Komm, Herr Jesus, sei unser Gast - Predigt zu Lukas 7,36-50 von Matthias Loerbroks
7,36
Einer der Pharisäer bat ihn, mit ihm zu essen. Und er kam hinein in das Haus des Pharisäers und legte sich zu Tisch.
  Und siehe! Eine gewisse Frau war in der Stadt, eine Sünderin, und als sie erkannte, dass er im Haus des Pharisäers zu Tische lag, brachte sie Salböl,
  stellte sich hinter ihn zu seinen Füßen, weinte und begann mit ihren Tränen seine Füße zu benetzen, trocknete sie mit den Haaren ihres Kopfes und küsste seine Füße und salbte sie mit dem Salböl.
  Als das der Pharisäer sah, der ihn geladen hatte, sprach er zu sich selbst: Der, wenn er ein Prophet wäre, dann müsste er erkennen, wer und was für eine Frau diese gewisse ist, die ihn berührt, dass sie eine Sünderin ist.
  Jesus antwortete und sprach zu ihm: Simon, ich habe etwas mit dir zu besprechen. Der aber: Lehrer, sprich, sag an.
  Ein Geldverleiher hatte zwei Schuldner. Der eine schuldete ihm 500 Denare, der andere 50.
  Da sie nicht hatten, ihm wiederzugeben, schenkte er es beiden. Wer von ihnen wird ihn mehr lieben?
  Simon antwortete und sprach: ich nehme an, der, dem mehr geschenkt wurde. Er aber sprach zu ihm: du hast richtig geurteilt.
  Und er wandte sich zu der Frau und sprach zu Simon: Erblickst du diese Frau? Ich kam hinein in dein Haus, und du hast mir kein Wasser auf die Füße gegeben. Sie aber hat meine Füße mit ihren Tränen benetzt und mit ihren Haaren getrocknet.
  Du hast mir keinen Kuss gegeben, sie aber hat, seit sie hereinkam, nicht aufgehört, meine Füße zu küssen.
  Du hast meinen Kopf nicht mit Öl gesalbt, sie aber hat mit Salböl meine Füße gesalbt.
  Dank dessen sage ich dir: Ihre Sünden sind erlassen, die vielen, denn sie hat viel geliebt; wem wenig erlassen ist, der liebt wenig.
  Zu ihr sprach er: deine Sünden sind erlassen.
  Und die mit zu Tisch lagen, fingen an unter sich zu sprechen: Wer ist dieser, der sogar Sünden erlässt?
  Er aber sprach zu der Frau: dein Vertrauen hat dich befreit. Geh in Frieden.
  
   Wer Jesus einlädt, kann sich auf allerhand gefasst machen. Komm, Herr Jesus, sei unser Gast – das klingt harmloser als es ist. Jesus kommt selten allein, er ist und isst selten allein. Kurz zuvor hatte Jesus selbst eingeräumt, dass ihm grad in dieser Hinsicht bereits ein Ruf vorauseilt: Er isst und trinkt, und ihr sagt: siehe, ein Schlemmer und Weintrinker, ein Freund von Zöllnern und Sündern.
  
  Jemanden zum Essen einladen oder zum Essen eingeladen werden, das ist ja nicht nur im Orient mit seiner sprichwörtlichen Gastfreundschaft ein Zeichen von Gemeinschaft, Freundschaft, Zuneigung. Und Gespräche bei Tisch verlaufen anders, ausführlicher, genussvoller als wenn man sich bloß auf der Straße trifft, im Büro oder im Treppenhaus.
  
  Und so wie Jesus lebt, ist er darauf angewiesen, immer wieder zum Essen eingeladen zu werden. Er hat keinen festen Wohnsitz, kein regelmäßiges Einkommen. Er setzt darauf, dass es Leute gibt, die ihn freihalten, und fährt damit ganz gut.
  
  Hier lädt ihn einer ein, der weder ein Zöllner ist noch ein Sünder. Ihm ist es ernst mit seinem Glauben, und er versucht, diesem Glauben entsprechend zu leben. Er ist keiner von denen, die zwar Herr, Herr sagen, aber nicht bereit sind, Gottes Willen auch zu tun. Er hat gemerkt, dass ihn das mit Jesus verbindet, und er sucht seine Gemeinschaft. Jesus hat Aufsehen erregt mit seinen Worten und Taten; ein großer Prophet ist unter uns aufgestanden, heißt es von ihm, ein eindrucksvoller Lehrer. Der Gastgeber will nicht nur Jesus was Gutes tun und ihn unterstützen durch seine Einladung, er erhofft sich auch für sich selbst was von dieser Begegnung. Weil er selbst danach strebt, das Wort Gottes nicht nur zu hören, sondern auch zu tun, kann er nur lernen von diesem Lehrer und ist gespannt auf die Worte dieses Propheten. Propheten sind Menschen, die die Gabe haben, das Wort Gottes zuzuspitzen aufs Jetzt und Hier, Gottes Willen konkret und aktuell aussagen können. Wer also diesen Willen tun will, dem kann gar nichts besseres passieren, für den kann es kaum was wichtigeres geben als ein Gespräch mit diesem Propheten. Lehrer, nennt er ihn, Meister. Und er wird auch von ihm lernen, wenn auch vielleicht anders als er dachte.
  
  Siehe! Da!, heißt es plötzlich: ein Bruch, eine Unterbrechung, fast ein Einbruch. Eine Frau tritt auf, sie ist offenbar stadtbekannt als Sünderin, ist berüchtigt. Sie kommt einfach rein – die Einladung an Jesus ermöglicht auch ihr den Zugang in eine Welt, die ihr zuvor verschlossen war. Auch sie hat von Jesus gehört, auch sie hat große Erwartungen an ihn. Sie hat erkannt, dass eine Begegnung mit Jesus ihr Leben ändern wird, sie befreien wird von der Last eines schweren, mühseligen und beladenen Lebens und davon, gemieden, verachtet zu werden. Und vielleicht ist das auch schon geschehen in dem Moment, da sie eintritt, an Jesus herantritt. Die Flasche mit dem Salböl bringt sie ja bereits mit. Der Erzähler lässt offen, wodurch diese Frau so berühmt-berüchtigt geworden ist. Er beschreibt sie als eine unglückliche Frau: sie weint, und zwar so stark, dass sie mit dem Strom ihrer Tränen Jesus geradezu die Füße wäscht, die müden und staubigen Füße eines Mannes, der immerzu unterwegs ist. Doch drückt sich in diesem heftigen Weinen nicht nur ihr Unglück aus, sondern bereits Erleichterung und Entlastung und Befreiung von diesem Unglück. Sie trocknet die tränenüberströmten Füße mit ihren eigenen Haaren, sie bedeckt diese Füße mit Küssen und salbt sie schließlich mit dem Öl, das sie mitgebracht hatte. Eine fast stumme Szene, zärtlich, intim, anrührend, voller Liebe.
  
  Während Jesus sich diese Berührung ruhig gefallen lässt, weder zurückzuckt noch zu trösten versucht oder sich nach dem Grund ihres Weinens erkundigt, ist sein Gastgeber eher peinlich berührt: eine Sünderin, eine kaum noch umstritten zu nennende Frau berührt diesen Mann küsst ihn. Wenn der wirklich ein Prophet wäre, dann müsste er erkennen, was für eine Frau das ist, die ihn da berührt. Ein Prophet, das ist jemand, der durchblickt. Der sich nicht blenden, nicht täuschen lässt, auch nicht schmeicheln. Zum zweiten Mal fällt hier das Wort erkennen. Die Frau hatte in Jesus die Chance einer großen Entlastung und Befreiung erkannt, die Chance einer völligen Veränderung, die Hoffnung, ihr bisheriges Leben loszuwerden, ein neues Leben zu beginnen, geschenkt zu bekommen. Der Mann erwartet von Jesus kalte, schneidend scharfe Erkenntnis, die nichts verändert, sondern – im Gegenteil – festlegt und festnagelt. Ungerührte und unberührte Erkenntnis, distanziert, von außen. Die Begegnung zwischen dieser Frau und Jesus wird für den Gastgeber zum Test, ob es sich bei Jesus tatsächlich um einen Propheten handelt, von dem zu lernen ist: blickt er durch? Oder ist er naiv und blind? Bestechlich?
  
  Auf etwas ironische Art stellt sich Jesus diesem Test. Nämlich nicht dadurch, dass er demonstriert, diese Frau durchschauen zu können. Sondern indem er seinen Gastgeber durchschaut, deutlich macht, dass er dessen Gedanken lesen kann: Simon, ich habe dir etwas zu sagen. Er ruft ihn bei seinem Namen, versucht seine Person zu erreichen und zu berühren, ihn aus seiner Distanziertheit zu lösen, und er tut das, indem er ein Gleichnis erzählt und so das Geschehen, das seinem Gastgeber fremd und unbehaglich ist, verständlich zu machen, nah zu bringen als Reich-Gottes-Geschehen, als Teil der großen Befreiungsaktion Gottes, für die Jesus gekommen ist. Zwei Menschen werden Schulden erlassen, dem einen eine beträchtliche, dem anderen eine ungeheure Summe. Beiden fällt ein Stein vom Herzen, aber ein unterschiedlich großer. Wer von den beiden wird den großzügigen Geldgeber mehr lieben? Jesus scheut sich nicht einzuräumen, dass Liebe durchaus auch materielle Motive hat, und er scheut sich auch nicht, Liebe zu quantifizieren: beide lieben ihn, aber einer liebt mehr. Der, dem mehr geschenkt wurde, antwortet sein Gesprächspartner, und nun klingt Jesus wirklich wie ein Lehrer, der mit seinem Schüler höchst zufrieden ist: du hast recht geurteilt. Er, der eben noch aus Distanz urteilte und verurteilte, von außen und auch etwas von oben, der urteilt jetzt recht, denn er ist, angeregt und angeleitet durch das Gleichnis, fähig und bereit dazu, sich mit anderen zu identifizieren, sich in diese beiden Beschenkten hineinzuversetzen und einzufühlen.
  
  Und nun zählt Jesus nochmal in allen Einzelheiten auf, wie innig, zärtlich, herzlich diese Frau ihm begegnet ist und vergleicht jede dieser Einzelheiten mit dem Verhalten Simons, seines Gastgebers. Er macht ihm keinen Vorwurf, zeigt nur auf, wer von den beiden ihn mehr liebt und schließt daraus dem Gleichnis entsprechend, wem mehr geschenkt wurde. Jesus hält gar nichts davon, pauschal, bequem und oberflächlich einfach zu sagen: alle Menschen sind Sünder und bedürfen der Vergebung – als käme es dann auf unsere konkreten Untaten und auch auf ihr Ausmaß gar nicht mehr an. Er guckt genauer hin, sieht Unterschiede in der Verschuldung zwischen diesem Mann und dieser Frau, vor allem aber Unterschiede im Ausmaß ihrer Befreiung und Entlastung und so auch in der Größe ihrer Liebe zu ihm. Ich glaube, er will seinen Gastgeber schon etwas neidisch machen auf diese Frau, jedenfalls aufmerksam darauf, wie viel kärglicher, kühler, zugeknöpfter, steifer seine Zuneigung ist als ihre. Er ist ärmer als sie. Aber natürlich will Jesus nicht, dass es bei Neid bleibt und damit ja auch bei der Distanz. Er will Simon zur Mitfreude motivieren und ihn so auch mitbefreien.
  
  Erst nach diesem langen Werben um Simon spricht Jesus die Frau selbst an: deine Sünden sind dir erlassen. Das klingt nach dieser Vorgeschichte wie eine Entdeckung, eine Deutung. Jesus schließt aus dem Verhalten der Frau, ihrer vielen Liebe, dass ihr viel vergeben, viel geschenkt wurde. Doch Jesus stellt das nicht einfach fest, als wäre er selbst ein distanzierter Beobachter; als hätte er mit dem Geschehen nichts zu tun. Dein Vertrauen hat dich befreit, fügt er hinzu – ihr Zutrauen zu ihm, ihre vorbehaltlose Hingabe hatte diese befreiende Wirkung. Und schließlich: geh in Frieden. Friede mit Gott und mit den Menschen, zufrieden mit dem eigenen Leben – statt Unruhe, Elend, Zerschlagenheit und Zerrissenheit. Es soll nicht bei dieser einen Begegnung bleiben, jedenfalls soll sie nicht folgenlos bleiben. Die Hoffnung der Frau, eine Begegnung mit Jesus könnte ihr Leben ganz und gar ändern und neu machen, war berechtigt, sie wird erfüllt.
  
  Wer Jesus einlädt ins eigene Haus, ins eigene Leben, muss damit rechnen, dass er andere mitbringt, höchst fragwürdige Gestalten auch. Aber das muss uns nicht belasten, bedrücken, beunruhigen. Jesus schafft es, uns zu öffnen, uns distanzierte, zugeknöpfte, kühle Beobachter zur Mitfreude, zur Mitbefreiung zu verführen: zur Liebe. Komm, Herr Jesus, sei unser Gast, mach uns frei, mach uns neu, mach uns lebendig.
  Amen.
  
  Liedvorschläge
  Eingangslied: 309
  zwischen den Lesungen: 299,2-3 oder 114,1-2.6-8
  zwischen Credo und Predigt: 11,3-5 oder 299,2-3
  nach der Predigt: 369,5-6
  zwischen Abkündigungen und Gebet: 365,1-4 oder 368,1-5
  zwischen Gebet und Segen: 10,3 oder 481,3 oder 423,11
  
  Vorschlag fürs Eingangsgebet/Schuldbekenntnis:
  Wir wollen reich sein, Herr, du aber bist um unseretwillen arm geworden. Wir möchten Macht haben, aber du zeigst uns die wahre Macht, die den anderen hilft, die Macht der Liebe. Wir wollen oben stehen, du aber bist den unteren Weg gegangen zu denen, die unten sind, und bist der niedrigste von allen geworden, um allen zu dienen. Darum bitten wir dich: Verwirf uns, die deinen, nicht wegen unseres falschen Denkens und Wollens! Hilf uns, in deiner Richtung zu denken und zu wollen und zu tun, mach uns zu deinen Helfern für deine Hilfe an allen Menschen! Herr, erbarme dich unser!
  
  Helmut Golllwitzer, Gebete. Zusammengestellt und herausgegeben von Wolfgang Brinkel, München 1987, S.13.
  
  Vorschlag fürs Fürbittengebt:
  Herr unser Gott! Wir preisen dich und danken dir, dass du dich aus unbegreiflicher Barmherzigkeit in deinem lieben Sohn so tief erniedrigen wolltest um unseretwillen, um uns in ihm so hoch zu erheben um deiner selbst willen. Wir preisen dich und danken dir für diesen gewaltigen Ratschluss über dein Volk Israel und über die Völker der Heiden, aus denen du unsere Väter berufen hast. Wir preisen dich und danken dir für dein ganzes gnädiges Erwählen und Berufen und dafür, dass du der Gott auch der Verworfenen und Unberufenen bist und nicht aufhörst, dich unser aller väterlich und aufrichtig anzunehmen. Lass uns nicht müde werden, dich in all diesen Geheimnissen zu erkennen und anzubeten und so das Wort im Glauben zu ergreifen, durch das du deine Ehre groß machen und uns mit der ewigen Seligkeit Frieden und Freud geben willst schon in diesem Leben.
  Wir bitten dich für deine Kirche hier und in allen Ländern: für die schlafende Kirche, dass sie aufwache – für die verfolgte Kirche, dass sie deiner Sache immer wieder froh und gewiss werde – für die bekennende Kirche, dass sie nicht sich selbst, sondern allein z deinem Ruhm lebendig sei.
  Wir bitten dich für alle Regierenden und Obrigkeiten in der ganzen Welt: für die guten, dass du sie erhaltest, für die bösen, dass du ihre Herzen umkehrest oder ihrer Gewalt ein Ende setzest nach deinem Wohlgefallen, für alle, dass du dich an ihnen erweisest als der, dessen Diener sie sind und bleiben müssen.
  Wir bitten dich, dass aller Tyrannei und Unordnung gewehrt und allen unterdrückten Völkern und Personen zu ihrem Recht geholfen werde.
  Wir bitten dich für die Armen, Kranken, Gefangenen, Hilflosen, Betrübten, für alle, welche leiden, was vielleicht nur du weißt: Dass du sie tröstest durch dich selber und die Hoffnung auf dein Reich!
  Amen
  
  Karl Barth, Gebete, Zürich 19855, S.29f.
   
Perikope
11.08.2013
7,36