Konfirmationspredigt zu Kolosser 3,12-15 von Martin Schewe
3,12-15

Des Kaisers neue Kleider

„Vor vielen Jahren lebte ein Kaiser, der so schrecklich gern neue Kleider mochte, dass er all sein Geld ausgab, um recht geputzt zu sein. Er machte sich nichts aus seinen Soldaten, machte sich nichts aus dem Theater oder aus einer Ausfahrt in den Wald, außer um seine neuen Kleider zu zeigen. Er hatte ein Gewand für jede Stunde des Tages, und so wie man von einem König sagt, er ist im Rate, sagte man hier immer: ‚Der Kaiser ist im Kleiderschrank!’“

(1) Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden, eins müsst ihr mir bitte glauben: Ich habe euch den Anfang des Märchens von des Kaisers neuen Kleidern nicht deswegen vorgelesen, weil ich euch im Verdacht hätte, ihr wärt solche Kaiser mit einem riesigen Kleiderschrank und einem eigenen Gewand für jede Stunde des Tages. Ihr seid zum Glück ganz anders. Wie, dazu kommen wir gleich. Aber beginnen möchte ich mit der Frage: „Was soll ich bloß anziehen?“ Sie wird uns herauszufinden helfen, wie ihr wirklich seid.

„Was soll ich bloß anziehen?“, habt ihr euch vermutlich auch schon gefragt und zum Beispiel an eure Konfirmation gedacht: „Was soll ich da anziehen?“ Oder ihr habt gesagt: „Ich habe nichts zum Anziehen!“ Dabei war euer Kleiderschrank, obwohl etwas kleiner als der des Kaisers, nicht leer. Es war nur nicht das Richtige darin. Und was ist das Richtige? Hier bitte ich euch noch einmal, mir zu glauben: Ich habe nicht vor, mich einzumischen. Eure Kleidung ist eure Sache – meine, euch darin zu bewundern.

Die erste und einfachste Antwort auf die Frage „Was soll ich bloß anziehen?“ lautet natürlich: Eure Kleidung muss euch passen. Sie darf nicht zu groß sein und nicht zu klein, was bei Jugendlichen schnell passieren kann; bei Erwachsenen ebenfalls, jedoch meist aus anderen Gründen. Bequem soll sie sein, eure Kleidung, und einigermaßen zweckmäßig. Sommersachen gehen schlecht im Winter, Wintersachen nicht im Sommer. So viel versteht sich von selbst.

Komplizierter wird es, weil passend, bequem und zweckmäßig nicht genügt. Was ihr tragt, soll euch außerdem gut stehen. Erst dann fühlt ihr euch darin wohl. Eure Kleidung soll schick sein, damit ihr schick seid; elegant, wenn ihr elegant aussehen wollt; pfiffig, weil ihr selber pfiffig seid. Ich kann mir vorstellen, solche Überlegungen haben eine Rolle bei der Entscheidung gespielt, was ihr heute anziehen würdet. Den Reifrock oder das kleine Schwarze? Zur Feier des Tages eine Krawatte oder lieber keine? Darüber kann man stundenlang nachdenken, wenn man möchte, und in Modezeitschriften blättern. Eins können wir daher schon festhalten: Eine bloße Äußerlichkeit scheint unsere Bekleidung nicht zu sein. Sonst käme es darüber nicht sogar zum Streit. „So gehst du uns nicht aus dem Haus!“, sagen die Eltern vielleicht. Schon ihre Eltern haben damals dasselbe gesagt.

Der Kaiser im Märchen übertreibt es allerdings. So wichtig, wie er sie nimmt, sind seine Kleider nun doch nicht. Deshalb erzählt der Dichter Hans Christian Andersen, dass eines Tages zwei Betrüger in die Hauptstadt kommen. Sie geben sich als Weber aus und versprechen dem Kaiser die ungewöhnlichsten Stoffe, die er je getragen hat. Die Kleider, die daraus genäht würden, versichern die beiden, wären nicht nur prächtig. Sie hätten überdies die Eigenschaft, für jeden unsichtbar zu sein, der nicht für sein Amt tauge oder unverzeihlich dumm sei. Der Kaiser ist begeistert. Er zahlt den Betrügern viel Geld, damit sie sich an die Arbeit machen, und stellt ihnen für die erstaunlichen Kleider die feinste Seide und so viel Gold zur Verfügung, wie sie verlangen. Die Minister, die der Kaiser in die Werkstatt der angeblichen Weber schickt, um sich über den Fortgang der Arbeit zu informieren, sehen dort zwar keine edlen Stoffe, nur den leeren Webstuhl. Weil sie jedoch nicht zugeben wollen, ungeeignet für ihr Amt oder unverzeihlich dumm zu sein, bleibt den Ministern nichts anderes übrig, als dem Kaiser vorzuschwärmen, wie unvergleichlich seine neuen Kleider würden.

(2) Zurück zu euch, liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden. Da ihr zum Glück keine Kaiser seid, fallt ihr nicht auf Betrüger herein, die euch das Blaue vom Himmel versprechen. Was für uns normale Menschen die richtige Kleidung ist, hängt vom Wetter ab, vom Anlass, vom Alter und vom Geldbeutel, von unserem guten Geschmack und von den Erwartungen der anderen. Niemand lässt sich gern sagen: „Wie siehst du denn aus?“ Eine bloße Äußerlichkeit scheint unsere Bekleidung nicht zu sein, haben wir festgestellt. Wenn sie auch längst nicht so wichtig ist, wie der Kaiser in Hans Christian Andersens Märchen glaubt – wie wir uns kleiden, sagt etwas über uns aus. Das ist der Grund, aus dem wir mit der Frage begonnen haben: „Was soll ich bloß anziehen?“ Die Frage sollte uns herauszufinden helfen, wie ihr Konfirmandinnen und Konfirmanden wirklich seid.

In der Bibel rechnen wir nicht unbedingt mit Modetipps. Aber die Bibel ist ein vielseitiges Buch und hat auch zu unserem Thema etwas beizutragen. Im Kolosserbrief aus dem Neuen Testament steht: „So zieht nun an als die Auserwählten Gottes, als die Heiligen und Geliebten, herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld; und ertrage einer den andern und vergebt euch untereinander, wenn jemand Klage hat gegen den andern; wie der Herr euch vergeben hat, so vergebt auch ihr! Über alles aber zieht an die Liebe, die da ist das Band der Vollkommenheit. Und der Friede Christi, zu dem auch ihr berufen seid in einem Leibe, regiere in euren Herzen; und seid dankbar.“

So beantwortet der Verfasser des Kolosserbriefs unsere Frage „Was soll ich bloß anziehen?“. „Herzliches Erbarmen“, schlägt er vor, „Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld“. Wir sollen uns miteinander vertragen und untereinander vergeben. Wenn wir diese Antwort mit dem vergleichen, was wir uns bisher überlegt haben, können wir sie zunächst so verstehen: Es kommt weniger auf die Kleidung an, die einer trägt, als auf die Person, die darin steckt. Dem Kaiser im Märchen sind Pracht und Protz wichtiger als seine Regierungsaufgaben. Wenn andere Herrscher im Rat sitzen, dann hält er sich im Kleiderschrank auf. Und noch ein fragwürdiger Charakterzug: Der Kaiser ist ein Kontrollfreak. Mit Hilfe der Kleider, die nicht jeder sehen kann, hofft er, seine Untertanen in Kluge und Dumme aufteilen zu können. Das macht ihn zur leichten Beute für die beiden Betrüger, die ihm nicht nur sein Geld abnehmen, sondern sich auch die kostbare Seide und das viele Gold in die eigenen Taschen stecken. Ein eitler, weltfremder Egoist, dieser Kaiser.

So lieber nicht, schreibt der Verfasser des Kolosserbriefs und zählt die Eigenschaften auf, die uns besser kleiden: gute Beziehungen zu unseren Mitmenschen. Wie ich euch in den vergangenen anderthalb Jahren kennen gelernt habe, liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden, bin ich davon überzeugt, dass ihr dem Text aus der Bibel von Herzen zustimmt. Freundlichkeit, Geduld und Vergebung  sind zwar genaugenommen keine Kleidungsstücke. Sie zählen aber mehr und halten mit Sicherheit wärmer als des Kaisers neue Kleider.

(3) Was wir eigentlich wissen möchten, haben wir trotzdem noch nicht ganz herausgefunden. Im Kolosserbrief steht viel mehr darüber, wie ihr wirklich seid. Ich lese noch einmal den Anfang der Stelle vor, die ihr schon gehört habt, und bitte euch diesmal, besonders darauf zu achten, wie ihr angesprochen werdet. „So zieht nun an“, heißt es dort nämlich, „als die Auserwählten Gottes, als die Heiligen und Geliebten, herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld.“

Die Auserwählten Gottes, die Heiligen und Geliebten – damit seid ihr Konfirmandinnen und Konfirmanden gemeint. So seid ihr wirklich: ausgesucht von Gott, heilig und kostbar. Das ist das Beste, was sich von euch sagen lässt; das Beste, was euch passieren kann: dass ihr Gott etwas bedeutet und dass er viel mit euch vorhat. Alles andere, auch was ihr euch am besten anzieht, beginnt damit, dass Gott für euch da ist und dass ihr euch auf ihn verlassen könnt. Euer ganzes Leben, eure Hoffnungen, Wünsche und Pläne, die guten Tage, die euch bevorstehen, und sogar die nicht so guten – alles steht zuerst und zuletzt im Licht der Güte Gottes.

Im Märchen kommt es, wie es kommen muss. Als dem Kaiser die neuen Kleider angelegt werden, kann er sie selber nicht sehen. Für sein Amt ist er tatsächlich nicht geeignet. In diesem Punkt behalten die Betrüger recht. Dennoch tritt der Kaiser in den Prunkgewändern, die es gar nicht gibt, vor sein Volk, und weil niemand als Dummkopf dastehen will, spielen alle mit und loben Farbe, Schnitt und Sitz. Bis ein kleines Kind sagt: „Aber er hat ja gar nichts an!“ Da merken es auch die anderen. „Er hat ja gar nichts an!“, ruft schließlich das ganze Volk. Der Kaiser erschrickt. Aber da muss er durch.

Die Modetipps aus dem Kolosserbrief fasst der Autor in dem Satz zusammen: „Über alles aber zieht an die Liebe, die da ist das Band der Vollkommenheit.“ Damit ist zweierlei gemeint, liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden. Einerseits das gute Verhältnis zu den Mitmenschen, von dem zuvor die Rede war, also Freundlichkeit, Geduld und Vergebung. So gelingt euer Leben. Andererseits und vor allem aber geht es um die Liebe, mit der Gott euch liebt und die die Quelle aller Liebe und alles Gelingens ist.


Den Kolosserbrief zitiere ich nach der Luther-Bibel (1984), „Des Kaisers neue Kleider“ nach: Hans Christian Andersen, Die schönsten Märchen. Aus dem Dänischen von Mathilde Mann. Ausgewählt und mit einem Nachwort versehen von Ulrich Sonnenberg; Frankfurt a.M. und Leipzig 2000, S.87-93.