"Kleine Träume zu haben ist gut"
16,11-21

Predigt von Annette Kurschus, Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen, über 2. Mose 16, 11-21 im ZDF-Fernsehgottesdienst am 11. Oktober 2015 in der St. Petri-Kirche in Dortmund

Die Gnade Gottes, die Liebe Jesu Christi und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen!

 

I.

Liebe Gemeinde vor Ort und zu Hause,

da, wo sonst Trolleys rollen, wo Leute in Geschäftskleidung, mit dicken Terminkalenden und knappen Verbindungen auf die Bahnsteige eilen, da liegen Menschen auf dem polierten Fliesenboden. Menschen mit Plastiktüten, ohne Termine und mit abgerissenen Verbindungen. Sie suchen Schlaf oder wenigstens Ruhe.

Und als es sie es sahen, sprachen sie: Was ist denn das?

Da, wo sonst flinke Füße flitzen und zu kurzen Sprints ansetzen, wo bunte Linien Spielfeld und Regeln vorgeben, wo Bälle hin und her fliegen, da stehen Feldbetten. Damit es erst einmal ein Dach über dem Kopf gibt; damit ein langes und langsames Ankommen anfangen kann.

Und als sie es sahen, sprachen sie: Was ist denn das? Denn sie wussten nicht, was es war.

Da, wo sonst die Half- und Fullpipes stehen, auf denen Jumps und Flips geübt werden – in der Skater-Halle des Dietrich-Keuning Hauses –, da stehen Menschen, junge und alte, Männer und Frauen, manche in Helferuniform, andere mit Kopftuch und langen Röcken, wieder andere in Jeans und Lederjacke. Inmitten von Kleiderbergen sortieren sie Hosen, Hemden, Pullis, Jacken und Decken. Sie sind erschöpft, sie arbeiten fast bis zum Umfallen – und sind doch zufrieden wie selten.

Und siehe, da lag’s in der Wüste, rund und klein wie Reif auf der Erde, und als sie es sahen, sprachen sie: Man-hu? Was ist denn das? Denn sie wussten nicht, was es war.

 

II.

Ja, wenn wir das so genau wüssten, liebe Gemeinde hier in St. Petri, in Dortmund und anderswo, nicht wahr?

Was das ist, was wir da sehen und erleben dieser Tage?

Manchmal ganz buchstäblich auf den Böden unserer Bahnhöfe und Turnhallen, in unseren Einkaufszentren, Schulklassen und Bürgerämtern, vor den Mikrophonen der Talkshows, in den Kommentarspalten unserer Zeitungen, auf den Plakaten der Begrüßungskomitees. Am eindrücklichsten auf den Gesichtern derer, die ankommen, und derer, die helfen.

Beinahe immer meine ich diese "Was ist das?"-Frage zu erkennen; dieses zögerliche Staunen. Zugleich das Eingeständnis: So war es bisher noch nie. Und die Sorge: Wer weiß, wie es wird?

Mindestens das, so scheint es, haben wir also schon einmal gemeinsam. Sie, die da zu uns kommen, in ein Land, in dem sie noch nie waren und in dem fast alles anders ist als sie es kennen.

Und wir, die wir schon immer hier sind oder schon lange und neuerdings doch zweimal hingucken müssen, um uns zurechtzufinden. Wir, die wir uns zur Zeit womöglich selbst ein wenig fremd geworden sind und ahnen, dass auch hier bei uns nicht alles bleiben kann, wie wir es kannten.

Merkwürdig, nicht wahr? Vor kurzem noch haben wir uns gewundert und gefreut über uns selbst und über all die anderen. Über so viel Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft. Über unerwartet tiefe und handfeste  Solidarität so vieler Menschen. Merkwürdig auch, wie schnell uns die Angst zurückhat. Die Angst vor der eigenen courage. Wie sich sogar Abwehr und Feindseligkeit melden. Wie schnell uns unbehaglich geworden ist angesichts dessen, was auf einmal gar nicht mehr selbstverständlich scheint.

 

III.

"Schaffen wir das?"

"Wie geht das weiter?"

"Wie soll das werden?"

Eigentlich sind das die Fragen derer, die zu uns kommen.

"Schaffen wir es raus aus der Stadt, schaffen wir es über die Grenze?"

"Wie geht es dann weiter bis zur Küste?"

"Schaffen wir es übers Mittelmeer?" 

Und vor allem: "Was wird aus denen, die zurückbleiben?"

Wir sollten diese Fragen nicht vergessen, wenn jetzt auch wir selbst so fragen – so ähnlich und doch ganz anders. Wir mit unsern Trolleys und Skateboards, mit unseren Turnhallen und Einkaufszentren.

"Schaffen wir das?"

"Wie geht das weiter?"

"Wie soll das werden?"

Die Menschen, die so fragen in der biblischen Geschichte, sind auf dem Weg in ein neues Land. Hinter sich gelassen haben sie Fesseln, Schlagstöcke und Folterwerkzeuge. So, wie es derzeit viele Menschen weltweit tun und tun müssen. Längst nicht alle kommen zu uns.

Hinter sich gelassen haben sie die trügerische Vorstellung, man könne, selbst wenn ringsum Krieg und Gewalt toben, wenn es ausbeuterisch und unterdrückerisch zugeht, doch wenigstens selbst so weitermachen wie bisher. Man dürfe nur nicht so genau hinschauen, dürfe sich nicht zu tief einlassen und müsse sich abschirmen gegen die Not der anderen.

(Hier werden Bilder vom "Goldenen Wunder", dem Altar in St. Petri, eingeblendet: Die Heiligen Drei Könige und die Flucht nach Ägypten.)

So also sind die Flüchtlinge losgegangen – wie zu Weihnachten Joseph losging, erst aus Nazareth, dann aus Bethlehem gleich nach der Geburt mit Maria und dem neugeborenen Jesus. Sie mussten damals fliehen um ihr nacktes Leben, weil da ein Diktator und seine Soldateska mordeten.

Womöglich gleicht unser Weg eher dem der Heiligen Drei Könige.

Die hatten Gott in der Verletzlichkeit eines Kind gefunden und angebetet. Und plötzlich – so erzählt die Bibel – waren sie sicher, dass sie unmöglich so weitergehen konnten wie sie herkommen waren. Und sie zogen, so heißt es, auf einem anderen Weg wieder zurück in ihr Land.

 

IV.

Aber dieser andere Weg ist weit. Sehr weit. Auch für uns. Vor denen, die sich aufmachen ins Neuland, liegt die Wüste. Dort ist es großartig. Und dort ist es beängstigend.

Großartig, weil alle spüren, wie sie zusammengehören, wie sie aufeinander angewiesen sind. Großartig, weil sie ein Gefühl dafür entwickeln, was wirklich wichtig und was nur nebensächlich ist. Und dass es auf jeden und jede ankommt. Genau das haben viele Helfer und Helferinnen in den letzten Wochen auf den Bahnsteigen und in den Aufnahme-Einrichtungen erfahren: "Wir haben vielen Menschen ein kleines Geschenk gemacht", so formuliert es eine, "und haben ein riesengroßes zurückbekommen."

Ja wirklich, es ist großartig dort auf dem anderen Weg.

Und: Es macht Angst. Dort, in der Wüste, wissen sie nicht, was vor ihnen liegt. Es gibt helfende Hände und hitzige Köpfe; es gibt wunde Füße und blanke Nerven. Alle ahnen – und sehr bald wissen sie es –, dass es anstrengend sein wird, richtig anstrengend. Es wird auf und ab gehen, bisweilen auch drunter und drüber. Auch das ist die Erfahrung vieler, die sich tatkräftig einsetzen.

Ja wirklich, er verunsichert, der andere Weg. Der Weg in das neue Land. Die Tage sind lang, die Nächte kurz. Und die Fragen hartnäckig:

"Schaffen wir das?"

"Wie geht das weiter?"

"Wie soll das werden?“

 

V.

Und am Morgen lag Tau rings um das Lager. Und als der Tau weg war, siehe, da lag’s in der Wüste rund und klein wie Reif auf der Erde. Und als sie es sahen, sprachen sie zueinander: Man hu - Was ist denn das? Denn sie wussten nicht, was es war. Mose aber sprach zu ihnen: Es ist das Brot, das Gott euch zu essen gegeben hat.

Da liegt es also, das Brot, das Gott zu essen gibt. So durchsichtig, so dünn, so unscheinbar und so flüchtig wie Tau. So selbstverständlich, so zart, so erfrischend und so glänzend wie Tau. Taufrisch eben. Da liegt es also, das Brot, das Gott zu essen gibt.

Ein Geschenk des Himmels, wie es der Altar hier in der Kirche ins Bild setzt.
(Hier wird das Bild vom Altar eingeblenet, das die Manna-Lese darstellt)

Die Geschichte verspricht: Es liegt da jeden Morgen. Ein Zeichen der Freundlichkeit und Gerechtigkeit Gottes.

Gewiss, die Wüste ist immer noch Wüste, großartig und verunsichernd. Doch jetzt ist da plötzlich mehr als Wüste. Mehr als das Großartige, das wir leisten. Und mehr als das Unwägbare, das wir fürchten. Mehr übrigens auch als der große Traum von der großen Lösung. Mehr als die Vorstellung eines Rundum-sorglos-Paketes, das auf gigantische Weise vom Himmel fällt. Mehr als das fahle Versprechen von dem einen starken Mann, der einen knallharten Maßnahme.

"Man muss", sagt ein junger Syrer im Zeitungsinterview nachts vor seiner Unterkunft – "man muss kleine Träume haben. Kleine Träume zu haben ist gut."

Und ich ahne: Was dieser junge Syrer erfahren hat auf den Wegen seiner Flucht; was er über sich und seine persönlichen Hoffnungen sagt, das könnte auch für uns zutreffen. Für uns, die wir als Land und als Gesellschaft zwischen übergroßen Erwartungen und übergroßen Angstträumen hin- und hergerissen sind.

"Man muss kleine Träume haben. Kleine Träume zu haben ist gut.“

 

VI.

Das Brot, das der Gott der Freiheit, der Gott des anderen Wegs seinen Leuten zu essen gibt, ist rund und klein. Manchmal ist weniger mehr. Es ist klein, damit es nicht hindert auf dem Weg, der vor ihnen liegt.

Einsammeln müssen sie´s. Jeder Mann und jede Frau, jeweils für die Menschen, die ihm und ihr anbefohlen sind. Alle sollen merken: Ich selbst bin gefragt. Wirklich auch ich kann und soll mitmachen. Auf mich kommt es an.

Viele hier in Dortmund haben mitgemacht und tun es immer noch.

Gleichmäßig und gerecht verteilt ist es, das Brot, das der Gott der Freiheit und des anderen Wegs seinen Leuten zu essen gibt. Überraschend gleichmäßig und überraschend gerecht verteilt:

Denn als man’s nachmaß, da hatte der nicht zu viel, der viel gesammelt hatte, und der nicht zu wenig, der wenig gesammelt hatte.

Darauf – davon bin ich überzeugt – wird es auch für uns ankommen. In unserem insgesamt reichen Land, in dem schon jetzt doch Viele zu wenig haben. Gewiss, wir sind alle gerufen, uns betreffen zu lassen von der Not derer, die uns kommen. Und: Wir werden auch unter uns nachmessen und sehr genau hinsehen müssen. Damit nicht diejenigen noch weniger erhalten, die jetzt schon zu wenig haben. Das heißt: Unter uns sind auch und gerade diejenigen gefragt, die viel und zu viel haben.

Und sie sammelten alle Morgen, soviel ein jeder zum Essen brauchte. Und wo sie vorsichtshalber etwas aufbewahren wollten für den nächsten Morgen, da wurde es voller Würmer und stinkend.

 

VII.

Das Brot, das der Gott der Freiheit gibt – so erzählt es die Bibel –, hat das Gottesvolk Israel vierzig Jahre lang genährt. Täglich neu, taufrisch, verlässlich, klein und gerecht, funkelnd wie Raureif. Und das, was nicht gesammelt wurde, so heißt es, sei in der Wüstensonne geschmolzen.

Dann sei es – so erzählt eine jüdische Legende weiter – zu Bächen geworden und zu allen Völkern geflossen, so dass Tiere und Menschen davon trinken konnten. Seitdem ist der Geschmack der taufrischen Freundlichkeit und Gerechtigkeit Gottes nicht mehr aus der Welt zu schaffen.

Wer weiß, womöglich können wir ihn noch schmecken, diesen göttlichen Geschmack? In den Wasserflaschen, die auf unseren Bahnhöfen und in unseren Turnhallen verteilt werden. Vielleicht sogar in dem Bier an unseren Stammtischen und auf unseren Volksfesten. Und in dem Kaffee auf unseren Kabinetts- und Konferenztischen.

Lassen Sie sich´s schmecken. Aber: Schmecken Sie genau hin!

Amen.

 

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserm Herrn.