„Klappe, die erste!“ In älteren Filmen sieht man manchmal, wie in den Zeiten von Zelluloid und Cinemascope Filme gedreht wurde. Man sieht das Set: die Schauspieler stehen in ihren Kostümen regungslos bereit, außerhalb der Szene ein monströser Kamerawagen, daneben ein Mensch, der eine lange Stange mit einem Mikrophon über die Szene hält, und auf der anderen Seite der Regisseur auf seinem Campingstühlchen. Der gibt das Kommando: „Kamera! Klappe, die Erste!“ Dann huscht ein Gehilfe schnell vor die Kamera und hält ein Schild vor die Linse. Darauf steht mit Kreide Nummer und Titel der Szene geschrieben, die jetzt gedreht wird. Das Schild hat an der Unterseite einen Holzbalken. Gibt der Regisseur das Kommando, knallt der Gehilfe den Balken gegen das Schild. „Klack“ und alles gerät in „Action“. Wenn die Szene - sei sie auch noch so grausig - glücklich im Kasten ist, meldet der Assistent dem Regisseur: „Es ist vollbracht!“
Klappe, die Erste: Überlieferung
Da überlieferte Pilatus ihnen Jesus, dass er gekreuzigt würde. Sie nahmen ihn aber, und er trug selber das Kreuz und ging hinaus zur Stätte, die da heißt Schädelstätte, auf Hebräisch Golgatha. Dort kreuzigten sie ihn und mit ihm zwei andere zu beiden Seiten, Jesus aber in der Mitte. Ab jetzt, liebe Gemeinde, ab jetzt ist nichts mehr zu machen. Ab jetzt läuft die Sache, wie sie laufen muss. Das Drehbuch ist geschrieben. Die Schrift hat jetzt das Sagen. Pilatus überlieferte ihnen Jesus. So beginnt die Überlieferung.
Klappe, die Zweite: König der Juden
Pilatus aber schrieb eine Aufschrift und setzte sie auf das Kreuz; und es war geschrieben: Jesus von Nazareth, der Juden König. Diese Aufschrift lasen viele Juden, denn die Stätte, wo Jesus gekreuzigt wurde, war nahe bei der Stadt. Und es war geschrieben in hebräischer, lateinischer und griechischer Sprache.
Pilatus ist der erste, der über Jesus geschrieben hat. Nicht viel, nur vier Wörter auf ein Schild: Jesus von Nazareth, König der Juden. In drei Sprachen, in Hebräisch, in Lateinisch und in Griechisch, damit alle Welt es lesen könne, das Gottesvolk, die Machtheiden und die Bildungsbürger.
Jesus wird zur Tötung ausgeliefert und mit einer kargen aber polyglotten Schrift den Heiden überliefert. Wieder lebendig werden muss er uns ab jetzt in der Schrift und aus der Schrift. Theologen müssen die drei Sprachen der Überlieferung lernen, Hebräisch, Griechisch und Latein. Um der Wahrheit näher zu kommen.
An die Wahrheit ranzukommen versuchte auch Pilatus. Er war Richter. Die Anklage: Jesus habe sich König der Juden genannt. Bist du der König der Juden, fragte ihn der Richter (Joh 18,33). Der Angeklagte legte kein Geständnis ab. Er stellte die Gegenfrage: Wer sagt das? Wenn sich die Wahrheit in der Überlieferung verschleiert, ist die erste Frage immer: Wer sagt das?
Auch die Zeugen versagten. Keiner wollte bezeugen, dass er der König der Juden ist. Die Wahrheit fällt in Finsternis, wenn es keinen mehr gibt, der sie bezeugt.
Pilatus scheiterte an der Wahrheitsfrage. Aus der Wahrheitsfrage wurde eine Machtfrage.
Die Gemeinde singt:
EG 81,7: Ach großer König, groß zu allen Zeiten, wie kann ich g’nugsam solche Treu ausbreiten? Keins Menschen Herz vermag es auszudenken, was dir zu schenken.
Oder:
EG 71,3: Du bist ein großer König,
wie uns die Schrift vermeld’t,
doch achtest du gar wenig
vergänglich Gut und Geld,
prangst nicht auf stolzem Rosse,
trägst keine güldne Kron,
sitzt nicht im steinern Schlosse;
hier hast du Spott und Hohn.
Oder:
EG 275 (aus Ps 31),5: Mir hat die Welt trüglich gericht’
mit Lügen und falschem Gedicht
viel Netz und heimlich Stricke;
Herr, nimm mein wahr in dieser G’fahr,
b’hüt mich vor falscher Tücke.
6. Herr, meinen Geist befehl ich dir;
mein Gott, mein Gott, weich nicht von mir,
nimm mich in deine Hände.
O wahrer Gott, aus aller Not
hilf mir am letzten Ende.
Klappe, die Dritte: Deutungshoheit
Da sprachen die Hohenpriester der Juden zu Pilatus: Schreibe nicht: Der Juden König, sondern dass er gesagt hat: Ich bin der Juden König. Pilatus antwortete: Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben.
Wo sich die Wahrheit zurückgezogen hat, weil keiner sie mehr bezeugt, wird die Frage der Deutung zur Machtfrage. Wer hat die Deutungshoheit? Wer darf sagen, was geschrieben steht, wer darf ihm einen Titel geben? Denn was Pilatus auf das Schild aufschreiben ließ, nannte der Römer in seiner Sprache einen „Titel“. Er gab Jesus einen Titel: König der Juden.
Viele Jahrhunderte war die Wahrheit eine Frage der Deutungshoheit und also eine Frage der Macht. Wer die Macht hatte, bestimmte das Dogma. „Was ich geschrieben habe, habe ich geschrieben“, sagte Pilatus und der Papst sprach es nach. Was an Titeln einmal gefunden war und was als Dogma fixiert wurde, musste bleiben.
Dann eroberte die Wissenschaft die Deutungshoheit. Die Theologie glaubte, mit Mitteln der historischen Wissenschaft an die Wahrheit heranzukommen. Je älter ein Fundstück, desto ursprünglicher, je ursprünglicher, desto wahrer.
So weckte vor 50 Jahren die Erforschung der Hoheitstitel, die man für Jesus im Neuen Testament finden konnte - „König“, „Christus“, „Messias“, „Herr“, „Menschensohn“ - neue Hoffnung. Mit diesen Hoheitstiteln glaubte man, den Ursprüngen des christlichen Glaubens ganz nahe zu sein, denn die Hoheitstitel seien eine Art sehr früher Mikrobekenntnisse.
Doch auch das funktionierte nicht. Auf diese Weise ließ sich die Wahrheit auch nicht aus der Überlieferung herausdestillieren. Sie verflüchtigt sich in der Überlieferung, weder die Macht noch die Wissenschaft werden ihrer Herr. Weder Pilatus noch die Hohenpriester, weder die Christen noch die Juden, weder die Kirche noch Israel haben die Deutungshoheit über das Geschehen. Auch wissenschaftliche Expeditionen zu den Ursprüngen verirrten sich in den Weiten der Überlieferung. Denn nur die Überlieferung selbst kann die Überlieferung deuten.
Die Gemeinde singt:
EG 11,1: Wie soll ich dich empfangen
und wie begegn ich dir,
o aller Welt Verlangen,
o meiner Seelen Zier?
O Jesu, Jesu, setze
mir selbst die Fackel bei,
damit, was dich ergötze,
mir kund und wissend sei.
Klappe, die Vierte: Thron aus Psalmen
Die Soldaten aber, da sie Jesus gekreuzigt hatten, nahmen seine Kleider und machten vier Teile, für jeden Soldaten einen Teil, dazu auch den Rock. Der aber war ungenäht, von oben an gewebt in einem Stück. Da sprachen sie untereinander: Lasst uns den nicht zerteilen, sondern darum losen, wem er gehören soll. So sollte die Schrift erfüllt werden, die sagt (Psalm 22,19): »Sie haben meine Kleider unter sich geteilt und haben über mein Gewand das Los geworfen.« Das taten die Soldaten.
Endlich gewinnt die Überlieferung die Deutungshoheit, indem die Überlieferung an die Heiden den Anschluss an der Überlieferung Israels sucht. Was war, geht weiter. Das Geschehen thront auf Psalmen. „Du aber bist heilig, der du thronst über den Lobgesängen Israels“ (Ps 22,4) Der oben hängt, thront über den Lobgesängen Israels. Keiner singt hier Lob und doch hallt sein Klang im All, sein Echo schwingt zwischen den Zeilen dieser Geschichte.
Alles steht geschrieben im Drehbuch der Überlieferung Israels. Dort sind die Spielregeln für das heidnische Spiel um seine Kleider notiert, jedes Detail, jede Kostümfrage. Nicht aufgeteilt und zerrissen werden sollen seine Kleider, sondern verlost: „Sie teilen meiner Kleider unter sich, und werfen das Los um mein Gewand.“ (Ps 22,19). Alles steht geschrieben. „…dass ohne den Willen meines Vaters im Himmel kein Haar von meinem Haupt kann fallen, ja auch mir alles zu meiner Seligkeit dienen muss.“ (Heidelberger Katechismus, Frage 1)
Alles steht geschrieben. Gott hat das Drehbuch geschrieben. Alles zu unsrer Seligkeit.
Die Gemeinde singt:
EG 11,2: Dein Zion streut dir Palmen
und grüne Zweige hin,
und ich will dir in Psalmen
ermuntern meinen Sinn.
Mein Herze soll dir grünen
in stetem Lob und Preis
und deinem Namen dienen,
so gut es kann und weiß.
Klappe, die Fünfte: Wahlverwandtschaften
Es standen aber bei dem Kreuz Jesu seine Mutter und seiner Mutter Schwester, Maria, die Frau des Klopas, und Maria Magdalena. Als nun Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er lieb hatte, spricht er zu seiner Mutter: Frau, siehe, das ist dein Sohn! Danach spricht er zu dem Jünger: Siehe, das ist deine Mutter! Und von der Stunde an nahm sie der Jünger zu sich.
Wer ist das? Der Jünger, den er lieb hatte. Bist du es? Sollte ich es sein? Bleibe ich? Bis zum Ende? Halte ich es aus?
Dieser schreckliche Karfreitag! Diese furchtbare Geschichte! Wäre doch schon Ostern!
Warum muss ich mir das antun? Warum tut Gott mir das an? Warum mutet mir Gott das zu? Hätte Gott nicht auch die Welt so sehr lieben und seinen Sohn am Leben lassen können? Kann ich Gott denn nicht auch ohne die Überlieferung vom Karfreitag lieben?
Wirst du der Jünger sein, den er lieb hat? Werde ich es sein? Sind wir seine neue Familie? Sind wir die, die bleiben? Sind wir die Gemeinschaft der Heiligen bis zur Vollendung? Wie lange müssen wir ausharren, bis wir die Antwort auf all die Fragen kriegen?
Die Gemeinde singt:
EG 85,6: Ich will hier bei dir stehen,
verachte mich doch nicht;
von dir will ich nicht gehen,
wenn dir dein Herze bricht;
wenn dein Haupt wird erblassen
im letzten Todesstoß,
alsdann will ich dich fassen
in meinen Arm und Schoß.
Klappe, die Sechste: Es bleibt das Wort
Danach, als Jesus wusste, dass schon alles vollbracht war, spricht er, damit die Schrift erfüllt würde: Mich dürstet. Da stand ein Gefäß voll Essig. Sie aber füllten einen Schwamm mit Essig und legten ihn um einen Ysop und hielten ihm den an den Mund.
Wieder steht geschrieben, was geschieht. Wieder hält sich das Drehbuch an Israels Überlieferung. Wieder thront es auf Psalmen. „Gift gaben sie mir zur Speise und Essig zu trinken für meinen Durst“ (Ps 69,22)
Das Wort ward Fleisch. Das Fleisch hat Durst. Das Fleisch wird Gras. Das Gras verdorrt.
Was soll ich predigen?
Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, aber das Wort unseres Gottes bleibt ewiglich. Zion, du Freudenbotin, steig auf einen hohen Berg; … Sage …: Siehe, da ist euer Gott!“ (Jes 40,8f)
Das Wort ward Fleisch.
Das Fleisch ward Gras.
Das Gras verdorrt.
Es bleibt das Wort.
Die Gemeinde singt:
EG 223,1: Das Wort geht von dem Vater aus
und bleibt doch ewiglich zu Haus,
geht zu der Welten Abendzeit,
das Werk zu tun, das uns befreit.
Oder:
Ps 42,1 (EG ref., Genfer Psalter)
1. Wie der Hirsch bei schwülem Wetter
schmachtend nach der Quelle schreit,
also schreit zu dir, mein Retter,
meine Seel in Druck und Leid.
Ja, nach Gott nur dürstet mich;
Lebensquell, wo find ich dich?
O wann werd ich vor dir stehen
und dein herrlich Antlitz sehen?
Klappe, die Siebte: Sabbat
Da nun Jesus den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht. Und neigte das Haupt und verschied.
Ende. Er stirbt. Nicht in die Sinnlosigkeit fällt er, er steigt in die Vollendung.
Es ist vollbracht. Sein Leben, mein Leben, dein Leben. Was geschrieben steht, hat Wort gehalten. Auch mein Leben wird Wort halten. Auch deines. Denn es steht geschrieben. Das Leben und das Sterben und das Auferstehen. Seines, meines, deines, steht geschrieben in der Überlieferung. Wir werden Gott überliefert. Gott wird Wort halten.
Es ist vollbracht. Ehre sei Gott in der Höhe. Amen.
Die Gemeinde singt:
EG 97,3. Denn die Erde klagt uns
an bei Tag und Nacht.
Doch der Himmel sagt uns:
Alles ist vollbracht!
Kyrie eleison,
sieh, wohin wir gehn.
Ruf uns aus den Toten,
lass uns auferstehn.
6. Hart auf deiner Schulter
lag das Kreuz, o Herr,
ward zum Baum des Lebens,
ist von Früchten schwer.
Kyrie eleison,
sieh, wohin wir gehn.
Ruf uns aus den Toten,
lass uns auferstehn.
Oder:
EG 296 (aus Ps 121), 1. Ich heb mein Augen sehnlich auf
und seh die Berge hoch hinauf,
wann mir mein Gott vom Himmelsthron
mit seiner Hilf zustatten komm.
4. Der treue Hüter Israel’
bewahret dir dein Leib und Seel;
er schläft nicht, weder Tag noch Nacht,
wird auch nicht müde von der Wacht.
8. Der Herr dein’ Ausgang stets bewahr,
sind Weg und Steg auch voll Gefahr,
bring dich nach Haus in seim Geleit
von nun an bis in Ewigkeit.