Jesus und die „Urabsicht Gottes“
Liebe Gemeinde,
die bedrängenden Fragen unserer Zeit haben wir heute morgen nicht zuhause gelassen. Die Bilder der in unser Land strömenden Flüchtlinge haben sich in unseren Köpfen eingebrannt. Und die Ratlosigkeit der Politik, wie mit diesem Problem umzugehen sei, wird uns jeden Tag neu vor Augen geführt. Wir wissen nicht, wie es weitergeht und wir fragen uns, wie unsere Gesellschaft diese vielen Menschen integrieren kann und uns ist bange, ob die Aufnahmebereitschaft sich nicht bald in Ratlosigkeit und Hilflosigkeit wandelt und hinüber kippt in offene Feindschaft.
Wir suchen nach Orientierung und hoffen heute morgen vielleicht auf ein Wort, das uns weiterhilft.
Es sind Worte aus der Bergpredigt, auf die wir heute in unseren Kirchen und Gottesdiensten treffen. Markante und bekannte Worte Jesu von der Feindesliebe.
(Mt 05, 38-48)
Ihr habt gehört, dass gesagt ist: »Auge um Auge, Zahn um
Zahn.« Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt
dem Übel, sondern: wenn dich jemand auf deine rechte Backe
schlägt, dem biete die andere auch dar.
Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock
nehmen, dem lass auch den Mantel. Und wenn dich jemand
nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei. Gib dem,
der dich bittet, und wende dich nicht ab von dem, der etwas
von dir borgen will.
Ihr habt gehört, dass gesagt ist: »Du sollst deinen Nächsten
lieben« und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt
eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr
Kinder seid eures Vaters im Himmel.
Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und
lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.
Denn wenn ihr liebt, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn
haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? Und wenn ihr
nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes?
Tun nicht dasselbe auch die Heiden? Darum sollt ihr
vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.
Markante und bekannte Worte. Und irgendwie so fern von allen Regeln dieser Welt, dass einem auch gleich das Wort eines ehemaligen Bundeskanzlers einfällt, dass mit der Bergpredigt keine Politik zu machen sei. Wie sollte uns diese radikale Friedensethik denn auch weiterhelfen bei all den Problemen dieser Welt: In Syrien wird seit Jahren Krieg geführt, mittlerweile weiß niemand mehr, wofür oder wogegen. Es ist einfach nur noch ein brutaler Vernichtungsfeldzug gegen Menschen – meist gegen die, die sich nicht wehren können und dieser Maschinerie, selbst wenn sie es wollten, nichts entgegen setzen können.
Nur fliehen können sie, das Weite suchen, sich und ihre Kinder irgendwie in Sicherheit bringen. Und auf der Flucht werden sie wieder bedroht, ausgenutzt, ausgebeutet und gedemütigt. Das vermeintlich sichere Europa empfängt sie mit Zäunen und geplanten Internierungslagern.
Ich versuche, mich in diese Menschen hinein zu versetzen. Und stoße mit den Worten Jesu an Grenzen. Schon geschlagen und gedemütigt soll ich mich nicht widersetzen, sondern geduldig die Schläge ertragen. Schon fast bis aufs letzte Hemd ausgezogen, soll ich auch noch auf das allerletzte verzichten, was mir geblieben ist – bei vielen der Flüchtlingen ist es vielleicht das Handy mit den Bildern der Zurückgebliebenen und der letzten Möglichkeit mit ihnen in Kontakt zu treten.
Wie geht es diesen Menschen, die das hören: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen? Ist in diesen Worten auch nur ein Hauch von Realität? Und wer könnte das schaffen?
Liebe Gemeinde, diese Worte sind eine Zumutung. Und nur mühsam gelingt es, sie an sich heranzulassen und das unbedingte Liebesgebot freizulegen.
Versuchen wir uns ein wenig dem Text zu nähern. Vielleicht wird dann das allzu Bekannte ein wenig fremd und hilft uns beim Nachdenken und Weiterdenken. Über lange Zeit wurde die Bergpredigt so verstanden, als würde Jesus etwas völlig Neues lehren, etwas das sich radikal abgrenzt von den Überlieferungen der Hebräischen Bibel. Etwas ganz und gar Neues, das das Alte ersetze. Dem ist nicht so. Denn Jesus setzt mit seinem „Ich aber sage euch“ das Alte nur richtig in Kraft, er bestätigt es, ja, er radikalisiert und verschärft es. Deshalb ist es auch nicht richtig, von Antithesen zu sprechen, vielmehr muss man sagen, es handelt sich um „Superthesen“ – so hat sie jedenfalls der jüdische Religionswissenschaftlicher Pinchas Lapide genannt. Denn alles Überlieferte ist gutes Gebot Gottes und soll den Menschen helfen, miteinander in Frieden zu leben.
So ist das biblische Prinzip des „Auge und Auge, Zahn um Zahn“ nicht etwas, das der Rachsucht Raum gibt. Sondern genau das Gegenteil ist damit gemeint. Das rechte Maßhalten. Die Verhältnismäßigkeit soll gewahrt werden. Aus einem Streit zwischen den Volksgruppen soll sich kein Krieg entwickeln. Die Gewalt soll nicht eskalieren, sondern soll eingedämmt werden. Das hat viel mit einer vernünftigen Sicht auf den Menschen und auf die Realitäten dieser Welt zu tun. Das „Auge um Auge“ sagt nichts anderes, als dass Gewalt nicht zur Katastrophe werden und zum Untergang führen darf.
Und was Jesus dann „draufsetzt“, ist tatsächlich schwer zu verstehen. Seine „Superthesen“ rufen mehr Fragen als Antworten hervor. Denn was sollte mich veranlassen, dem, der mich auf die rechte Backe schlägt, auch die linke hinzuhalten? Und warum sollte ich jemanden, der mich ausbeutet oder schon ausgebeutet hat auch noch etwas freiwillig dazu geben?
Jesus radikalisiert und provoziert. Und gibt erst einmal gar keine klaren Handlungsanweisungen; denn wie sollte das funktionieren, was er verlangt?
„Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“ – so hat es einmal der englische Philosoph Thomas Hobbes gesagt. Man frisst sich gegenseitig auf, wenn nicht irgendein vernünftiges Gesetz eine Grenze setzt – so wie eben das „Auge um Auge, Zahn um Zahn“.
Und doch: es gibt einen Traum von einer anderen Welt, einer besseren Welt, einer friedlichen Welt. In der jeder in seinem Haus, unter seinem Weinstock in Frieden wohnen kann. In der man seinen Garten bepflanzt und die Früchte, die darin reifen, essen darf. In der Menschen sich lieben dürfen und Kinder groß werden. In einer Stadt, in der Frieden und Gerechtigkeit wohnen und alle genug haben. Einer Welt, in der das Leid und das Leiden der Menschen ein Ende hat, in der die Tränen abgewischt und die Klagen verstummt sind. Eine Welt wie Gott sie für seine Kinder will.
Diese Vision nimmt Jesus auf. Diese Welt malt er den Menschen, die ihm zuhören und Orientierung für ihr Leben suchen, vor Augen. Um uns herum tobt eine Welt, die von Krieg und Tyrannei, von Hass und Elend gezeichnet ist. Aber wir wollen eine andere Welt. Wir wissen, dass Gott uns eine andere Welt bereit hält. Und dazu brauchen wir die prophetischen Worte Jesu. Und sie sollen uns in Herz fallen, nicht dass wir sie sofort umsetzen und zu Handlungsmaximen machen. Aber dass sie in uns den Traum wach halten von einer besseren einer friedvollen Welt, in der Feinde zu Freunden werden.
Der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber hat einmal, mit alten biblischen Bildern über Jesus sprechend, gesagt: „Der Sinai genügt ihm nicht. Er will in die Wolke über dem Berg, aus der die Stimme schallt, in die Urabsicht Gottes will er dringen..., um die Tora zu erfüllen, das heißt, ihre Fülle anrufen und wirklich machen.“
In die „Urabsicht Gottes“ will er dringen. Das vorstellbar machen, was Gott für seine Welt will.
Wenn wir heute aus den Worten der Bergpredigt etwas mitnehmen wollen, dann vielleicht dies: Die Bergpredigt ist nicht vernünftig, folgt nicht den Regeln der menschlichen Vernunft. Sie übersteigt das Vorstellbare und wahrscheinlich für die meisten Menschen auch das Lebbare. Und dennoch hat sie Kraft. Und sie gibt Kraft den Menschen, die Jesus nachfolgen wollen und immer wieder darum ringen, wie sie das können.
Die Bergpredigt und ganz besonders die Worte von der radikalen Feindesliebe; sie haben einen Ankerpunkt – und das ist das Leben und Sterben Jesu selbst. An ihm sehen wir, dass er mit seiner bedingungslosen Hingabe an die Welt und ihre Realitäten die Urabsicht Gottes für uns Menschen zur Vollendung gebracht hat.
Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.
Gut, dass einer vollkommen ist. Gut, dass sein Bild uns vor Augen ist, wenn wir die kleinen Schritte tun und uns für den Frieden in unseren Herzen, unseren Häusern und unserer Welt einsetzen. Nur das macht Hoffnung und lässt uns nicht verzagen.
Amen.