37 1 Des Herrn Hand kam über mich, und er führte mich hinaus im Geist des Herrn und stellte mich mitten auf ein weites Feld; das lag voller Totengebeine. 2 Und er führte mich überall hindurch. Und siehe, es lagen sehr viele Gebeine über das Feld hin, und siehe, sie waren ganz verdorrt.3 Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, meinst du wohl, dass diese Gebeine wieder lebendig werden? Und ich sprach: Herr, mein Gott, du weißt es.
4 Und er sprach zu mir: Weissage über diese Gebeine und sprich zu ihnen: Ihr verdorrten Gebeine, höret des Herrn Wort! 5 So spricht Gott der Herr zu diesen Gebeinen: Siehe, ich will Odem in euch bringen, dass ihr wieder lebendig werdet. 6 Ich will euch Sehnen geben und lasse Fleisch über euch wachsen und überziehe euch mit Haut und will euch Odem geben, dass ihr wieder lebendig werdet; und ihr sollt erfahren, dass ich der Herr bin.
7 Und ich weissagte, wie mir befohlen war.
Und siehe, da rauschte es, als ich weissagte, und siehe, es regte sich und die Gebeine rückten zusammen, Gebein zu Gebein. 8 Und ich sah, und siehe, es wuchsen Sehnen und Fleisch darauf und sie wurden mit Haut überzogen; es war aber noch kein Odem in ihnen. 9 Und er sprach zu mir: Weissage zum Odem; weissage, du Menschenkind, und sprich zum Odem: So spricht Gott der Herr: Odem, komm herzu von den vier Winden und blase diese Getöteten an, dass sie wieder lebendig werden! 10 Und ich weissagte, wie er mir befohlen hatte. Da kam der Odem in sie, und sie wurden wieder lebendig und stellten sich auf ihre Füße, ein überaus großes Heer.
11 Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, diese Gebeine sind das ganze Haus Israel. Siehe, jetzt sprechen sie: Unsere Gebeine sind verdorrt, und unsere Hoffnung ist verloren, und es ist aus mit uns. 12 Darum weissage und sprich zu ihnen: So spricht Gott der Herr: Siehe, ich will eure Gräber auftun und hole euch, mein Volk, aus euren Gräbern herauf und bringe euch ins Land Israels. 13 Und ihr sollt erfahren, dass ich der Herr bin, wenn ich eure Gräber öffne und euch, mein Volk, aus euren Gräbern heraufhole. 14 Und ich will meinen Odem in euch geben, dass ihr wieder leben sollt, und will euch in euer Land setzen, und ihr sollt erfahren, dass ich der Herr bin. Ich rede es und tue es auch, spricht der Herr.
Liebe Gemeinde,
was ist das eigentlich für ein Fest? Das fragen sich bei Pfingsten viele. Wenn sie überhaupt noch fragen. Wir Pfarrerinnen und Pfarrer mühen uns um anschauliche Erklärungen, und so ist eine der beliebtesten Antworten der letzten Jahre die: Pfingsten ist der Geburtstag der Kirche! Ja, und Geburtstage muss man feiern: zum Beispiel mit bunten Luftballons und selbstgebastelten Windrädern, weil es doch um Gottes Geist geht, der luftig ist und voller Energie. Das passt auch in die beginnende Saison der Freiluftgottesdienste. Pfingsten: ein fröhliches und optimistisches Fest, in hellen Farben und mit leichten Stoffen- und passend zum Geburtstag am besten noch mit Sekt und Blumen im Sonnenschein. So stelle ich mir das gerne vor.
In diesem Jahr trifft Pfingsten auf eine ganz andere Stimmung, eine, die nichts mit dem Wetter zu tun hat, aber viel mit der gesellschaftlichen Großwetterlage. Kirche kommt da fast nur noch in Negativschlagzeilen vor. Aus der Kirche austreten ist kein Tabu mehr; im Gegenteil: Inzwischen muss sich erklären, wer noch bleibt. Kirchliche Privilegien werden öffentlich in Frage gestellt. So manches in der Kirche wird geschlossen, abgebaut, fusioniert. Das alles schlägt auf die Stimmung und Motivation derer durch, die sich engagieren, die viel Zeit und Kraft investieren, damit an der Basis etwas passiert. Lohnt sich das noch?
Das Schlimme ist ja: Viel Kirchenkritik speist sich aus Ahnungslosigkeit und Klischees - aber eben nicht alle! Die sog. ForuM-Studie über sexuellen Missbrauch in der evangelischen Kirche hat Übles zutage befördert – nicht nur, was einzelne Täter betrifft, sondern auch im Blick auf Strukturen, die solchen Missbrauch erleichtern und die Schuldigen schützen. Eine geradezu biblische Niedergeschlagenheit macht sich in unserer Kirche breit, die erkennen muss: Wir sind nicht besser als die anderen. Schuld steht im Raum, zumindest durch Unterlassung und Wegschauen. Den Geburtstag der Kirche feiern? Lieber nicht. Die Party ist abgesagt.
Irgendwie passt es da, dass der Predigttext für heute ein Abschnitt aus dem Prophetenbuch Hesekiel ist, der extrem düster daherkommt. (Wir haben ihn eben als Lesung gehört). Der Prophet Hesekiel (oder Ezechiel), der im 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung mit dem Volk Israel ins Exil nach Babylon gegangen ist, berichtet von einer Vision. Wie immer bei ihm fühlt sich diese Vision ganz handgreiflich und real an. Er wird auf ein Feld geführt, dessen Szenerie an Horrorfilme erinnert. Soweit das Auge reicht, liegen Skelette auf einer Ebene. Eine Landschaft aus verdorrten Knochen. Natürlich denkt man da gleich an ein Schlachtfeld, zumal in Zeiten des Krieges. Aber wir erfahren nicht, woran diese Toten gestorben sind. Wir hören sie nur rufen: „Wir sind ganz und gar vertrocknet, wir haben keine Hoffnung mehr, es ist aus mit uns.“ Eine markerschütternde Klage.
Was dann passiert, hat sich in unserer Tradition eher mit Ostern verbunden als mit Pfingsten: Vor den Augen des Propheten geschieht ein gewaltiges Wunder. Die Toten werden wieder lebendig. Der Verwesungsprozess wird umgekehrt: Knochen fügen sich zusammen, Muskeln, Sehnen und Haut wachsen darüber; der Lebensatem kehrt zurück, und leibhaftige Menschen stehen in großer Zahl auf. Die leibliche Auferstehung, eine christliche Kernhoffnung, hat hier, so scheint es, einen starken Beleg. Wenn’s auch ein wenig gruselig wirkt.
Wer genauer hinschaut, merkt aber: Es geht hier gar nicht um ein physisches Ereignis. Es geht nicht um leibhaftige Untote. Der Prophet schaut die Vision als ein Gleichnis. Und dieses Gleichnis wird im Hesekielbuch auch gedeutet: Die Toten sind keine Soldaten, die von irgendwelchen Gegnern abgeschlachtet wurden. Es ist das Volk Israel als Ganzes, das eine kollektive Erfahrung der Lähmung und Leblosigkeit macht. Es ist das Volk Israel als Ganzes, das sich in bitteren Jahren des Exils um seine Existenz und Zukunft gebracht fühlt. Und dem der Prophet deutlich macht, dass es an seiner Misere auch selbst schuld ist. Nicht bloß die anderen, nicht bloß fremde Mächte. „Wir sind ganz und gar vertrocknet, wir haben keine Hoffnung mehr, es ist aus mit uns.“
An einer katholischen Hochschule in Münster gibt es schon länger ein Institut, das forscht über „geistliche Trockenheit“. Ja, diesen Begriff gibt es. Und das Ergebnis der Münsteraner Forschungen ist: Es kann sogar bei den Hochverbundenen, unter Mönchen und Nonnen, Pfarrern und anderen Kirchenprofis vorkommen, dass ihr eigener Glaube ihnen schal und leblos vorkommt. Dass ihre eigenen Überzeugungen sie nicht mehr trösten. Dass sie das Gefühl haben, von Gott vergessen zu sein. Dass Pessimismus und Depression die Überhand gewinnen: „Wir sind ganz und gar vertrocknet, wir haben keine Hoffnung mehr, es ist aus mit uns.“ Man kann in solchen Phasen der „spirituellen Trockenheit“ richtig krank werden. An Leib und Seele. Man kann sich – gar nicht so selten, wie die Untersuchung feststellt -- auch in übertriebenen Aktionismus flüchten: ständig umräumen, immer neue Projekte anfangen, große Pläne schmieden. Oder – man hält solche Erfahrungen wirklich aus; am besten, indem man jemanden findet, mit dem man darüber offen reden kann.
Hesekiel, der Prophet, so lese ich sein Buch, erlebt sein Volk in einer Phase der geistlichen Trockenheit. Alles scheint in Frage gestellt. Eigene Schuld drückt. Geredet wird darüber selten. Mal macht das den Propheten wütend, mal einfach nur traurig. Über lange Phasen hinweg schweigt er selbst – aber hin und wieder bricht es aus ihm heraus: Anklagen, Forderungen, Frust. Er kann dann drastische Worte finden. Er provoziert auch gerne. Doch das Echo ist gering. Unter den Israeliten ist eine drückende Gottesferne zu spüren. Ein Schweigen und Verdrängen. Und nur manchmal auch Selbstzweifel: Sind wir noch zu gebrauchen? Die Zukunft ist offen und ungewiss. Kommt da noch was?
Und dann kommt das: Eine Vision, die die bisherige Verkündigung des Hesekiel auf den Kopf stellt. Die den Blick dramatisch nach vorne lenkt – auf Gott, der selbst aus dem, was tot und vertrocknet ist, etwas Neues schaffen kann. Der auch Menschen, die sich selbst aufgegeben haben, zu neuem Leben erweckt. Plötzlich und unverhofft, aus heiterem Himmel kommt der Wind auf und weht die Knochen aus allen Richtungen an. Wie vorzeiten in der Schöpfung ist es Gottes Atem, der Neues schafft, sein Odem, wie es in der Übersetzung heißt. In der hebräischen Bibel, so muss man wissen, sind Atem, Wind und Geist dasselbe Wort. Ha ruach. Gottes Geist schafft neues Leben.
Es geschieht nicht nur einmal in der Bibel. Es geschieht immer wieder. Es geschah auch fünfzig Tage nach Ostern in Jerusalem, am Pfingstfest, als die Jüngerinnen und Jünger Jesu sich verunsichert hinter verschlossenen Türen versteckten und keine Ahnung hatten, was jetzt als nächstes kommt. Es kam der Geist, Gottes Odem, der Schöpfer-Geist, der selbst aus dem Tode Leben wecken kann. Der den Staub wegbläst, das Vertrocknete löst, das Zerschlagene neu zusammenfügt, Muskeln und Sehnen wachsen lässt: Kraft im Kraftlosen.
Es geschieht nicht nur in der Bibel. Es kann jederzeit geschehen.
Es kann mit Deinem vertrockneten Glauben geschehen, mit der quälend empfundenen Gottferne, mit Deinem „Es lohnt sich ja doch nicht mehr“-Gefühl, mit Deiner Lustlosigkeit und Erschöpfung. Plötzlich fährt Gottes Atem hinein. Und neues Leben wird möglich. Neue Perspektiven tun sich auf.
Es kann mit unserer Kirche geschehen, mit allem, was darin erneuerungsbedürftig und vertrocknet ist. Es kann mit unserer Kirche geschehen – ja, ich glaube: es muss mit unserer Kirche geschehen.
Wenn nicht Gottes Geist, sein Lebensatem unsere Kirche erneuert, wenn nicht er uns eine lebendige Hoffnung, brennende Liebe, Lust auf sein Wort und Leidenschaft für die Wahrheit schenkt, dann können wir noch so viel an kirchlichen Strukturen herumbasteln – dann wären das alles tote Knochen.
Wir feiern Pfingsten nicht den Geburtstag der Kirche.
Jedenfalls feiern wir nicht uns selbst. Wir feiern Pfingsten das, was unsere Kirche am nötigsten braucht: Gottes Geist, den Geist des Lebens, den niemand einfängt und besitzt. Der weht, wo er will – der lebendig macht und Neues schafft. Dieser Geist ist unsere Hoffnung. Die Hoffnung, dass es mit uns, auch mit unserer Kirche, noch nicht aus ist. Dass Gott noch etwas mit uns, und auch mit unserer Kirche, vorhat.
Zu Pfingsten feiern wir Gottes Geist, oder besser, genauer noch:
Wir bitten um ihn mit großer Dringlichkeit.
Wir rufen nach neuer Lebendigkeit.
Zum Beispiel mit den Worten unseres ältesten Pfingstliedes, das den Bogen schlägt von der Schöpfung der Welt zu Gottes wiederbelebender, neu schaffender Kraft: Veni creator spiritus!
Luther übersetzt:
Komm, Gott Schöpfer, Heiliger Geist,
besuch das Herz der Menschen dein,
mit Gnaden sie füll, denn du weißt,
dass sie dein Geschöpfe sein.
Wir sind Gottes Geschöpfe. Gott blickt uns gnädig an.
Darum wird es wieder geschehen: Gottes Geist kommt:
Da gibt es dann nichts zu erklären; wer es erlebt, der versteht.
Gottes Geist kommt – das wird ein Fest!
Vielleicht auch mit Blumen und Luftballons.
Wir stellen den Sekt schon mal kalt.
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die Predigt wird gehalten in einer gut bürgerlichen, mittelständischen Gemeinde einer norddeutschen Kleinstadt. Es gibt zahlreiche, auch jüngere Ehrenamtliche; gerade ist ein neuer Kirchenvorstand gewählt. Zu Pfingsten finden womöglich auch einige Fahrradtouristen den Weg in die zentral gelegene Kirche. Wenige Tage vor dem Gottesdienst gab es eine Veranstaltung zum Thema „Sexueller Missbrauch in der Evangelischen Kirche“, ohne konkreten Ortsbezug allerdings.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Im letzten Jahr las ich mehrere Artikel, die die Formulierung „Pfingsten ist der Geburtstag der Kirche“ kritisierten und die mir einleuchteten. Die Frage, was feiern wir eigentlich, hat sich für mich zu dem Gedanken hin verschoben: Wir feiern nicht uns selbst, sondern die Kraft, die uns lebendig macht. So stimmt es – und so kann auch in Zeiten kirchlicher Selbstzweifel die Freude an Pfingsten bleiben.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Aus dem Bibeltext kam mir das Stichwort „vertrocknet“ entgegen, das für mein eigenes Empfinden viel anschlussfähiger ist als „tot“. Mir war noch nie aufgefallen, dass die Totengebeine sprechen und sich selbst so bezeichnen.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
In der ersten Version hatte ich den Propheten als Seelsorger seines „vertrockneten“ Volkes dargestellt – das hat mir die Predigtcoach nicht geglaubt, zu Recht. Auf ihren Hinweis hin habe ich unter anderem die Rahmung mit dem Thema „Fest“ etwas verstärkt.