Liebe Gemeinde!
„Lasset uns singen, dem Schöpfer bringen Güter und Gaben, was wir nur haben, alles sei Gotte zum Opfer gesetzt.“ Genau das haben Kain und Abel, beide, getan. Aber was dann passierte – nun, wir möchten es am liebsten gleich beiseitelegen, was schert uns dieser Vorfall aus grauer Vorzeit. Aber halt: Kain und Abel, das ist ja nicht eine singuläre Mordsgeschichte aus längst vergangener Zeit, sondern: Wir haben es mit einem Menschheitstext von Urmenschlichem zu tun: Kain und Abel schlummern bis zum heutigen Tage als gefährliche Möglichkeit in unser aller Brust. Wir sind also mit gemeint bei allem, was da erzählt wird.
Erst einmal: An der fehlenden Nestwärme liegt es nicht unbedingt, wenn einer den Weg Kains geht. Kain gehört nicht zu den unerwünschten Kindern. Kain ist, wie es in der biblischen Zeit selbstverständlich war, ein herzlich willkommen geheißener Knabe. Eva, die Mutter, habe ihm – im Rahmen eines kleinen Festakts, darf man sich vorstellen – mit einem Jauchzen seinen Namen gegeben. Kain, ruft Eva aus, zu Deutsch „Schmied“ – „Schmied“ soll ihr Erstgeborener heißen, soll also ein starker Mann werden, fähig, Pläne zu „schmieden“ und sozusagen seines Glückes Schmied zu werden. Abel dagegen bedeutet „Hauch“, „Nichtigkeit“, „ein Lüftchen“. Ahnen die Eltern, dass er der Schwächere sein wird, ein Sorgenkind, um das man sich kümmern muss, leicht wegzublasen?
In der uralten Zeit, in der die zeitlos gültige Geschichte spielt, gab es für die Menschen im Vorderen Orient zwei Berufe. Man wurde Schaf- und Ziegenhirt und lebte von Milch, Käse, Fleisch und Wolle, und alles hing davon ab, dass man fürs Vieh immer wieder Weideplätze fand zum Abgrasen. Oder man wurde ein ortsansässiger Bauer, bearbeitete den Ackerboden und lebte von den Früchten des Landes. Arbeitsteilung und Austausch der Erträge gibt es in der Menschheit seit Urzeiten, so sieht es die Bibel. Ob die Arbeitsteilung bei allen Chancen, die in ihr liegen, auch dazu beiträgt, dass Menschen sich einander fremd werden, weil sie in verschiedenen Milieus leben? Wir kennen doch solche Gedanken: „Zwölf Wochen Urlaub hat die Lehrerin – die möchte ich mal haben!“ Und wir sehen nur diese eine Seite. Die Lokführer – haben die’s gut. Tagaus, tagein, durch die Technik entlastet, durch schöne Landschaften rauschen – und dann erlauben sie sich’s noch, mit einem Streik den ganzen Verkehr lahmzulegen. Und wir sehen nur diese eine Seite. Ob Sozialneid solcher Art eine Rolle spielt für das, was Kain nachher tun wird – wer weiß.
Dunkle Wolken jedenfalls ziehen auf, als sich Kain ungeliebt und zurückgesetzt fühlt. Beide wollen sie dasselbe, wollen, wozu die Opfergabe da ist: Gott danke sagen und Ihm eine Freude machen; und sie hoffen, dass er dann seinerseits auch ihnen wieder freundlich gesinnt ist. Das ist der Kreislauf des Segens. Und nun unterbricht nicht Kain diesen, sondern Gott! Verstörend, rätselhaft: Abels Gabe nimmt er an, die von Kain würdigt er keines Blickes. Das erkennt Kain übrigens nicht daran, dass bei seiner Opfergabe der Rauch nicht aufsteigt, sondern er merkt das in seiner ganzen Existenz: daran, dass die mühselige Arbeit auf dem Acker heuer erfolglos bleibt: eine totale Missernte gab’s nach ausgebliebenem Regen. Kaum reicht’s für den Lebensunterhalt, während Abels Herde in diesem Jahr besonders gut warf. Dass es dem Schwächlichen jetzt besser geht als dem, der seines Glückes Schmied sein wollte – unfassbar für einen Kain. Ein beängstigendes Gefühl beschleicht Kain: Mein Leben misslingt. Nicht denkt er daran, dass sich im nächsten Jahr die Verhältnisse schon wieder ganz anders darstellen können. Vor Augen hat er nur immer seinen jetzt reichen Bruder. Dessen Leben glückt. Der glänzt vor Freude. Es ist unbegreiflich und fast nicht auszuhalten.
An dieser dunklen Stelle versuchen fast alle Ausleger, Gott zu erklären und zu entlasten. Kain habe wohl nicht richtig oder er habe in niedriger Gesinnung geopfert. Er wäre eben von Anfang an der Böse (Sagt im Neuen Testament sogar ein Apostel!).
Auf nichts aber von alledem lenkt die ursprüngliche Erzählung vorläufig unser Augenmerk. Sie sagt lapidar nur: So ist es, so geschieht es auf dieser Welt, so ungleich verteilen sich Glück und Gelingen auf die Menschenkinder. Das ist die Wirklichkeit von Uranfang an.
Und diese Botschaft stimmt mit der Lebenserfahrung überein. So fragt doch mancher: Warum konzentriert sich alles Pech auf mich? Ich habe einen Menschen wirklich geliebt – er ist mir versagt geblieben. Es gab kein Geld mehr, dass ich den Beruf meines Lebens hätte lernen können – für meinen Bruder war es da. Warum musste ich mein ganzes Leben immer nur Menschen hergeben? Der Nachbar, wenn ich sein Geld hätte und seine Gesundheit – was würde ich daraus machen! Sie hören richtig: Immer ist das Ich betont in solchen Sätzen. Aber es ist die Ichbezogenheit des vielleicht wirklich zu kurz gekommenen Menschen. Am meisten greift „mich“ nun allerdings nicht der materielle Besitz an, den der andere mehr hat – mehr noch nagt an „mir“ etwas Elementareres: das, was der andere in sich selber ist und aus sich selber ist, was er nicht wie die Habe verlieren kann: sein Sein; seine von innen kommende Schönheit, seine Intelligenz, sein Ruhen in sich selbst, seine Festigkeit, seine Liebesfähigkeit, sein Gottvertrauen. Es ist wie eine Bedrohung, eine Verurteilung meines Lebens.
Ich denke, wenn wir nur einen Teil dieser Empfindungen von uns selber kennen, dann sind wir jetzt dagegen gefeit, einen Kain hier schon zu verdammen. Wer einem Kain moralisch kommt, hat’s wohl nie erleiden müssen – unsere Erzählung beschreibt‘ s mit einem tiefen-psychologischen Blick, bei wörtlicher Übersetzung des hebräischen Textes: „Und es wurde Kain sehr heiß vor Wut und sein Angesicht fiel herunter.“ Das macht er nicht, das überfällt ihn und überwältigt ihn. Psychosomatisch. Über die Seele erfasst es den Körper. Bald brennt der Neid und macht den Körper heiß und aufs höchste geladen und will sich entladen, will die Gerechtigkeit mit Gewalt wiederherstellen. Bald lässt tiefe Depression das Angesicht niedergeschlagen sein. Das ist ein Ausdruck für Liebesverlust: mit dem niedergeschlagenen Angesicht ist der Kontakt zu den Mitmenschen abgebrochen. Denn für ein sich austauschendes, liebe-volles Leben braucht es das erhobene, offene Angesicht: in Augen sehen, die einen liebevoll anblicken, eine beruhigende Stimme hören, einen Menschen riechen können – alles ist versammelt im Angesicht; wir leben von Angesicht zu Angesicht. Und das ewige Leben soll bekanntlich darin bestehen, dass wir Gott von Angesicht zu Angesicht schauen.
Kains Verbrechen beginnt erst da, wo er sein Leiden an Gott und der ungerechten Situation eigenmächtig und mit Gewalt beenden will. Statt seine maßlose Enttäuschung und Wut „sich von der Seele zu schreien“ – vielleicht hätte solches „Dampf ablassen“ ja schon entspannt – aber kein noch so quälendes Leiden berechtigt dazu, sich am Leib eines Menschen zu vergreifen. Jedes Menschenleben ist Geschöpf Gottes und damit unter seinen „Naturschutz“ gestellt: es ist heilig. Kain aber plant die Tötung; sehr bewusst, bei vollem Verstand, plant er das Verbrechen so, dass es nachher unentdeckt bleibt; darum lockt er Abel aufs Feld hinaus weitab von jeder Menschensiedlung. Mag sein, dass es noch einen kurzen Wortwechsel zwischen den beiden gab. Kain: „Hau ab; das ist mein Ackerboden.“ Abel: „Gut, und du – zieh deine Kleider aus. Denn die Wolle stammt von meinen Schafen!“ Und dann erschlägt Kain seinen Bruder – dort, wo das Opfer keine Chance hat, mit seinem „Hilfe!“ jemanden zu erreichen, erschlägt er ihn. (Nachher wird sich freilich herausstellen, dass es das perfekte Verbrechen nicht gibt; In der Symbolsprache der Erzählung: Abels Blut tritt für den stumm gemachten Mund des Getöteten ein, und seinen Schrei hört Gott. Und Gott ahndet das Verbrechen und sei es „nur“ durch die Ruhelosigkeit einer gehetzten Existenz, welcher der unentdeckt gebliebene Mörder zeitlebens nicht entkommt.)
Die Kainsgeschichte – nicht so müssen wir es uns merken, dass der Erste, der seinen Bruder tötete, ein gewisser Kain und Ackerbauer in einem Land des Nahen Ostens war. Sondern so: Wer immer einem Menschen das Leben nimmt oder es schwer verletzt, aus welchen Gründen auch immer – denn Kain hatte „Beweggründe“ – , der begeht Mord an einem Bruder, an einer Schwester. Ist doch die Menschheit nach Gottes Willen seine Familie.
Jesus hat das ausdrücklich auf die seelischen Verwundungen ausgedehnt und sucht damit sozusagen den Anfängen einer Gewaltgeschichte zu wehren: Brudermord begeht, wer das gemeine Wort „raka“, es ist so böse, dass ich es auf Deutsch in einer Kirche nicht ausspreche – Brudermord begeht, wer das kränkende oder gar tötende Wort auf den Nächsten schießt. Und Jesus sagt: Was man einem seiner geringsten Brüder oder Schwestern antäte, das täte man ihm an. Jesus hat sich aber auch an „Abel“ gewandt. Auch er habe manchmal die Chance, etwas zu tun für einen besseren Ausgang der Geschichte. Wenn ein „Abel“ spürt, dass der Bruder etwas gegen ihn hat, dass etwas zwischen ihnen ist, dann soll er zu ihm hin, notfalls sogar mitten auf dem Weg zum Gotteshaus umdrehen, die „Opfergabe“ liegen lassen und rasch hin zum Bruder! (Mt 5,21-24)
Nun ist es gerade diese Neuauflage der Kain-Abel-Geschichte durch Jesus, die uns alle herausfordert: Könnte man sie nicht besser zu Ende schreiben? Schon der alte Erzähler ließ Gott an einem kritischen Punkt Kain folgendermaßen fürsorglich, fast seelsorgerlich ins Gewissen sprechen: „Ist es nicht so? Wenn du dich konsequent, sozusagen vorwärts blickend, auf das Gute ausrichtest und jedenfalls stur bei der Ehrfurcht vor dem Leben als dem Unantastbaren bleibst, dann kannst du bald wieder frei aufschauen.“ Dann wird ein anderer Tag kommen, dann wird das Vergangene allmählich seine Macht verlieren und du wirst nicht „bitter-böse“ werden müssen bis ins Mark hinein.
Fragt jetzt einer: Aber wie kann ich bleiben bei der Ehrfurcht vor dem Leben dessen, der mich so arg gekränkt hat? Wie die Zurücksetzung und Demütigung aushalten? Da finden wir eine Antwort bei Paulus, dem Apostel Jesu Christi: „Ich ins Elend meiner aggressiven Wut- und Hassgefühle eingesperrter Mensch! Wer wird mich erlösen?“, hat auch er geklagt und gefragt. Und eine beglückende Antwort bekommen, für die er nicht genug danken kann: „Dank sei Gott durch Jesus Christus, unseren Herrn!“ Im folgenden Kapitel seines Briefs an die Römer beschreibt er die Erlösung genauer als eine einzigartige Liebeserfahrung: „Der auch seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben – wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken? ... Wer will uns scheiden von der Liebe Christi ... , von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.“ (Röm 8,32.35.39) Die in der „Gabe“ Jesus ergangene unüberbietbare Liebeserklärung Gottes an den Menschen befreit ‚Kain‘ von seinen Eifersuchtsdämonien und quälenden Minderwertigkeitsgefühlen. Sie befähigt ihn, in Erwiderung der Liebe buchstäblich das Angesicht zu heben und ‚liebe-voll‘ (wörtlich!) auf seine Schwestern und Brüder zu schauen und Gutes an ihnen zu tun.
Amen.