KIRCHENTAG – ELBWIESEN – LUTHER und JESUS – Predigt zu Johannes 7,37-39 von Axel Denecke
7,37-39

1.
Heute ist Kirchentag – die große Abschlussveranstaltung in Wittenberg. An die 100.000 Menschen oder gar noch mehr sollen in dieser Stunde auf den Elbwiesen zusammen kommen. Hoffentlich geht alles gut, in diesen Tagen von Manchester und anderswo. Es wird, so vermute ich, viel von Martin Luther erzählt werden, von seinem „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ in Worms anno 1521, von seinem Leitwort: „Der Christ ist (im Glauben) ein freier Mensch und niemanden untertan. … Und der Christ ist (in der Liebe) ein dienstbarer Knecht und jedermann untertan“. Große Worte, die wir noch längst nicht eingeholt haben, denn wir hinken dem allem noch meilenweit hinterher.

„Luther wollte mehr“, lautet daher die Parole von Eugen Drewermann, dem ehemals katholischen Priester, der seiner Kirche Adieu gesagt hat und – ohne offiziell Protestant zu werden – sich ganz Luther und der “Freiheit eines Christenmenschen“ zu verschreiben. Er bezeichnet die nicht die ominösen 95 Thesen anno 1517 vor oder neben der Schlosskirche zu Wittenberg als Beginn der Reformation, sondern eben das Wort, das Luther so oder ähnlich auf dem Reichstag zu Worms vor Karl. V gesagt haben soll. „Hier stehe ich – ich kann nicht anders – Gott helfe mir“. Ein einfacher kleiner Mönch gegen die ganze geballte katholische Macht, auch gegen die Gewalt des Kaisers, ja der ganzen Welt. Ein Einzelner mutig gegen alle. (Nur nebenbei: Ich denke, Eugen Drewermann findet sich da selbst sehr wieder. Er ist ja auch ein Einzelner, der der geballten Macht der katholischen Kirche Paroli geboten hat, es immer noch tut).

Nicht umsonst wird ja gesagt: Luther entdeckt die unbedingte Selbst-Verantwortung des einzelnen Individuums. Keiner kann mir in meinem Glauben (ein freier Mensch bin ich und niemandem untertan) rein reden. Keine kirchliche Autorität, weder damals katholisch noch heute protestantisch und lutherisch. Ich höchst selbst bin „reichsunmittelbar“ (so hat es einst Helmut Thielecke aus Hamburg gesagt) zu Gott, bin allein und nur allein für meinen Glauben und auch für mein Leben verantwortlich.
Er also, der kleine Mönchen mit seinem unbändigen Glauben gegen den Rest der Welt, gegen Kirche und Kaiser und gegen wen auch immer, auch gegen die innerprotestantischen Konkurrenten, die es bald gab.
Das ist Reformation. Daran wird - so hoffe ich - heute (jetzt gerade) in Wittenberg erinnert.

2.
Nun kann man solch eine extrem individualistische Haltung von Luther (auf mich als Einzelnen kommt es an) je nach Geschmack naiv und stur oder auch hochmütig, selbstverliebt und überdreht oder auch weltfern und versponnen oder eben auch mutig und glaubenskonsequent finden. Vielleicht ist ja bei Luther von allem etwas dabei gewesen. Wie kommt er aber dazu, so konsequent zu glauben, sich von keiner äußeren Autorität beirren zu lassen, wirklich „reichsunmittelbar“ zu Gott zu sein, keine Mittlerinstanz zwischen ihm und Gott dazwischen. Wie kommt er dazu? Und vor allem: Wie können auch wir dazu kommen, wenn wir denn in seiner Tradition stehen wollen, versuchen, stehen zu wollen?

3.
Dazu kann uns der heutige Predigttext weiter helfen. Jesus – so hat es der Evangelist Johannes komponiert – kommt zum ersten Mal in seinem Leben nach Jerusalem, in die Metropole des offiziellen Glaubens. Jesus, in den Augen der Kirchenmächtigen der damaligen Welt auch nur ein ungelehrter einfacher „Mönch“ aus dem gottverlassenen Nazareth oder Wittenberg oder sonst wo im Abseits der großen Welt. Die Parallelen fallen schon auf. Dieser Jesus tritt also im Tempel (in der Peterskirche in Rom), in der Hochburg des offiziellen von allem mit Kopfnicken gut geheißenen Glaubens auf und predigt „vollmächtig“. Vollmächtig (so Matthäus in der Bergpredigt) aus Gott heraus „und nicht wie unsere Schriftgelehrten“, die die offizielle Lehre verwalten. Vollmächtig, d.h., vom Geist Gottes bevollmächtigt, nicht aus eigener Vollmacht heraus, sondern aus einer Vollmacht, die ihm von Gott verliehen ist. Ich kann auch sagen: Aus der Vollmacht Gottes heraus, die Jesus bei der Taufe am Jordan glaubt von Gott empfangen zu haben. „Du bist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe“, wie es bei Markus heißt. Jesus also vollmächtig, er allein gegen alle anderen. Die Menschen müssen etwas von seiner inneren Vollmacht gespürt haben, sonst hätten sie sich nicht im Pro und Contra mit ihm so auseinander gesetzt. Vollmächtig, aus Gott heraus, reichsunmittelbar zu Gott. Kein Mensch, keine Tradition, keine offizielle Lehre dazwischen. So predigte Jesus damals auf seiner ersten Reise nach Jerusalem, zum Laubhüttenfest, eines der wichtigsten Feste der damaligen Judenheit.

4.
Und was sagt er da am Ende? „Wenn jemand dürstet, komme er zu mir und trinke. Wer an mich glaubt, aus dessen Leibe werden Ströme lebendigen Wasser fließen“. Wie kann Jesus das sagen? Ist er – ich wiederhole jetzt, das was ich grad eben von Luther sagte - ist er naiv und stur oder hochmütig und überdreht oder weltfern und versponnen oder einfach nur mutig und konsequent in seinem Glauben an Gott? Ich denke, es ist das Letzte. Bevollmächtigt von Gott – so empfindet er sich jetzt, nach dem umwerfenden Erlebnis seiner Taufe – bevollmächtigt von Gott tritt er auf, klar und konsequent und unbeirrt und redet selbst vollmächtig, ausgestattet mit Vollmacht. Also, nicht aus sich selbst heraus, weil er ein so toller und glaubensstarker Mensch ist, sondern eben weil er bevollmächtigt ist von Gott selbst, mit dem Geist Gottes ausgestattet, der ihm diese vollmächtige Predigt erst ermöglicht.

„Wenn jemand dürstet, so komme er zu mir und trinke“. Es geht hier natürlich um den Lebensdurst, den jeder hat, es geht darum, dass mein Leben einen inneren Sinn erhält, dass ich Zweck und Ziel meines Lebens erkenne. Das lernt ihr bei mir, sagt Jesus, nur bei mir. Denn Gott hat mich auserwählt. In der Taufe bin ich von ihm adoptiert worden, Euch das zu sagen. Ich kann gar nicht anders, als es zu tun, ich muss es tun, sonst würde ich Gott ungehorsam sein. Also: „Hier steh ich – ich kann nicht anders – Und Gott wird mir helfen“.

„Orientiert euch an Jesus“, werden später kluge Nachfolger von ihm sagen. Orientiert euch an seinem Leben, an seinem Lebensstil, ja und am Ende auch am Stil seines Sterbens, also an seinem ganzen Leben, an seinen Worten und noch mehr an seinen Taten. Lebt so, wie er gelebt hat, dann gelingt euer Leben. Und da kann keiner dazwischen reden und euch mit klugen theologischen Weisheiten (sei es von den Schriftgelehrten damals oder, von Kirchenfürsten heute) beirren. „Wenn jemand  dürstet, so komme er zu mir und trinke“.

Ja, das ist ein Aufruf an die Menschen damals und natürlich auch an uns heute. Und da Frage an uns ist: Trinken wir denn bei Jesus? Nehmen wir ihn auf zu uns, gar in uns, so das “Ströme lebendigen Wassers“ aus unseren Glauben heraus entstehen, Ströme des Rechts und der Gerechtigkeit einer nie versiegenden Quelle, wie es einst schon der Prophet Amos (Kap5,21-24) gesagt hat? Diese Frage zu stellen, heißt gleichzeitig auch, sie im Normalfall mit NEIN zu beantworten. Denn sehe ich mich um, in mir selbst und bei anderem, so sehe ich weit und breit recht wenig davon. Und das hat leider auch seinen Grund.

Unser kurzer Predigttext schließt mit den Worten. „Das sagte Jesus aber in Bezug auf den Geist, den alle empfangen sollten, welche an ihn glaubten. Denn den (heiligen) Geist gab es (damals zu Lebzeiten Jesu) noch nicht, weil Jesus noch nicht verherrlicht (also gestorben und im Geist auferstanden) war“: Also: Nach Jesu Tod und mit seiner Auferstehung ins Leben der gläubigen Menschen sollen diese den Geist Gottes empfangen, so wie ihn Jesus bei der Taufe empfing. Und mit diesem Geist Gottes, dem Stellvertreter Jesu und Helfer der Menschen, sollen, dürfen ja müssen gläubige Menschen im Geiste Jesus auftreten, sollen, dürfen, ja müssen sie reden wie er, handeln wie er, die Welt gestalten wie er. Das ist toll, das ist anspruchsvoll, leider ist es zu anspruchsvoll.

Denn Frage an uns: Sind wir das denn? Und die eindeutige Antwort. Wir sind es nicht, wohl kaum einer von uns. Wir bleiben meilenweit hinter diesem Anspruch zurück. Aus uns fließen nicht Ströme lebendigen Wassers, so dass keinem mehr dürstet. Wir sind trotz unsres bekennenden Glaubens leider – Gott sei‘s geklagt -- recht mittelmäßig, ja dürftig. Dabei ist uns doch der Geist Gottes zugesagt. Jesus sagte am Ende seines Lebens selbst zu seinen Jüngern (und  sicher auch Jüngerinnen). Wenn ich mal fort bin, so kommt der Geist als mein Stellvertreter auf euch, dringt in euch ein und dann könnt ihr reden und handeln und lebenwie ich. Pfingsten  ist ja dann das Fest wo er der Geist Gottes auf alle Gläubigen verschwenderisch ausgegossen wurde. Wir haben ja die Chance und auch die Aufgabe, in seinem Sinne zu handeln, zu reden, zu leben. Doch wir tun es leider nicht oder eben im besten Sinne, viel zu wenig, Gott sei‘s geklagt.

5.
Und da sind wir eben am Ende wieder bei Luther und bei der Reformation. „Hier stehe ich – ich kann nicht anders – Gott helfe mir“ Und weiter „Der Christ ist (im Glauben) ein freier Mensch und niemanden untertan. Der Christ ist (in der Liebe) ein dienstbarer Knecht und jedermann untertan“.- Das ist, Wort für Wort, Jesus pur. So hätte er aus seinem unbändigen Vertrauen auf Gott, seinem liebenden Vater, auch reden können. An dieser Stelle sind Luther und Jesus, so sehr sie auch vieles trennt, so sehr Luther niemals an die Glaubenskraft Jesu herankommt, so sehr er das auch selbst weiß und sich über sich beklagt - doch an dieser Stelle sind sie identisch. Der Christ, ja jeder Mensch ist „reichsunmittelbar“ zu Gott und keine Kirche, kein Priester, kein Bischof, kein Schriftgelehrter, kein neunmal kluger Theologe hat ihm da dazwischen zu reden.

Diese Einsicht hat Luther sich hart erkämpft im Ringen mit Gott, bis er den gnädigen Gott für sich entdeckt hat, der ihn nicht strafen will ob alle seiner falschen Taten und seines Irrglaubens, sondern der ihn beflügeln, ermuntern anstacheln will zu einem Gott wohl gefälligen Leben in dieser Welt. „Es ströme aber wie Wasser das Recht und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach“ (Amos 5,24), wie es 700 Jahre vor Jesu bereits der Prophet Amos ausgedrückt hat, auch er ein Reformator seiner Zeit, der sich mit König und Priesteraristokratie als einfacher Viehhirt und Maulbeerbaumzüchter (Amos 7,14) angelegt hat: Ja, eine klare Linie führt vom Viehhirten Amos aus der Provinz zum Zimmermannssohn Jesus aus der Provinz hin zum kleinen Mönch der Provinz aus Wittenberg.

Und wohin führt diese Linie heute weiter? Wo können wir sie heute entdecken? Jetzt gerade in Wittenberg auf den Elbwiesen, wenn 100.000 Menschen die schönen Worte von Frau Käßmann oder Herrn Bedforth-Strohm oder wen auch immer lauschen? Hoffentlich! Ich würde es mir sehr wünschen. Und ich sage jetzt nicht: Leider nicht. Denn ich vertraue darauf, dass der Geist Jesu auch heute in Wittenberg sein Wesen treibt, dass er die Menschen, die da reden und singe und spielen mit Vollmacht erfüllt und dass sie alle zusammen vollmächtig wie Jesus von Gottes Liebe zu uns allen Zeugnis ablegen. Ach was, nicht nur Zeugnis ablegen, sondern diese Liebe Gottes auch leibhaft wahr werden lassen, mitten unter uns.

Das ist dann Reformation heute. Reformation unserer Herzen, Reformation unseres Handelns. Vielleicht gar Reformation unseres Glaubens.

Perikope
28.05.2017
7,37-39