Kippschalter der Hoffnung - Predigt zu Römer 8,18-25 von Wolfgang Vögele
8,18-25

„Denn ich bin überzeugt, dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll. Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet darauf, dass die Kinder Gottes offenbar werden. Die Schöpfung ist ja unterworfen der Vergänglichkeit – ohne ihren Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat -, doch auf Hoffnung; denn auch die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt und sich ängstet. Nicht allein aber sie, sondern auch wir selbst, die wir den Geist als Erstlingsgabe haben, seufzen in uns selbst und sehnen uns nach der Kindschaft, der Erlösung unseres Leibes. Denn wir sind zwar gerettet, doch auf Hoffnung; denn wie kann man auf das hoffen, was man sieht? Wenn wir aber auf das hoffen, was wir nicht sehen, so warten wir darauf in Geduld.“ (Röm 8,18-25)

Der Tag könnte schiefgehen. Jeder Frühaufsteher, der sich um halb sieben den Schlaf aus den Augen reibt, verschwendet keinen einzigen Gedanken darauf, wie viel Vertrauen er den Tag über benötigen wird. Siebtklässler, Kindergärtnerinnen, Bankdirektoren, Hausfrauen – alle verlassen sich darauf, dass Strom aus der Steckdose fließt, dass die Tageszeitung um Sechs im Briefkasten steckt und dass die Linie Drei pünktlich abfährt.
Vertrauen ist die Zuversicht, dass die Dusche warmes Wasser liefert, dass der Motor ohne Stottern anspringt und die Fahrpläne eingehalten werden. Alles muss funktionieren, damit die Rädchen ineinander greifen können. In der Routine des Alltags denkt niemand an Pannen, Aus- und Unfälle, die alles durcheinanderbringen – oder zum Stillstand.

Dann sticht das Erschrecken umso tiefer: Straßenbahnen können plötzlich nicht fahren, weil die Schienen vereist sind – Verspätungen, Ärger am Arbeitsplatz. Der Müll wird plötzlich nicht mehr abgeholt, weil die Müllabfuhr streikt: Auf den Straßen türmen sich stinkende blaue Säcke. Noch schlimmer: Eine Trafostation brennt ab, das Stromnetz im Stadtteil bricht zusammen, es wird dunkel in Wohn- und Badezimmern. Keine Heizung, kein Radio, Fernsehen, Internet.

Kleinigkeiten können plötzlich die Selbstverständlichkeiten des Alltags unterbrechen. Stress kommt auf, wenn ich plötzlich nicht mehr nutzen kann, was mir über Jahre zur Routine geworden ist.

Jeder Mensch ist abhängig von technischen, natürlichen und sozialen Prozessen, von denen er oft nichts weiß und meistens nichts versteht. Den Führerschein besitzen viele, den Keilriemen können die wenigsten wechseln. Viele Menschen ignorieren einfach, dass um sie herum ein riesiges Gebäude von Selbstverständlichkeiten gebaut ist, auf die sie angewiesen sind. Viele wollen diese Abhängigkeit nicht sehen und flüchten sich in einen vermeintlich gesunden Optimismus: Das Leben ist das Selbstverständliche. Kreisläufe, Nutzungs- und Nahrungsketten laufen wie von selbst ineinander. Ich muss mich nicht kümmern. Betriebsstörungen bilden für den Optimisten die unterschätzte Ausnahme.

Und wer den Blick von den sozialen und technischen Hilfsgebäuden auf Wetter, Natur oder gar auf die gesamte Schöpfung lenkt, der merkt: Unterbrechung, Zerstörung, Leere, Schweigen, Tod – das ist das Normale. Das zerbrechliche Leben ist die bewunderns- und staunenswerte Ausnahme im Chaos. Der funktionierende Alltag ist in Wahrheit ein Wunder – genau wie die Tatsache des Lebens auf der Erde.

Größe und Unermesslichkeit des Kosmos kann sich niemand so richtig vorstellen und schon gar nicht beschreiben. Nach wissenschaftlicher Erkenntnis ist Leben von Tieren und Menschen nur entstanden auf diesem einen kleinen Planeten namens Erde, auf einer abgelegenen kleineren Galaxie namens Milchstraße. Überall sonst herrschen Chaos, Leere, Unordnung und Zufall. Dies ist ein kränkender Gedanke, den wir aushalten müssen.

Natur beruht auf Zerstören und Töten. Großes Tier frisst kleines, schwaches Tier – immer, ohne Gnade. Das Gewitter bricht über Erdbeerplantagen und Weizenfelder herein und der Hagel zerstört die Trauben im Weinberg – die Arbeit eines ganzen Jahres. Nach dem Gewitter verwandeln sich kleine Bäche in reißende Ströme, überfluten Keller und unterspülen Brückenpfeiler. Der Tsunami fegt am Küstenstreifen alles weg, was auf dem Weg liegt und in der gigantischen Welle ertrinken alle – egal ob Touristen oder Küstenbewohner, Vieh oder Fahrradfahrer.

Viele Naturkatastrophen erschrecken so sehr, weil Hagel oder Schlammlawinen sinnlos und gleichgültig alles zerstören, was sich ihnen in den Weg stellt. Viele Menschen stellen die Frage nach dem Warum. Sie leiden unter diesem Mangel an Gerechtigkeit. Sie versuchen im Nachhinein, sich eine eigene Gerechtigkeit zu denken: „Warum hat es gerade diese Gegend getroffen?“ Sie scheitern regelmäßig mit ihren Erklärungsversuchen, weil sie lächerliche menschliche Maßstäbe anlegen.

Wir sind gefangen in einer unberechenbaren Natur, in einem chaotischen Kosmos. Leben kann in einem Augenblick sinnlos zerstört werden. Die Eintagsfliege endet an der Fliegenklatsche, der Hering wird vom Dorsch gefressen, das Planetensystem stürzt in das schwarze Loch. Beim schweren Hurrikan in der Karibik kommen hunderte Menschen ums Leben.

Paulus weiß das. Er bringt es ganz knapp auf den Punkt: Die Schöpfung seufzt. Leben in der Schöpfung ist vergänglich, gefährdet, dem Untergang geweiht.
Hatte Gott das nicht anders geplant? Gerechter, besser, schöner? Wieso herrscht trotzdem der Tod? Wieso triumphiert die Grausamkeit?

Seufzen über die Schöpfung verwandelt sich schnell in ausgedehntes Grübeln und Klagen. Mindestens ein Tropfen von dieser Traurigkeit steckt in jedem Menschen. Es ist wichtig, sich dieses Seufzen einzugestehen. Niemand entkommt der schwarzen Traurigkeit über die vergängliche Schöpfung. Wie damit umgehen?

Die naturwissenschaftliche Antwort kommt ohne Gott aus. Sie nimmt Urknall und Evolution als Fakten und sieht in der Erd- und Menschheitsgeschichte eine einzige Kette von Zufällen. Die Erfolge und Errungenschaften menschlicher Zivilisation, die daraus entstanden sind, können jederzeit wieder in sich zusammenbrechen.

Der zweite Weg sieht in der Welt Gottes Gerechtigkeit am Werk. Auch Tod und Zerstörung gehören in diesen göttlichen Plan hinein. Aber ist das eine Rechtfertigung für den Tod von Unschuldigen, für Folter und anderes Schlimmes? Diese Frage ist nicht zu beantworten. Kein Mensch kann sich anmaßen zu wissen, worin die Gerechtigkeit Gottes besteht.
Einige gehen so weit zu sagen: Wer krank wird, wen der Blitz trifft, muss Schuld auf sich geladen haben. Nein.

Der Apostel Paulus schlägt einen dritten Weg vor. Der dritte Weg besteht in einer winzigen gedanklichen Operation, die von unendlich großer Wirkung ist. Erschrecken Sie nicht vor dem Wort „gedankliche Operation“. Narkose und Skalpell sind nicht nötig. Nötig ist nur ein einziger Kippschalter, der uns im Herzen auf eine neue Spur setzt.

Als Gemeindepfarrer besuchte ich vor Jahren lange eine ältere Frau. Sie war an einem Tumor erkrankt. Während der Chemotherapie zermarterte sie sich den Kopf, weshalb es ausgerechnet sie getroffen hatte. Lag es an den vielen Zigaretten? Lag es an der falschen Ernährung, an den vielen Tafeln Schokolade oder den gesättigten Fettsäuren? Hatte sie vielleicht psychische Ursachen übersehen? Wurde sie für eine Schuld bestraft? Trug sie verdrängte Konflikte mit sich herum? Darüber grübelte diese Frau viele Stunden lang, wenn sie allein im abgedunkelten Krankenzimmer lag, aber auch im Gespräch mit ihrem Mann und der besten Freundin. Sie kam zu keinem Ergebnis. Die Antworten, die sie sich selbst gab, waren ihr zu schal und unbefriedigend.

Ich würde viel darum geben, wenn ich dieser Frau damals hätte sagen können, was ich von den Worten des Apostels verstanden habe. Es hätte ihre Krankheit nicht geheilt, aber vielleicht hätte sie darin eine Perspektive gefunden.

Paulus stellt einfach einen Schalter um. Er schaltet von Vergangenheit auf Zukunft. Er sagt: Es ist ganz aussichtslos, die Vergangenheit bewältigen zu wollen. Es liegt viel mehr Segen darin, sich auf das, was kommt, in Hoffnung vorzubereiten. Er sagt: Es führt nicht weiter, zu grübeln und sich einen schweren Kopf zu machen. Viel weiter führt es, wenn sich die Glaubenden in Hoffnung einüben.

Die gesamte Lebensdeutung verändert sich, wenn ich dem Umschalten des Paulus folge. Wir fragen viel lieber nach dem Warum, gründeln in Ursachen und verpassten Alternativen und bemerken darüber gar nicht, wie wir uns in der Vergangenheit verlieren. Der Blick zurück soll Gegenwart und Zukunft ersparen. Viele Menschen beschäftigen sich in diesen trüben Tagen mit Tod und Sterben. Sie besuchen Gräber und stellen Blumen auf. Und sie denken - bewusst oder unbewusst - auch an den eigenen Tod.

In der Perspektive der Vergangenheit ist der Tod Bestrafung. Er besiegelt ein fehlerhaftes, sündiges, leidensvolles Leben. Das ist das Modell der Vergänglichkeit. Leben stürzt nach unten ab, in den Abgrund des Todes. Der Tod als letzter Schritt auf einer Leiter in die Unterwelt.

In der zweiten Perspektive, der Perspektive der Hoffnung ist alles Übergang, Weiterschreiten. Menschen sind sterblich wie alles Lebendige und trotzdem ergibt sich eine Bewegung auf eine Zeit hin, die erst noch kommt. Dieser zweiten Bewegung entspricht das Modell der Geburt. So wie die Wehenschmerzen der Geburt des kleinen Kindes vorausgehen, so gehen Seufzer, Krankheiten und Schmerzen dem Tod voraus und leiten über in ein anderes, neues Leben. Genauso sieht das Paulus. Der Tod ist wie eine Geburt. Aus ihm entsteht neues Leben.
Wer diese Hoffnung annehmen kann, der fragt nicht mehr nach der Vergangenheit, sondern nach der Zukunft. Er fragt nicht mehr nach dem „Warum“, sondern nach dem „Wozu“. Er grübelt nicht mehr, sondern er hofft in die Zukunft hinein.

Paulus denkt sich das so: Die ganze Schöpfung liegt in einem Geburtsschmerz, in Wehen hin auf das Reich Gottes, auf seine Ewigkeit. Und die Botschaft lautet: Dreht euch nicht um. Schaut nicht zurück. Blickt nicht mehr auf eure Vergangenheit, sondern auf eure Zukunft.
Es macht einen riesengroßen Unterschied, ob wir unser Leben aus der Vergangenheit heraus denken oder in die Zukunft hinein hoffen. Beide Modelle lassen sich nicht völlig gegeneinander ausspielen: Schmerzen und Hoffnung sind unlöslich miteinander verknüpft. Das ist die Nüchternheit des christlichen Glaubens. Schmerzen, verzweifelte Tage, Ängste oder gar Depression werden wahr- und ernstgenommen. Paulus stellt sie in das Licht einer Hoffnung, die uns aus der Verzweiflung heraus in ein Gleichgewicht bringt. Glaubende sind noch verzweifelt, aber sie hoffen auch schon.

Den feststehenden Pol dieser Hoffnung finden die Glaubenden in Jesus Christus, der uns im Leiden am Kreuz, in seinem Tod vorangegangen ist. Gerade diesen leidenden, verachteten und gefolterten Menschen hat Gott als ersten zum ewigen Leben auferweckt.
Der katholische Orden der Kartäuser hat sich ein Motto gewählt: Solange die Erde sich dreht, steht das Kreuz. Die Wirklichkeit des Leidens lässt sich nicht auslöschen oder ignorieren. Das ist das eine. Aber das andere ist: Zum Kreuz gehört auch die gewisse Hoffnung, dass Gott sich mit diesem Leiden nicht abfindet.

Paulus wirbt dafür, dass die Glaubenden diese Hoffnung in sich aufsaugen. Diese Hoffnung schafft eine Gewissheit, dass ich in der Geborgenheit Gottes durchs Leben gehe, ohne dass ich das dauernd beweisen müsste. Diese Hoffnung hebt die Schmerzen und das Seufzen der gesamten Schöpfung nicht auf, aber sie stellt dieses Seufzen in ein neues Licht: in das Licht des Übergangs und der Geburt des ewigen Lebens. Das ist das Entscheidende und das Faszinierende, das lässt den Apostel so wunderbar begeistert schreiben.
Seufzen wird Hoffnung, durch einen einzigen kleinen Blickwechsel.

Wer sich umdreht, den Blick wechselt und plötzlich aus der beschwerlichen Vergangenheit in die Zukunft des Reiches Gottes blickt, der erhält das kleine, zerbrechliche Geschenk der Hoffnung.
Mehr nicht? Mehr nicht.
Aber in dieser Hoffnung ruht die Aussicht auf die Ewigkeit.
Unsere Hoffnung richtet sich auf den Frieden Gottes. Auf ihn hoffen wir. Dieser Friede bewahre eure Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.

Perikope
13.11.2016
8,18-25