1. Die Tür bleibt leicht geöffnet
Jetzt steht fest, wie weit man sich in den Ferien von dem alltäglichen Leben entfernen kann. Die langen Ferienwochen öffneten ein Tor, das führte zu einer Art Paradies auf Zeit. Die ursprüngliche, lateinische Bedeutung des Wortes Ferien sagt: Ferien, das sind die Ruhetage, die den Menschen ausreichend Zeit gewähren, ihre Festtage zu begehen. Ferien eröffnen die Gelegenheit, sich seiner eigentlichen Bestimmung zu besinnen. Sommerferien, am Anfang klingt das noch endlos und die Kinder tummeln sich sorglos im Freibad zwischen Sprungbrett und Rutsche. Jetzt kehrt der Alltag schlagartig zurück und das Attentat in Solingen entzieht dem Sommer seine Leichtigkeit.
„Sorget nicht“, sagt Jesus. Das klingt wie ein Appell, der heute die Sommerzeit und Ferienstimmung noch bewahren soll. Und Jesus führt seine Jüngerinnen und Jünger zum Spiel der Vögel, macht mit uns noch einmal Ferien an den Rändern der reifen Felder, bei den blühenden Lilien. Es wirkt, als wollte er die Bilder des Alltags vertreiben, einen ursprünglichen, sorglosen Zustand zeigen, der sich unwillkürlich einprägt; ich sehe Spatzen, Störche und Schmetterlinge, die sich auf den Lilien niederlassen. Ein fetter Tautropfen glitzert, prachtvolle Blüten übertrumpfen selbst die feinen Gewänder, die vor den Festspielbühnen dieses Sommers in der ersten Reihe sitzen. Jesus öffnet mit dem Evangelium einen Zugang zum Garten Eden, gibt Einblick in echtes Menschsein. Mit dem Evangelium halte ich heute inne, mit Respekt vor der Trauer, in der Angehörige um geliebte Menschen weinen und wir alle nach einer Orientierung suchen. Wir brauchen Zeit und keine vorschnellen Antworten.
Jesus sagt: „Sorget nicht für euer Leben!“ Das klingt, als würde Jesus eine trotzige Parole ausgeben, die durch krisenhafte Zeiten hindurchhelfen soll. Dann fordert er: „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen.“ Ich aber denke an die Opfer des Attentats und will mitten in all der Trauer und Empörung sagen: Das Paradies hat heute geschlossen. Aber Jesus hält die Tür mit dem Evangelium offen, zeigt heute sogar uns, den sorgenvollen Menschen, Vögel, Blumen und Sommerpracht, erinnert an Gott und dessen Gerechtigkeit.
2. Strategien der Bergpredigt – gegen das Sorgen
2.1. Oma zeigt, wie es geht
Wenn ich „Sorget nicht für euer Leben“ höre, tritt mir – gerade jetzt im September – meine Oma vor Augen. Das ist merkwürdig, denn der Rücken unserer Großmutter war – so sagte es unsere Mutter – unter den vielen Sorgen, die sie tragen musste, gebeugt. Oma sprach selten darüber, wir wussten nur: Als kleines Kind hatte sie im Winter gehungert und als sie selbst Mutter war, zerrten ihre hungrigen Kinder frierend an ihrer Schürze. Oma wusste, welche Schäden Krieg, Angst, Sterben, Hunger und tägliche Sorgen in einem Menschen anrichten. Ausgerechnet dann, wenn Jesus sagt: „Sorget nicht!“, tritt mir diese Frau vor Augen. Sie beugte sich nicht, sondern zeigte uns Kindern eine Strategie, mit der man Sorgen bewältigen kann. Ich sehe, wenn ich an sie denke, durch einen kleinen Spalt durch die Tür ins Paradies. Da steht sie vor ihrem altmodischen Herd, der Dampf des Wassers steigt über ihrem Kopftuch auf, sie kocht schon seit Wochen Tag für Tag die Früchte des Sommers ein, um dann die Gläser in Reih und Glied aufzustellen. Motto: Keine Endlossorgenschleifen drehen, nicht klagen, sondern Vorsorge treffen. Oma ließ ihre sorgenvollen Gedanken einfach schrumpfen.
2.2. Ferienatmosphäre bleibt…
In all diesem Erschrecken und der Trauer über den Terror in Solingen spricht Jesus eindringlich weiter: „Seht die Vögel unter dem Himmel an: Seid ihr denn nicht viel kostbarer als sie?“ Während viele die Not fest im Blick behalten und fragen: „Wie geht es weiter?“ oder Parolen ausgeben, die niemandem helfen, führt Jesus seinen Gedanken Wort für Wort zum Ziel: „Euer himmlischer Vater weiß, dass ihr all dessen bedürft.“ Es ist, als sollte dieser Sonntag die Gedanken umlenken, wegführen von der Diskussion um Messerklingen, Abschiebung und geschlossene Grenzen. Nach Gottes Reich zu trachten heißt, sich den Sorgenszenarien nicht schutzlos hinzugeben, sondern – wie meine Oma es tat – eine Strategie zu finden, mit der man die Sorgen und den Aufruhr, den sie in der Seele anzetteln, begrenzt. Sorgen machten Oma nicht passiv, Oma war stolz auf all die guten Früchte, die sie in den Keller trug. Und dann unternimmt Jesus mit uns so eine Art Ferien und bringt eine leichte, fast unbedarfte Stimmung in den Blick: „Wenn nun Gott das Gras auf dem Feld so kleidet, das doch heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird: Sollte er das nicht viel mehr für euch tun, ihr Kleingläubigen?“
2.3. …mit dem Duft der Äpfel
Wir Kinder freuten uns auf Oma. Wenn wir aus den Ferien zurückkamen, stand sie schon in der Küche vor dem Herd und streckte ihren rund gewordenen Rücken gerade. Wir Kinder zerschnitten mit ihr das Obst und sie kochte aus den harten Quitten mit dem herben Aroma süßes Gelee. Der Duft von Äpfeln und Birnen mischte sich unter und zog durch die ganze Wohnung. In kochendem Wasser standen die Gläser, deren Deckel sie sorgfältig verklammert hatte. Oben aus dem großen Topfdeckel ragte ein langes Thermometer, das sie nicht aus den Augen ließ. So ist es, wenn Jesus blühende Lilien zeigt und den Flug der Vögel unter dem blauen Himmel.
3. Vorsorge überwältigt Sorgen
„Kinder, das wird reichen!“, sagte Oma irgendwann im Herbst, ihre Stimme war voller Optimismus und was dann kam, war wieder ein Ferientag. Sie öffnete ihren Verschlag im Keller und führte uns feierlich an den Regalen entlang, zeigte uns die Gläser und wir lasen die Aufschriften: Bohnen, Karotten, Eintopf, Marmelade. Zwiebeln hingen an der Wand, erste Kartoffeln lagen in der Kiste und manchmal hing ein geräucherter Schinken von der Decke. Wir atmeten die erdige Luft des Kellers, staunten und waren beruhigt. „Sorget nicht“, war – ohne dass sie etwas sagte – die Botschaft, die wir mitnahmen.
Heute weiß ich: Wenn unsere Oma immer nur auf ihre Sorgen gestarrt und über ihr schweres Leben geseufzt hätte, wäre niemandem geholfen gewesen. Sich auf dem hohen Stapel alles Widrigen, das sich vor einem auftut, auszuruhen, ist keine Option. Als ich erwachsener wurde, fragte ich sie direkt nach ihrem Leben früher, da sagte sie, ihre Sorgen seien nie „der Rede wert“ gewesen. Aber ihre Vorsorge, die fand ich der Rede wert. Jetzt erinnere ich diese Vorratswirtschaft und denke: Das gilt für vieles im Leben: Wenn der Zusammenhalt bröselt, der Konsens zwischen uns schwach wird, braucht es einen Gang zu den Vorräten, die uns einen. Und ich habe die Demonstrationen im Januar vor Augen. Wir sind für Toleranz auf die Straße gegangen, ich habe die bunten Fahnen vor Augen und den Ruf nach Toleranz in einer offenen Gesellschaft im Ohr. Das tat vielen Menschen gut. Und mir steht heute eine Frau vor Augen, die einen Geldschein in den Klingelbeutel legt: „Für die Flüchtlinge im Mittelmeer“, denn „jemand muss doch helfen.“ Und: „Die können ja nichts dafür.“
4. Mit offenen Augen und Ohren aus dem Vollen schöpfen
Wer Sorglosigkeit einfach nur verordnen will, scheitert. Darum zeigt Jesus uns Bilder, volle Regale, eine gute Ernte, duftende Rosen und dunkelblaue Lilien, die Nester der Vögel und Sicherheit und Ruhe, Menschen, die mit bunten Fahnen und einer Idee von Toleranz nach Zusammenhalt suchen, er macht Miniferien und die Gedanken lösen sich von den Sorgenszenarien des Herbstes.
Die Tür zu den Ferien schließt sich jetzt, hoffentlich langsam, denn die Bilder bleiben. All die Zeichen, die jetzt auf einen heißen Herbst deuten, auch die Wahlergebnisse der letzten Woche verlangen einen langen Atem. Jesus zeigt noch immer auf die Vögel unter dem Himmel und die Lilien auf dem Feld, ich sehe meine Oma und ihre aufrechte Haltung am Herd. Jesus sorgt für einen Optimismus, der die sorgenschweren und kreisenden Gedanken durchbricht und all die mühevollen Entscheidungen, die jetzt getroffen werden müssen, entspannt. Trotz allem: Die Sorgen sind auf dem absteigenden Ast.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Eine klassische Gemeinde an dem Urlaubsort, in dem ich lebe, und Hallig Hooge, auf der ich die Predigt halten werde. Jetzt sind die älteren Gäste angekommen und die jungen Eltern mit den ganz kleinen Kindern, die – heute jungen – Großeltern. Und: Die Einheimischen kommen zurück und in wenigen Tagen beginnt der Alltag.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die Wahlen in drei Bundesländern, in deren Wahlkämpfen mit den Sorgen der Menschen billiger Wahlkampf gemacht wird. Und das Attentat von Solingen. Das Szenario, das Jesus mit dem Wort „Sorge“ aufruft, zielt auf Jesus, der gegen diese Art der Sorge Vorsorge trifft.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Die Vorstellung, dass Jesus die Ist-Situation, nicht nur durch das gesprochene Wort, neu qualifiziert und sein Wort mit Bildern anreichert, macht die Predigtvorbereitung etwas leichter, denn es ist der Sprechakt, in dem ich erkenne, wie er das Wort ins Bild umsetzt. Und: Das Wort Sorge wird häufig mit dem Gefühl der Ohnmacht verbunden. Das ist gemütlich für die, die mit ihren und fremden Sorgen Politik machen. Im Evangelium aber geht es nicht um ohnmächtige Hingabe, sondern um Jesu leidenschaftliche Zuwendung.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Mit großer Sorgfalt hat mein Coach der Predigt eine Gliederung verpasst, die mich unterstützt, die eigene Gliederung sichtbar zu machen. Der Coach fokussierte die Vorbereitungen und lenkte von Nebenthemen ab. Und ein wichtiger Hinweis des Coachs: Hier spreche ich von meiner Großmutter. Geschichten von Omas und aus der Familie aber bergen ein Risiko: Omas, Kinder, Enkel dürfen nicht häufig eingesetzt werden, dann schalten die Leute gelangweilt ab und denken: „Ach wieder diese Oma“. Es ist m.E. legitim, die Oma auf eine andere Person umzuschreiben. Oma, das kann eine Nachbarin sein, ein beherzter Mann, der die Früchte nicht vergammeln lassen will, oder – ältere Kolleg:innen erinnern sich – es gab da mal ein Gemeindeglied, an das sich viele noch erinnern, die stand in ihrer Küche. Reizvoll wäre es auch, hier einen der vielen jungen Menschen einzuführen, der sich sorgfältig um Lebensmittelreste kümmert und aus den Containern rettet, was schon verloren gegeben ist, die Früchte, die auf Obstwiesen liegen bleiben, sammelt und heute wieder unverdrossen vor dem „Wecktopf“ steht.