Kirchen- und Gesellschaftskritik at its best - Predigt zu Mt 5,1-10 von Paul Geiß
5,1-10

Kirchen- und Gesellschaftskritik at its best - Predigt zu Mt 5,1-10 von Paul Geiß

Liebe Gemeinde,
Reformationstag – ein evangelischer Feiertag in neun Bundesländern. Ein Tag, um sich an die Zeitenwende zur Neuzeit nach dem Mittelalter zu erinnern, die Martin Luther, der Mönch aus Thüringen, im 16. Jahrhundert eingeleitet hat. Es war dann tatsächlich eine Zeitenwende, die die politische und die religiöse und die christliche Landschaft in der ganzen Welt verändert hat.
Bisher gab es in Europa zwei große christliche Konfessionen: die orthodoxe Gemeinschaft, der der ökumenische Patriarch von Konstantinopel vorstand, und die römisch-katholische Kirche unter der Herrschaft eines Papstes. Dazwischen gab es viele Gruppen, die das Christentum neu und anders interpretierten und reformieren wollten; sie haben aber keine große Bedeutung in der Weltchristenheit erlangt, wurden auch zum Teil fanatisch verfolgt und blutig unterdrückt.

Und was führte zur Reformation?
Martin Luther machte vor über 500 Jahren durch seine intensiven Bibelstudien über den Römerbrief des Apostels Paulus seine Entdeckung: Jede Christin, jeder Christ hat einen unmittelbaren Zugang zu Jesus Christus. Dazu braucht es keine Heiligen, keine Maria, keinen Papst, auch eigentlich keine Priester, keine orthodoxe Institution mit Patriarchen und Kirchenhierarchie. Diese Erkenntnis eröffnete eine ganz neue Freiheit gegenüber der damals in Europa mächtigen römisch-katholischen Kirche.
Und bei Luther entfaltete sich durch diese Erkenntnis eine ungeahnte Aktivität: Er übersetzte die Bibel ins Deutsche, gab den Deutschen damit sogar eine allgemeine und verständliche Sprache, die uns auch heute prägt. Er mischte sich in die politischen Verhältnisse ein, widerstand dem Druck aus Rom und dem Druck des damaligen Kaisers Karl V.
Das Feuer der Reformation entfachte sich im ganzen damaligen Deutschland, das aus vielen kleinen Reichen mit Duodezfürsten und freien Reichsstädten bestand. Auch die englische Königin Elisabeth I. holte sich später zur Reformation in der anglikanischen Kirche Reformatoren aus Deutschland. Kämpfe brachen aus, vieles musste neu geordnet werden. Luther hat ein Wahnsinnslebenswerk hinterlassen, das die theologische Forschung in über 50 dickleibigen Bänden in der Weimarer Ausgabe veröffentlicht hat. In der Entdeckung von der Freiheit eines Christenmenschen entfaltet sich seine ganz neue Weltsicht. Sie hat bis heute zu bis dahin ungeahnten Erkenntnissen in Theologie, Philosophie und Wissenschaft geführt. Die neue Freiheit im Glauben, Forschen und Wissen ist noch längst nicht an ein endgültiges Ziel gelangt.

Das war die von Luther ausgelöste Zeitenwende.
Eine dieser quasi revolutionären Entdeckungen war, dass es
- allein der Glaube an Jesus Christus ist, der einen gerecht werden lässt, nicht die guten Werke, die man sich abringt. Dass das
- allein aus Gnade geschieht, die Gott schon in der Taufe vorausschauend schenkt. Dass diese Erkenntnis
- allein aus der Bibel zu lernen ist und dass es  wirklich im Wesentlichen
- allein um Jesus Christus geht, dem Anfänger und Vollender des Glaubens.

Um das alles zu verstehen und zu verinnerlichen, sollten die Menschen lesen lernen, Bildung erwerben frei und mündig über ihren Glauben selbst entscheiden können.
Das lässt uns auch heute frei sein, wenn auch im Glauben gebunden an Jesus Christus.
Wie formulierte Luther paradox und eigentlich widersinnig in seiner Programmschrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“?
Im Glauben an Jesus Christus ist ein Christenmensch ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan.
Im Glauben an Jesus Christus ist er aber auch ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.

Das sind dazu die vier revolutionären steilen Thesen von Martin Luther: allein aus Glauben, allein durch Gnade, allein aus der Bibel und allein durch Christus.

Mit diesem Programm schenkte uns Luther auch die Gabe einer fundierten Predigt. Sie ergibt sich aus dem intensiven Bibelstudium, aus der Auslegung des Wortes Gottes in die aktuelle Situation von Gesellschaft und Gemeinde. Heute wollen wir gemeinsam nachdenken über eine bahnbrechende Interpretation der gesellschaftlichen Probleme, die Jesus zu Beginn seiner Bergpredigt seinen Zuhörerinnen und Zuhörern vorgelegt hat. Es sind die acht Seligpreisungen, mit denen Jesus Lebensprobleme umreißt, sie vor Gott bringt und deutet, hier in der Übersetzung von Walter Jens:

Als Jesus die Volksmenge sah, stieg er auf einen Berg. Er setze sich und seine Jünger kamen zu ihm. Jesus begann zu reden und lehrte sie:
Wohl denen, die arm sind vor Gott und es wissen. Ihnen gehört das Reich der Himmel.

Wohl denen, die Leiden erfahren, denn Trost ist ihnen gewiss.
Wohl denen, die gewaltlos sind und Freundlichkeit üben. Erben werden sie das Land.
Wohl denen, die hungrig und durstig nach Gerechtigkeit sind. Ihr Hunger und Durst wird gestillt.
Wohl denen, die barmherzig sind. Sie werden Barmherzigkeit finden.
Wohl denen, die aufrichtig sind in ihrem Herzen. Sie werden Gott sehen.
Wohl denen, die Frieden bringen. Gottes Kinder werden sie heißen.
Wohl denen, die verfolgt werden, weil sie die Gerechtigkeit lieben. Ihnen gehört das Reich der Himmel.

Bei seinen Wanderungen durch Galiläa und Palästina hat Jesus viele Menschen getroffen und beeindruckt. Auch er selbst hat das ganze Elend gesehen, das durch Krankheiten, durch die römische Besatzungsmacht, die Streitereien im religiösen und kultischen Bereich, die terroristischen Anschläge der Eiferer, der Zeloten, damals ausgelöst wurde. Das ist ja leider auch heute nicht anders in Israel, im besetzten Palästina, im annektierten Jerusalem und in der Reaktion auf die furchtbaren Anschläge der Eiferer aus Gaza.
Als erstes sagt Jesus:
- Wohl denen, die arm sind vor Gott und es wissen. Ihnen gehört das Reich der Himmel.
Damit bittet er uns um Demut und um die Erkenntnis, dass wir mit unseren Mitteln begrenzt sind. Wir sind nicht Gott, nicht allmächtig, fehlerhaft und in unseren Einsichten fehlsichtig.

Der griechische Philosoph Platon sagte von seinem Lehrer Sokrates, er habe ihn gelehrt, die Grunderkenntnis allen Wissens sei die Annahme: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ Damit sagt er indirekt: Mein eigenes begrenztes Wissen sollte ich zunächst einmal voller Demut anerkennen. Erst das schafft die Neugierde, um nach Neuem, nach Veränderungen und Lösungen zu suchen. Erst das, die vor Gott zugelassene Bescheidenheit, sie ist für Jesus der Türöffner zum Himmel.

Den Leidenden sagt Jesus deutlich und hoffnungsfroh zu:
- Wohl denen, die Leiden erfahren, denn Trost ist ihnen gewiss.
Er macht keinen Unterschied zwischen reich und arm, Mann und Frau, gebildeten und ungebildeten Menschen, einfühlsam erkennt er Leid, spricht es an und spricht damit diesen Menschen seinen Trost zu. Leiden muss erst einmal gesehen und wahrgenommen werden, das ist der erste Schritt, das wird im Gebet und im Gespräch vor Gott gebracht, und bereits dieser Akt ist der Anfang des Trostes, den Gott schenkt. Gelebte Seelsorge im Gespräch, im Besuch am Krankenbett, durch Notfallseelsorger und -seelsorgerinnen, in der Wahrnehmung von alltäglichem Mobbing und anderen Intrigen, in der heilenden Reaktion auf Traumata. All das gehört zum Trost, den Gott den Leidenden schenkt und oft auch vielmehr. Ob es hilft? Ich denke ja.

Und weiter sagt Jesus:
- Wohl denen, die gewaltlos sind und Freundlichkeit üben. Erben werden sie das Land.
Es bedarf einer ungeheuren Anstrengung, gewaltlos zu bleiben, auf Provokationen nicht mit Provokationen zu reagieren, sanft und freundlich zu bleiben auch bei schlimmen Unterstellungen.

Folgendes Erlebnis dazu:
Schon von weitem hört man eine laute Auseinandersetzung im Park. Erst die schrille Stimme einer Frau, dann die tiefe des Mannes. Sie werfen sich gegenseitig etwas vor und das heftig. Das bekommen einige Besucher mit, es wird lauter und lauter. Aber dann geschieht etwas Wunderbares: Das Gesicht des Mannes verzieht sich plötzlich zu einem Lächeln: „Ach Muttchen, deswegen müssen wir uns doch nicht in die Haare kriegen“, ruft er. Die Frau ärgert sich sofort über das Wort „Muttchen“, will lospoltern, sieht aber in das lächelnde Gesicht des Mannes und beginnt urplötzlich ebenfalls zu lachen. Dann fasst sie ihn mit beiden Armen um den Hals und küsst ihn, küsst ihn so heftig, dass er nur mit Mühe Atem holen kann, sie drücken sich eine Weile. Dann gehen sie Hand in Hand weiter, die beiden Alten. Die Liebe siegt über den Kampf und der Streit artet nicht aus. Eine überraschende freundliche Reaktion anstelle einer fast gewaltsamen Auseinandersetzung.
Das geht leider nicht in Kriegs-, Gewalt- und Terrorsituationen. Da müssen andere Mittel her, um wieder Gewaltlosigkeit zu lernen, man braucht dazu leider tatsächlich eine angemessene Rüstung, um sich gegen Überfall, Besetzung und Eroberung zu verteidigen.

Der nächste Impuls:
- Wohl denen, die hungrig und durstig nach Gerechtigkeit sind. Ihr Hunger und Durst wird gestillt.
Hungrig und durstig nach Gerechtigkeit, ein weit verbreitetes Gefühl, denn man erlebt doch ständig auch schlimmes Unrecht. Auch dazu ein Erlebnis:
Ein Freund kommt zum Pfarrer, er ist bedrückt, er druckst herum und will nicht mit der Sprache heraus. Er wird vom Pfarrer nicht zum Erzählen gedrängt. Schweigend sitzt er eine Weile da. Dann beginnt er stockend zu erzählen. Er ist Bauarbeiter und arbeitet an einem Wohngebäude mit. Es gibt mächtig Druck, alles termingerecht auszuführen. Der Vorarbeiter hat Überstunden angeordnet, um das Pensum zu erledigen. Er wollte nicht, hatte am Wochenende andere Pläne. Da platzte dem Vorarbeiter der Kragen und er beschimpfte ihn als Faulenzer. Das war ungerecht, das wollte er nicht auf sich sitzen lassen und brüllte zurück. Jetzt soll es  ein Gespräch mit dem Betriebsrat geben. Davor hat er Angst. Die Ungerechtigkeit brennt, er fühlt sich nicht anerkannt und von dem Vorarbeiter niedergemacht, eine Demütigung. Durch die im Arbeitsrecht ermöglichten Mechanismen wie ein Gespräch mit dem Betriebsrat könnte ihm Gerechtigkeit widerfahren. Das wäre die eine Lösung. Nach dem Gespräch mit dem Pfarrer traut er sich das zu. Die andere Möglichkeit ist, auch mit der Ungerechtigkeit leben zu lernen, denn ein Anschiss von einem Vorgesetzten ist zwar schmerzhaft, muss aber nicht den ganzen Menschen in Frage stellen. Es gilt: Gott weiß um diese Ungerechtigkeit und tröstet Dich auf seine Weise. Vielleicht kannst Du das erkennen.

Und so können wir die gesamten Seligpreisungen durchbuchstabieren, sie zeigen die Wertschätzung Jesu für jedes Leben, die Liebe zu Gottes Geschöpfen, zu denen wir alle ohne Unterschied gehören. Nach diesen Seligpreisungen kommt die große ethische Belehrung durch Jesus in der Bergpredigt. Viele seiner Anregungen wurden in unserer Sprache sprichwörtlich, deshalb lohnt es sich, sie ganz zu lesen im Matthäusevangelium Kapitel 5 – 7.

Reformation heute: Sie richtet unser Leben neu aus, sie richtet unsere Kirche neu aus, sie richtet unsere Gesellschaft neu aus. Das geschieht in einer bunten Vielfalt von Angeboten für zeitgemäße Frömmigkeit in Gottesdienst, Musik und Gemeindeinitiativen, in Seelsorge, Unterricht und Predigt, eben auch in jedem Gottesdienst in der Kirche in einer lebendigen und wachen Gemeinde.

Die reformatorische Botschaft bleibt:
Wir sind von Christus selig gesprochen
allein durch ihn,
allein durch seine Gnade,
allein durch die goldenen Worte der Bibel in ihren Geschichten und in den Briefen an die ersten Gemeinden,
allein durch unseren Glauben an die Liebe Gottes,
das reicht.

Lassen Sie Sich nicht durch die schlimmen Zustände in unserer Zeit deprimieren. Ich bin gewiss, sagt Paulus Im Römerbrief, ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.
Deshalb brauchen wir die ständige Suche nach Veränderung und damit auch die hoffentlich ständige Freude an Reformation, an Veränderung in Kirche und Gesellschaft.

Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Paul Geiß: 

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?

Der Reformationstag ist ein Feiertag in den meisten Bundesländern (9). Die Kenntnis dessen, was mit Luthers Reformation ausgelöst wurde, schwindet. Gleichzeitig sind die Anliegen der Reformation unverändert aktuell. Minimale Info dazu ist Teil der Predigt. Hauptakzent sind die Seligpreisungen mit ihrer Betonung der mangelnden Demut, der Leiden, der Ungerechtigkeit, der hilflosen Gewaltlosigkeit etc. Das wirft ein Schlaglicht auf die gegenwärtigen Auseinandersetzungen. Trost und „Seligkeit“ sollen individuell und kollektiv als Gottes Angebot zugesprochen werden, dazu gehört die Motivierung für eine ecclesia reformata semper reformanda.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?

Weniger beflügelt als erschreckt: Der andauernde Überfall Russlands auf die Ukraine und die Zerstörung dort. Natürlich auch die terroristischen Anschläge der Hamas und die unverhältnismäßigen Racheakte der Israelis mit tausenden von Toten. Dazu kommt eine erneute Entdeckung: Die Seligpreisungen sind massive Gesellschaftskritik und ein Hinweis, wie Gott damit umgehen wird. Das kann ein gewaltiger Trost sein.
Schreibstrategie: Info zum Reformationstag und anekdotische Auslegung einiger Seligpreisungen.

3.       Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?

Die obengenannte Entdeckung und die permanente Motivierung zur weiteren Reformation in Kirche und Gesellschaft. Klingt formelhaft, war aber so.

4.       Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?

Die Entstehung dieser Predigt war ein permanenter Prozess mit ständigen stilistischen und inhaltlichen Änderungen, manchmal Verbesserungen, manchmal sicher auch Verschlechterungen. Der ständige Zweifel nervt, Predigt ist eigentlich kein schriftliches Unterfangen, sondern ein mündliches Geschehen, das nur in diesem Augenblick und in dieser unwiederholbaren besonderen Situation in einem Gottesdienst als Auslegung eines Bibelwortes zu begreifen ist.
Also, wenn überhaupt, bitte adaptieren, umformulieren und diese Ausarbeitung nur als Anregung für die eigene Predigt begreifen.

Perikope
Datum 31.10.2023
Bibelbuch: Matthäus
Kapitel / Verse: 5,1-10