Kirche-sein, Christ-sein zwischen gestern und morgen! - Predigt zu Johannes 15,26-16,4 von Jens Junginger
15,26-16,4

Kirche-sein, Christ-sein zwischen gestern und morgen! - Predigt zu Johannes 15,26-16,4 von Jens Junginger

Kirche-sein, Christ-sein zwischen gestern und morgen!

Zwischenzeit, zwischen den Zeiten,
das ist die Zeit,
zwischen Totensonntag und 1. Advent
zwischen Weihnachten und dem Jahreswechsel
das ist die heikle, zerbrechliche und spannungsreiche Zeit
zwischen dem Erfahren der Todesnachricht und der Bestattung
zwischen der Mitteilung: wir haben bei ihnen ein Geschwür diagnostiziert und dem Zeitpunkt des operativen Eingriffs,
zwischen dem Ende der Weltkriege und dem politischen Neubeginn,
zwischen Weggehen, Heimat verlassen und dem Neustart in einem fremden Land.

Zwischenzeit, zwischen den Zeiten,
das ist die Zeit der Freunde Jesu,
zwischen Himmelfahrt und Pfingsten
zwischen dem endgültigen Wegsein Jesu
dem verunsicherten bedauerndem Blick zurück
und der Zögerlichkeit vor einer offenen ungewissen Zukunft,
zwischen dem Leben einer vielfältigen Glaubensgemeinschaft und
der Abgrenzung und Trennung in zwei eigene Richtungen.
 
Zwischen den Zeiten,
das kennzeichnet auch unsere heutige Situation als Christengemeinden,
als Kirche, als christliche Religion:
Zwischen einem verunsichert, zaghaften Dasein Hier und Jetzt und
einer neuen nach-, postchristlichen Zeit.
In einer solchen Zwischenzeit
neigen wir mehr zum seufzenden Klagen über den Verlust des Vergangenen und über die befremdlichen neuen Umstände als zur zuversichtlichen Hoffnung.

Der Evangelist Johannes schreibt sein Evangelium in eine solche Zwischenzeit hinein:

Im römisch besetzten Palästina haben die Römer 70 n. Chr. also etwa 40 Jahre nach Jesu Tod zum wiederholten Mal den Jerusalemer Tempel zerstört, den Sammel- und Identifikationsort des gesamten jüdischen Volkes – auch der Jesusanhänger.
Die Tempelzerstörung, das ist wie wenn man hier unsere Stadtkirche und alle anderen Kirchen auf einmal zerstören würde.
Stellen wir uns vor, wenn diese religiösen Identifikationsgebäude, diese „Glaubensgasthäuser“ [Fulbert Steffensky] und Zufluchtsorte für die dramatischen Stunden des Lebens,
für die Veröffentlichung der Sperrigkeit der biblischen Botschaft, 
für das Trösten und Trost empfangen der Glaubens-Geschwister
und für das Skizzieren der schönen Bilder, die das Gelingen des Lebens träumen,
wenn die auf einen Schlag weg wären.

Die erneute Zerstörung des Tempels – nach 70 n Chr rüttelte die gesamte jüdische Bevölkerung gewaltig durcheinander, verstörte und verunsichert sie.

Auch die religiösen Autoritäten suchten eine klaren Linie – so wie heute die politischen Autoritäten Europas eine klare Linie suchen, im Blick auf eine gemeinsame Flüchtlingspolitik: Reinlassen oder Abschotten.
Diese ganz eigenwillige prekäre Zwischenzeit fließt beim Evangelisten Johannes in Jesu Abschiedsrede ein, in der er  die Zwischenzeit  seiner Freude in den Blick nimmt – wenn er weg sein wird.
Johannes schreibt:

Wenn ich beim Vater bin,
werde ich euch den
Beistand schicken.
Das ist der
Geist der Wahrheit,
der vom Vater kommt.
Wenn er kommt,
wird er als Zeuge für mich auftreten.
Auch ihr werdet als Zeugen für mich auftreten,
denn ihr seid von Anfang an bei mir gewesen.
Das habe ich euch gesagt,
damit euch niemand von mir abbringen kann.
Sie werden euch aus der
jüdischen Gemeinde ausschließen.
Ja, es kommt die Stunde:
Dann wird jeder, der euch tötet,
meinen,
dass er Gott damit einen Dienst erweist.
Das werden sie tun,
weil sie weder den Vater
noch mich erkannt haben.
Ich habe euch das alles nicht von Anfang an gesagt,
weil ich ja bei euch war.

[Übersetzung Basisbibel]

Sind wir nicht weit weg, wovon hier die Rede ist,
auch von der Wahl der Worte, Sprachbildern
vom Synagogenausschluss/
vom Ausschluss aus der jüdischen Gemeinde ? 
Das sind wir – in der Tat. Und dennoch brauchen wir die Fremdheit mancher Texte um uns darin zu lesen, um etwas über uns selbst zu erfahren.

Ich will versuchen den Text in unsere Lage hinein zu übersetzen,
in der Erwartung und mit der Absicht
tatsächlich auch etwas über uns selbst zu erfahren
und für uns zu begreifen.
So kann der Text zu einem tröstlichen Beistand werden sein und vielleicht behilflich sein beim Aufspüren wo und wohin uns der Geist der Wahrheit weht.

Ich greife zu allererst das Phänomen des Ausschluss aus der jüdischen Gemeinde auf.
Es ist ein ganz spezifisches Kennzeichen für diese Zwischenzeit, nach 70.n.Chr.
Nämlich die Frage des Beibehalts einer Vielfalt von innerjüdischen Glaubensausprägungen und die der Abgrenzung.
Die kennen wir sowohl aus der Geschichte des Christentums selbst, der allgemeinen Religionsgeschichte und aus gegenwärtigen Entwicklungen:
 
Religionen bilden sich, formieren sich, verselbständigen sich, religiöse Strömungen entstehen, Richtungen und Konfessionen.
Die christliche geht aus der jüdischen hervor. Die evangelsiche Kirche bildet sich aus der katholischen Kirche heraus.
Auch gegenwärtig gründen sich fortwährend neue eigene freie christliche Gemeinschaften mit einer befremdlich eigentümlichen fundamentalistischen Bibelauslegung. 
Und wir beobachten neu was innerhalb des Islams an Unterscheiden  und Konflikten ausbricht ist, gerade unter Gruppen die sich bis aufs Messer abgrenzen (Bsp. Jemen)
Der Gemeindeausschluss besagte damals, in dieser prekären politisch und religiös verunsicherten Zwischenzeit,
dass die Juden, die an Jesus als den Messias glaubten nicht mehr in der Synagoge beim Gottesdienst dabei sein sollten.
Es wurden klare, eben auch ausschließende Glaubens-Richtlinien festgelegt.

Liebe Gemeinde,
dieser Textabschnitt aus dem Johannes Evangelium liest uns:

Nun ist die besondere Situation der Zwischenzeit
davon gekennzeichnet, dass sich etwas ändert.
Es bleibt zurück, was war.
Gegenwart und Zukunft trennen sich von der Vergangenheit. Erlebtes bleibt zurück, bekanntes, vertrautes, verklärtes vielleicht auch.
Es fehlt jemand.
Jesus blickt in seiner Abschiedsrede in diese Zwischenzeit seiner Freunde hinein und auf die Zeit nach ihm. Der Evangelist sieht zugleich die Zwischenzeit als Ende und Neubeginn für die Jesusgläubigen Juden.

Verlassen, unsicher, niedergeschlagen bleiben die Freunde zurück. Er ist tatsächlich weg,
aufgefahren in den Himmel.
Er ist und bleibt unerreichbar im Sinne von nicht greifbar.
Das ist auch unsere Situation als Christen.

Allein die inspirierende Botschaft von Jesus von Nazareth ist geblieben.
Sie hat zweifelsohne in den letzten Jahrzehnten innerhalb der nördlich-westlichen Hemisphäre an ihrer wegweisenden, begeisternden Wirkung deutlich eingebüßt.
In anderen Teilen der Welt ist das nicht so.
Auch wir sind unsicher:
Wir wissen oft nicht, wie wir sie rüberbringen können, in unsere Zeit hinein, dass der Inhalt verstanden und beachtet wird und relevant bleibt. 
Ein neues Bibliorama in Stuttgart ist ein attraktiv klingender Versuch die biblische Botschaft ins Heute zu übersetzen. In der Mitmachausstellung können die Besucher 14 biblischen Personen und Martin Luther begegnen.

Wir sind scheu und zurückhaltend darin geworden die Geschichten von der Rettung des Lebens, von der Befreiung aus Sklaverei, von der von Gott geschenkten Würde des  Menschen, von der Vergebung, vom Frieden laut und deutlich zu erzählen.

Wir sind nicht mehr wirklich stolz
auf die frohe Botschaft für die Armen
und darauf, dass man bei dem,
der viel hat auch viel holen soll,
und dass genug für alle da ist.

Wir sind ängstlich geworden,
für diese christliche/biblische Botschaften einzutreten und sie öffentlich und untereinander einzuklagen. Wir sind pragmatischer, angepasster und bescheidener geworden.

Ich kann mich in meiner beruflichen und gesellschaftlichen Position nicht outen, mit dem was ich glaube und dass ich glaube, sagte jemand, der nicht in dem Tuttlinger Kirchentagsbüchlein „Was glaubst du denn“ mit einem eigenen Text erscheinen wollte.

Wir sind deutlich unsicherer geworden:
Zuversicht, Hoffnung - gegen allen Augenschein- auszustrahlen,
das ist das Kennzeichen der Zwischenzeit, die wir erleben.
Wir haben das Bezeugen unseres Christlichen Glaubens und Haltungen ziemlich runtergefahren, obwohl wir keinerlei Nachteile befürchten müssen.
Der tröstliche Beistand, der Geist der Wahrheit, inspiriert uns allenfalls noch von Zeit zu Zeit.

Die Ankündigung eines tröstlichen Beistands in Jesu Abschiedsrede leistet uns aber heute Beistand, unser Dasein, unsere Lage als Christengemeinden/ Kirche zwischen den mitunter so wunderbar empfundenen guten alten christlichen Zeiten und dem nachchristlichen säkularen Zeitalter zu erkennen.

Gerade in dieser Zwischenzeit, zwischen den Zeiten – gilt es – so verstehe ich Jesu Abschiedsrede - nicht zu warten auf den für immer verreisten aufgefahrenen Hausherrn – sondern den Geist des Hausherrn wehen zu lassen, uns auszustrecken nach dem was vor uns liegt (Phil 3,3).
Denn diesen „Christus werden wir nicht loskriegen“[Peter Bichsel].
Dieser Geist der Wahrheit, dieser  Geist Gottes, der Geist dieses Jesus von Nazareth will uns Christenmenschen für Wahrheiten begeistern, auf die Menschen warten und angewiesen sind: Auf Wahrheiten,
die beherzt ausgesprochen, bezeugt sein und weitergeben werden wollen und eingeklagt werden sollen.
dass Gott uns trägt, bis ins Alter und wir grau und dement und sterblich werden
dass es verwerflich ist das Menschenleben unter dem gesellschaftlichen Kosten-Nutzen Faktor zu beurteilen – weder die Alten, Kranken noch die Flüchtlinge
dass Sorge und Fürsorge- Pflege- und Erziehungsarbeit gesellschaftlich wertgeschätzt und deutlich höher honoriert werden müssen
dass Respekt vor Rendite gehen muss
dass Kinder ein Recht auf religiöse Erziehung haben, mehr noch, dass sie darauf angewiesen sind zu Gast sein zu können in Geschichten die vom Leid und vom Gelingen erzählen, die beides, das traurige Elend und die Sehnsucht nach dem Land ohne Elend ausmalen
Der Geist  der Wahrheit will uns für die biblisch-christlichen Wahrheiten begeistern,
dass diese Erde ein Geschenk ist, kein Privatbesitz von Konzernen, sondern eine Leihgabe
dass Gott die Quelle allen Lebens ist und nicht wir Menschen,
dass Gott vor uns da war und nach uns sein wird
dass die Liebe zur Gerechtigkeit und der Bewahrung der Schöpfung stets neu aufflammen möge und - dem Freihandelsabkommen zum Trotz  -   nicht verlöschen darf
dass wir begeistert, fröhlich taufen und als Eltern Paten Gemeinde unsere Gesichtszüge, unseren Glauben und unsere Optionen und den Schatz der Religion zeigen, so dass sie ihren eigenen Lebensglauben bilden können, auf ihrem Weg in das Land der Verheißung.

Zwischen den Zeiten,
zwischen Tradition, schamhafter Zurückhaltung und der Sehnsucht derer, die nach uns das Licht der Welt erblickt haben und erblicken werden,
der Sehnsucht nach tragfähigen Wahrheiten und zukunftsfähigen Überlieferungen,
zwischen den Zeiten, zwischen Himmelfahrt und Pfingsten,
da hören wir die unmissverständliche Ansage Jesu an uns:
„Ihr werdet als Zeugen für mich auftreten“.
Amen