I Wenn Käthe so aus dem Fenster schaut, macht sie sich Gedanken. Über das Leben und darüber, wie es so zugeht in der Welt. Käthe schaut oft aus dem Fenster. Schon seit einigen Jahren. Sie sagt, aus dem Fenster schauen und nachdenken sei ihr Beruf. Sie sei Lebensphilosophin, Glückssucherin, Menschenbeobachterin. Käthe findet, dass sei eine der wichtigsten Arbeiten, die man tun kann. Und, wenn sie ehrlich ist: Viel mehr kann sie mit ihren über neunzig auch nicht mehr. Aber beobachten kann sie, und philosophieren, und nach der Weisheit suchen. Und das tut Käthe. Mit voller Hingabe. Mit ihren noch guten Augen, dem scharfen Verstand, und natürlich der bunten Häkeldecke über den Beinen.
Manchmal, wenn Käthe so dasitzt und schaut, dann seufzt sie. Etwa, wenn der Herr Schulz von Gegenüber samstags sein teures Auto wäscht und auf Hochglanz poliert. „Der lügt und betrügt doch, dass sich die Balken biegen“, denkt Käthe dann und ärgert sich, dass es diesem Schmierfinken so gut geht. Oder wenn Käthe die Frau Fischer aus dem 3. Stock sieht, seufzt sie erst recht: „Ach, das ist so eine Herzensgute, aber immer Pech mit den Männern…“
II Vielleicht seufzen Sie auch manchmal mit Käthe, wenn Sie die Welt betrachten. Es ist ein Seufzen so alt wie die Menschheit. Ein Seufzen, das sich auch in der Bibel findet. Etwa im Buch des Predigers, Kapitel 7: 15 Dies alles hab ich gesehen in den Tagen meines eitlen Lebens: Da ist ein Gerechter, der geht zugrunde in seiner Gerechtigkeit, und da ist ein Gottloser, der lebt lange in seiner Bosheit.
Das laute Seufzen eines Mannes, der uns heute als „der Prediger“ bekannt ist. Ein Mann, der einiges mit Käthe gemeinsam hat: Er beobachtet die Menschen - als Glückssucher, Lebensphilosoph gewissermaßen. Als er ein kleines Kind war, hat man ihm wahrscheinlich Sätze beigebracht wie: „Wenn du brav und anständig bist, wird es dir gut gehen. Und wenn du falsch und unanständig bist, wird es dir schlecht gehen.“ Aber so war es in seinem Leben nicht gekommen. Wenn er sich so umschaute, waren da welche, die Falsches taten und gut lebten wie Käthes Herr Schulz. Und da waren andere, die Gutes taten, aber schlecht lebten wie Käthes Frau Fischer. Er fragte sich: Sollte es nicht anders sein? Warum sorgt Gott nicht für mehr Gerechtigkeit, so dass es den Guten gut und den Schlechten schlecht geht?
III Einmal saß Käthe mit ihrer Enkeltochter Leni am Fenster. Gemeinsam haben sie Menschen beobachtet und nach dem Glück gesucht. Sie haben über das Leben philosophiert und Leni hat gefragt: „Warum sorgt Gott nicht für mehr Gerechtigkeit?“ Käthe hat lange aus dem Fenster in die Ferne geblickt bevor sie antwortete. Sie hat an all die Frau Fischers gedacht, denen sie von Herzen ein gutes, rundes Leben wünschen würde. Sie hat an all die Herr Schulzes gedacht, denen sie das Wohlergehen nicht gönnt. Dann hat sie langsam und bedächtig, aber mit fester Stimme gesagt: „Damit wir den lieben Gott fürchten.“ Und während sie ihre Häkeldecke zurecht zupfte, und durch die Decke hindurch auf all das Leben blickte, das hinter ihr lag, hat sie weitergeredet: „Weißt du, so schwer’s ist: Für eins bin ich dem lieben Gott dankbar: Dass er mich nie in die Versuchung geführt hat zu meinen, ich könnte mich selbst erlösen. Sondern dass er mich gelehrt hat, ihm zu vertrauen. Und ich glaub, das geht nur, wenn’s den Guten auch mal schlecht geht.“ Dann hat Käthe aufgeblickt, und Leni direkt ins Gesicht gefragt: „Kannst du mir sagen, wer wirklich gut ist? Und was Glück bedeutet?“
IV Auch der Prediger vor tausenden Jahren hat sich gefragt, was es bedeutet gut und glücklich zu sein. Er hat die Menschen beobachtet und gesehen, wie sie sich abmühen: Wie sie etwa besonders streng und moralisch leben, oder wie sie andere über’s Ohr hauen. Und er hat gesehen, wie all ihre Rechnungen ein ums andere Mal nicht aufgehen. Dann hat er sich zurückgelehnt und aus all dem für sich einen Schluss gezogen: Der Weg liegt im Maß halten. Übertriebener Ehrgeiz führt nicht in die richtige Richtung. Die, die besonders klug sein wollen, verbittern. Die, die besonders perfekt leben wollen, werden unmenschlich. Aber die, die sich an keinerlei Regeln halten, werden auch irgendwann ihre Rechnung bekommen – nur oft nicht sofort. Denn mit solchen, denen man nicht vertrauen kann, will niemand länger was zu tun haben.
Als der Prediger das erkannte, seufzte er noch einmal tief, und schrieb einen doppelten Ratschlag auf: Sei nicht allzu gerecht und nicht allzu weise, damit du dich nicht zugrunde richtest. Sei nicht allzu gottlos und sei kein Tor, damit du nicht stirbst vor deiner Zeit. Es ist gut, wenn du dich an das eine hältst und auch jenes nicht aus der Hand lässt; denn wer Gott fürchtet, der entgeht dem allen.
V Käthe hat nach Lenis Besuch weiter durch das Fenster geschaut, Herrn Schulz und Frau Fischer beobachtet, und über die Gerechtigkeit nachgedacht. Sie hat an ihrer bunten Häkeldecke gezupft und durch sie hindurch auf das Leben hinter ihr geblickt. Und über die Zeit schlich sich ein Gedanke in ihren Kopf: „Dass es den Guten nicht immer gut geht, das ist Gottes Gnade.“ Mal um mal wischte Käthe den merkwürdigen Gedanken beiseite. Doch er verstummte nicht. Und irgendwann hatte Käthe ihn verstanden: „Du hast recht.“, sagte sie da zu ihrem eigenen Gedanken, und „ich bin froh drum. Denn sonst müsste ich ja, wenn es mir schlecht geht, Angst haben, ich hätte mir das selbst zuzuschreiben. Ich müsste fürchten meine Krankheiten seien Strafen Gottes. Aber so darf ich immer wissen, dass Gott in den schweren Zeiten an meiner Seite ist.“ Dann hat Käthe noch einmal durch ihre Decke auf die Vergangenheit geblickt, tief Luft geholt und zu sich selbst gesagt: „Ja, es ist Gnade, dass es den Guten nicht immer gut geht. Denn es bedeutet, dass ich Gott vertrauen darf. Dass ich wissen darf, dass er gerade im Schweren bei mir ist.“ In diesem Moment hat Käthe aufgeblickt. Sie hat durch das Fenster Frau Fischer gesehen und ihr zugeflüstert: „Ich hoffe, dass du das auch weißt“.