über das Gericht; über die Sünde: dass sie nicht an mich glauben; über die Gerechtigkeit: dass ich zum Vater gehe und ihr mich hinfort nicht seht; über das Gericht: dass der Fürst dieser Welt gerichtet ist. Ich habe euch noch viel zu sagen; aber ihr könnt es jetzt nicht ertragen. Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch in aller Wahrheit leiten. Denn er wird nicht aus sich selber reden; sondern was er hören wird, das wird er reden, und was zukünftig ist, wird er euch verkündigen. Er wird mich verherrlichen; denn von dem Meinen wird er's nehmen und euch verkündigen. Alles, was der Vater hat, das ist mein. Darum habe ich gesagt: Er nimmt es von dem Meinen und wird es euch verkündigen. (Joh 16,5-15)

 

Liebe Gemeinde,

der Abschied wird zum neuen Anfang.

Drei Jahre waren sie mit ihm gezogen, Simon und Andreas, Johannes und Jakobus, die zwölf Jünger, die namentlich genannt werden. Aber es waren sicher noch einige mehr, die mit Jesus, ihrem Lehrer, in Galiläa unterwegs waren, die seine Worte gehört und weitergetragen hatten. Und Frauen waren sicher auch dabei.

Die zwölf waren wohl der engste Kreis, auch wenn die Zahl zwölf für die zwölf Stämme Israels stehen mag, also eine zeichenhafte Zahl ist.

Der Abschied wird zum neuen Anfang.

Jesus spürt, dass seine Zeit in dieser Welt zu Ende geht, dass ihn die politisch Maßgebenden verfolgen und ihn umbringen werden. Deshalb versucht er seine Jünger auf die Zeit danach, nach seinem Tod, vorzubereiten.

Ihr seid zwar traurig, wenn ich nicht mehr bei euch bin, aber es ist gut für euch, dass ich weggehe, denn dann kann ich euch den Tröster, meinen Geist, senden.

Das klingt nur im ersten Moment merkwürdig. Näher besehen ist es ein ganz normaler Vorgang auch unter Menschen: Wenn uns ein Mensch verlässt, mit dem wir sehr vertraut zusammen gelebt haben, dann sind wir traurig, aber er hinterlässt uns auch einen tiefen Eindruck. Und je intensiver wir zusammengelebt haben, umso lebendiger bleibt uns ein geliebter Mensch gegenwärtig mit allem, was er uns bedeutete.

 

Wie oft sagt man über einen Menschen, an den wir uns lebhaft und gern erinnern: Hat sie nicht immer so schön erzählt? Oder erinnert ihr euch noch an seine witzigen Sprüche? Oder sie konnte so gut zuhören und so treffend raten. Oder auch: So wie mein Lehrer möchte ich auch einmal predigen können.

 

Erst recht bei der Intensität, mit der Jesus mit seinen Jüngern zusammengelebt hat. Wie sollte da sein Geist nicht in ihnen weiterwirken? Aber vor allem und viel mehr: Er hat ihnen eine ganz neue Sichtweise vermittelt, einen ganz neuen Blick auf das Leben gegeben, das werden sie nicht mehr vergessen. Das hat sie geprägt, das war die Wirkung des Heiligen Geistes in ihrem Leben – und diese Prägung haben sie mit einer Kraft der Überzeugung weiter gegeben, dass diese Eindrücke auch auf uns gekommen sind und bis in unsere Tage weiterwirken. Und wir geben sie auch selbst weiter.

 

Und wenn er kommt, wird er der Welt die Augen auftun über die Sünde und über die Gerechtigkeit und über das Gericht;

über die Sünde: dass sie nicht an mich glauben;

über die Gerechtigkeit: Dass ich zum Vater gehe und ihr mich hinfort nicht seht;

über das Gericht: dass der Fürst dieser Welt gerichtet ist. (Joh 16,8-11)

 

Was Jesus seinen Jüngern vermitteln wollte und weiterhin bis in unsere Zeit vermittelt – und durch uns weiter – ist eine Klärung ihres Denkens, eine Aufklärung.

Sünde ist, dass ihr euch nicht zu mir halten wollt, Gerechtigkeit, dass ich und der Vater eins sind, Gericht aber heißt, dass der Fürst dieser Welt gerichtet ist.

Das muss man noch einmal ganz langsam überdenken: Sünde ist kein Kavaliersdelikt und kein Verstoß gegen ein Gebot göttlicher oder weltlicher Herrscher, keine Unterlassungssünde, sondern Entfernung von Gott, dem Gott, den Johannes als die Liebe beschreibt, als Gnade und Wahrheit.

Es ist in diesem Zusammenhang bedenkenswert, was ein Soziologe unserer Tage, Gerhard Schulze, über die Sünde schreibt:

„In der christlichen Theologie tritt mit Luther das eigentlich schon viel ältere Prinzip der Rechtfertigung allein durch den Glauben mit neuer Kraft an die Stelle des archaischen Prinzips der Werkgerechtigkeit. Was sich alle Religionen seit eh und je unter Sünde vorgestellt haben, wird damit unwichtig. Dieser in der protestantischen Theologie fest etablierten Position stimmt auch die katholische Theologie zu, wenn auch eher zögernd und fast hinter vorgehaltener Hand.“ (Gerhard Schulze, Sünde, München 2005, S.129)

Sünde ist für Jesus ein Beziehungsgeschehen, Gottferne, so wie wenn ich mich zu Menschen nicht bekennen würde, denen ich freundschaftlich oder verwandtschaftlich verbunden bin.

Und Gerechtigkeit? Sie ist für Jesus kein abstrakter Wert, sondern die unsichtbare Einheit von Vater und Sohn, die der Geist Gottes den Menschen immer wieder durch das Wort vermittelt. Ein ungewöhnlicher Gebrauch des Wortes Gerechtigkeit, aber für Johannes in seinem Evangelium und seinen Briefen typisch. Gerecht ist die richtige Auffassung von Gott und seinem Gesandten, dass sie eine geistige Einheit sind.

Gerechtigkeit als Einheit von Vater und Sohn bedeutet Gericht und Gnade.

Es wird erfahrbar sein, was gerecht ist. Die Menschen werden Gottes Gerechtigkeit nicht okkupieren können, sie können nicht über sie verfügen. Denn Gottes Geist weht, wo er will. Und wenn Gott als Vater anerkannt wird, dann ist natürlich auch der Fürst dieser Welt gerichtet, nämlich als Gewalttäter verurteilt, gerichtet von Gott als dem Guten Hirten aller Menschen, der durch Wort und Geist wirkt.

Jesus weiß, was er seinen Jüngern zumutet, welchen Bewusstseinswandel er verlangt. Und so fügt er gleich hinzu:

Ich habe euch noch viel zu sagen; aber ihr könnt es jetzt nicht ertragen. Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch in aller Wahrheit leiten. (Joh 16,12f)

Hier ereignet sich eine Form von Emanzipation, von erwachsenem Glauben, von Selbständigkeit und Verantwortlichkeit. Denn in jeder Zeit muss die Gnade und die Gerechtigkeit Gottes neu buchstabiert werden. Auf der Grundlage von Gnade kann der Mensch seinem Unrecht ins Auge sehen. Er ist nicht vernichtet, wenn Gott „der Welt“ die Augen öffnet.Er überlebt die „Aufklärung“, weil der Fürst dieser Welt bereits gerichtet ist.

Auch für uns, für jede neue Generation ist das Evangelium eine Zumutung. Es verlangt einen Bewusstseinswandel, der uns nur durch Gottes Geist und Wort zufließen kann. Der Geist der Wahrheit muss uns in die Wahrheit leiten, wir können als Menschen die Wahrheit nicht herbeizwingen. Und diese Orientierung durch den Geist muss jeden Tag wieder geschehen und sie geschieht auch immer wieder.

Wir erleben die heilsamen Wirkungen des Geistes in vielen Situationen:  Bei der Aufhebung der Sprachverwirrung zwischen Fremden, und in Familien, bei der Schlichtung von Konflikten in der Arbeitswelt und zwischen den Generationen. Der Geist wirkt zur Aufhebung der Verständigungsschranken unter den Religionen und zur Aufhebung der Rassentrennung, denn Gottes Geist mildert die Angst vor dem anderen, der mich zu bedrohen scheint. (Von diesen Wirkungen des Heiligen Geistes sprach auch Erzbischof Thabo Makgoba aus Kapstadt im Abschlussgottesdienst auf dem Kirchentag am vergangenen Sonntag.) Wir können Gottes Geist jeden Tag neu spüren und erfahren aus Worten der Bibel, aber auch aus vielen alten und neuen Liedern[1]. Eine Strophe aus einem Lied aus der Schweizer Reformation, von Ambrosius Blarer nimmt die Motive unseres Predigttextes besonders treffend auf:

Wie mit dem Vater und dem Sohn
du eins bist in des Himmels Thron
im ewgen Liebesbunde,
also mach uns auch alle eins,
dass sich absondre unser keins,
nimm weg der Trennung Sünde
und halt zusammen Gottes Kind,
die in der Welt zerstreuet sind
durch falsche G'walt und Lehre,
dass sie am Haupt fest halten an,
loben Christus mit jedermann,
suchen allein sein Ehre. (EG 127,5 – Ambrosius Blarer)

Da ist die Einsicht der Jünger Jesu für die Reformationszeit neu ausgesprochen: Sünde ist eine Trennung von Gott, keine einzelne Tat. Und sie ist überwunden durch Gnade, wir mit der Dreieinigkeit Gottes verbunden in einem ewigen Liebesbund.

Das helfe uns Gott täglich zu glauben und aus diesem Glauben zu leben. Amen.

 

1 I  EG 127, bes. Str.5 u. 6., EG 132. EG 136