BITTE UM NEUEN SEGEN
85 1Ein Psalm der Korachiter, vorzusingen.
2 Herr, der du bist vormals gnädig gewesen deinem Lande und hast erlöst die Gefangenen Jakobs;
3 der du die Missetat vormals vergeben hast deinem Volk und all ihre Sünde bedeckt hast; – SELA –
4 der du vormals hast all deinen Zorn fahren lassen und dich abgewandt von der Glut deines Zorns:
5 Hilf uns, Gott, unser Heiland, und lass ab von deiner Ungnade über uns!
6 Willst du denn ewiglich über uns zürnen und deinen Zorn walten lassen für und für?
7 Willst du uns denn nicht wieder erquicken, dass dein Volk sich über dich freuen kann?
8 Herr, zeige uns deine Gnade und gib uns dein Heil!
9 Könnte ich doch hören, was Gott der Herr redet, dass er Frieden zusagte seinem Volk und seinen Heiligen, auf dass sie nicht in Torheit geraten.
10 Doch ist ja seine Hilfe nahe denen, die ihn fürchten, dass in unserm Lande Ehre wohne;
11 dass Güte und Treue einander begegnen, Gerechtigkeit und Friede sich küssen;
12 dass Treue auf der Erde wachse und Gerechtigkeit vom Himmel schaue;
13 dass uns auch der Herr Gutes tue und unser Land seine Frucht gebe;
14 dass Gerechtigkeit vor ihm her gehe und seinen Schritten folge.
[I. Einleitung]
Salzige Tränen rollen über das zerfurchte Gesicht der alten Frau. Die Mutter hat ihren Sohn auf grausame Weise verloren. Neben ihr hat eine andere ihre von der Arbeit auf dem Land geprägten Hände verkrampft ineinander gelegt. Sie weiß nicht, was es mit ihrem Mann auf sich hat. Wieder andere schweigen, die Lippen aufeinander gepresst, gelegentlich öffnen sie sich zu einem „Ach“ und „Wie lange noch?“. Die anwesenden Männer wirken ratlos und eher abwesend. Die Kinder sind leise, staunen mit großen Augen, was sich hier abspielt. Manche schluchzen leise. Die Männer bleiben stumm.
Das angebrochene Heil ist ganz in die Ferne gerückt: 5 Hilf uns, Gott, unser Heiland, und lass ab von deiner Ungnade über uns!
Da erhebt sich aus dem Kreis der Sänger ein Mann. Er ist es gewohnt, zu lauschen, zu hören, auf die geheimnisvolle Stimme; sie zu deuten und davon zu reden, was sich aus dem Schweigen herausschält. Er weiß, dass Gott zu ihm reden will. Was ist Gottes Antwort auf die Klagelieder, die Tränen? Er hört hin, vergewissert sich im Hören. Dann steht er auf. Er redet. Wie ein Prophet. Aus alter Zeit. Er gibt weiter, was die göttliche Stimme ihm sagt: Friede sei mit euch. Heil soll es sein! Gut soll es werden.
Gott sendet ihn, die Betrübten zu trösten, damit sie nicht in Verzweiflung verfallen. Hoffnungsworte und die bedrückende Wirklichkeit gilt es miteinander zu beschränken und zu verschränken.
Gott, erinnerst du dich? Wie gütig warst Du zu uns! 2 Herr, … du bist vormals gnädig gewesen deinem Lande. Du hast erlöst die Gefangenen Jakobs; 3 du hast doch deinem Volk die Missetat vormals vergeben. Du hast all ihre Sünde bedeckt hast; – SELA – 4 Du hast vormals all deinen Zorn fahren lassen und dich abgewandt von der Glut deines Zorns…
In der Urzeit, bei der großen Flut, beim Auszug aus Ägypten hat er sie gerettet. Er hat die Völker vertrieben wie bei der Landnahme, alle Bedränger machtvoll zurückgeschlagen wie zur Zeit der Richter. Gott hat seine Verheißungen nach dem Exil in Babylon wahrgemacht, hat seinem Volk die Zukunft eröffnet, dem Volk, das jetzt so gefährdet ist. So erinnert Israel Gott an seine Gnade. Du und ich werden eigene Beispiele zu nennen wissen.
[II. Willst Du uns denn nicht wieder erquicken? – Klage]
Schmerz, Elend, Krankheit, all dies sind ambivalente Bestandteile der Welt. Jede und jeder von uns macht damit auf unterschiedliche Weise Erfahrungen. Wir tun nicht so, als gäbe es das alles nicht, als wären alle Dinge gut. Die Bedingungen, dass es anders sein könnte, sind momentan nicht gegeben. Grund zur Klage gibt es: 5 Hilf uns, Gott, unser Heiland, und lass ab von deiner Ungnade über uns!
Die Beter trauen sich damit etwas: Sie wollen auf Gott einzuwirken. Sie setzen alles daran, dass ihre Klage gehört, erhört und gewendet wird. Sie appellieren an Gottes Güte: 6 Willst du denn ewiglich über uns zürnen und deinen Zorn walten lassen für und für?
Das Klagen, Flehen, die Anklage und das Argumentieren findet seinen Höhepunkt in einem Sprachbild: 7 Willst du uns denn nicht wieder erquicken, dass dein Volk sich über dich freuen kann?
Ach, könnten wir auch in unserer Zeit solche Worte hören. In einer Zeit, die von Leid und Trauer über die endgültige Macht des Todes erfüllt ist. Eine Zeit, in der sich die Ernüchterung breit macht. Nichts ist mehr wie vorher. Eine Zeit, in der die Sehnsucht nach Freude und Gemeinschaft alles andere überwiegt. Du Gott, bist in Jesus Christus unser Heiland, der Retter und Erlöser in aller Not: 8 Herr, zeige uns deine Gnade, gib uns dein Heil!
[III. Könnte ich doch hören – Sehnsucht]
9 Könnte ich doch hören, was Gott der Herr redet, dass er Frieden zusagte seinem Volk und seinen Heiligen…
Die Bedeutung dieser geprägten Worte aus Psalm 85 liegt darin, dass sie schon seit langer Zeit gebetet wurden und bis heute gebetet werden. Wenn Du diese Worte nachsprichst, betest du. Du wirst hineingenommen in das Zweifeln und Fragen, das Suchen und Sich-nach-dem-Ewigen-Ausstrecken, nach dem Gott, der Gnade schenkt und sein Heil gibt. Wie in sehnsuchtsvoller Zeit, damals in Israel. Du spiegelst deine Sehnsucht nach Gott, nach seiner Gnade, seinem Heil, nach Trost und Zuversicht in den Worten der Psalmen. Heute, wenn Du solche Worte betest, hast Du es mit realer Gegenwart zu tun!
Beten, das Reden mit Gott, heißt: Nichts wird verschwiegen! Alles hat im Gebet Platz: Die Widersprüche im Leben. Der Tod und seine Endgültigkeit. Unsere Machtlosigkeit angesichts größerer Katastrophen und Krisen. Die dadurch empfundene Ambivalenz im Glauben. Die Wut und selbst der Wunsch nach Vergeltung, wo uns Unrecht widerfahren ist. Im Gebet kommt das wirkliche Leben vor. Alles das, was Dich bewegt. Ohne Wenn und Aber.
Das aufmerksame Beten wird – im Abgleich mit solchen Worten: 9 Könnte ich doch hören, was Gott der Herr redet mit einer anderen Sicht versehen. Das Beten wird dadurch ergänzt. Gelegentlich korrigiert.
Im Gottesdienst betest Du nicht allein. Mit Dir sprechen andere Menschen mit sehr unterschiedlichen Erfahrungen und mit unterschiedlichsten Gründen eben diese Worte der Sehnsucht, der Klage und des Lobes. Sie sprechen und beten solche Worte in ihrer eigenen Lage mit.
Wir sprechen einen Psalm, beten ihn hier oder Zuhause, weil wir empfinden, dass wir in ihm vorkommen! Unsere, deine und meine eigenen Erfahrungen und Empfindungen lassen sich damit in Worte kleiden. Unsere Sorgen und Nöte sind darin aufgehoben – sie verschwinden nicht darin, nein – unsere Sorgen und Nöte sind darin geborgen, haben dort einen Platz und Raum.
[IV. Deine Hilfe ist nahe – Wo Güte und Treue, Gerechtigkeit und Friede sich begegnen]
9 Ich will hören, was Gott spricht; der HERR, er verkündet Frieden seinem Volk…“ Nicht nur jener Einzelne, der in Psalm 85 zu Wort kommt, kann hören, wie Gott seinem Volk Frieden verkündet. Das können auch wir. In jedem Gottesdienst wird uns Gottes Frieden zugesprochen.
Gottes Zusage ist eine Antwort auf unsere Sehnsucht. Unsere Antwort auf Gottes Zusage findet Ausdruck in Gebet und Lied. Wir erinnern uns an Gott als Schöpfer und Erhalter der Welt.
Jede und jeder, die sich mit der Landwirtschaft und dem Ackerbau beschäftigen, wissen: Pflanzen ohne Wasser und gutes Erdreich können nicht gedeihen. Wie Pflanzen in einem dürren, ausgetrockneten Land nach Wasser lechzen, so wird um Erquickung gebeten. Wasser soll das Land wieder fruchtbar werden lassen. Neues Leben soll möglich werden. Letztlich wird damit Gott bei seiner Ehre gepackt: Du bist der Gott des Lebens! Tue uns Gutes! Lass uns aufatmen. Schenke uns neue Lebensperspektiven! Beim Besuch am Grab von Angehörigen; im Trauercafé; am Denkmal.
Gott macht alles neu. Und zwar so, 10 …, dass in unserm Lande Ehre wohne; 11 …, dass Güte und Treue einander begegnen, Gerechtigkeit und Friede sich küssen; 12 dass Treue auf der Erde wachse und Gerechtigkeit vom Himmel schaue; 13 …, dass uns auch der Herr Gutes tue und unser Land seine Frucht gebe…“
[V. Ausblick]
Schönste Worte wählt er, die ein Mensch in den Mund nehmen mag, um Gottes Gnade auszumalen: Hilfe, Herrlichkeit, Gnade, Güte, Treue, Gerechtigkeit! Er redet von ihnen als wären sie konkrete Figuren. Güte und Treue begegnen sich. Wie von zwei Enden her gehen sie aufeinander zu. Gerechtigkeit und Frieden liegen sich in den Armen, küssen sich…
Ist das eine Perspektive für die Zukunft? Erleben wir etwas davon schon in unserer Zeit, in diesen Tagen und Wochen? Ich glaube schon. Die Frauen, die Kinder, die Männer … ihre Gesichter hellen sich auf angesichts solcher Hoffnungsbilder…
Unser Leben setzt sich fort in einem ewigen Lied.
Steigt empor aus den Klageliedern der Welt.
Ich höre davon in einer noch entfernten Melodie,
die nach einer neuen Schöpfung klingt.
Sie ruft ein Echo in meiner Seele hervor
Wie könnte ich nicht davon singen?
Ich erfahre in Wahrheit, was Leben heißt.
Selbst in größter Trübsal und Finsternis
weckt die Melodie meine Sinne – mitten in der Nacht.
Kein Sturm kann meine innere Ruhe unterkriegen,
weil ich an diesem Felsen festhalte.
Die Liebe ist Herr im Himmel und auf Erden.
Selbst wenn der Hauch des Todes nach mir greift,
wenn Scham die Freunde verlegen macht:
Wie könnte ich nicht davon singen?
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich habe das Kirchenjahresende mit Herbststimmung und Gedanken über Tod und Sterben assoziiert – jedenfalls bei der von mir erwarteten älteren Generation, die den Gottesdienst besucht. Ich möchte diese Stimmung in meiner Predigt wahrnehmen und mit dem Predigttext in Beziehung setzen.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Ich möchte gerne den kompletten Psalm in der Predigt abbilden – dadurch wird sie etwas länger; ich nehme es in Kauf. Vielleicht erschließt sich Psalm 85 den Zuhörerinnen und den Zuhörern neu.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Mir geht der Satz nach „Könnte ich doch hören, was Gott sagt…“. Wegweisung, Orientierung für meinen Dienst wünsche ich mir auch – und weiß, es erschließt sich mir in der Beschäftigung mit Gottes Wort. Davon will ich reden und der Gemeinde Trost und Zuversicht zusprechen.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Begleitung durch (m)einen Coach ist für mich wertvoll. Sie las den ersten Entwurf, ergänzte ihn durch kluge Fragen und Anregungen. Die Predigt hat dadurch deutlich gewonnen. Die eher passive Sprache wurde aktiver und der Gegenwartsbezug betonter hervorgehoben. Es gibt eine fachliche Rückmeldung durchs Coaching – das tut mir als Prediger sehr gut und macht mich auf Sprache, Duktus und Bezug für andere Predigten, die ich anfertige, aufmerksamer.