Kontrollgang lächelnd beendet - Predigt zu 1 Sam 3,1-10 von Frank Nico Jaeger
3,1-10

1. Samuel 3
1Und zu der Zeit, als der Knabe Samuel dem Herrn diente unter Eli, war des Herrn Wort selten, und es gab kaum noch Offenbarung. 2Und es begab sich zur selben Zeit, dass Eli lag an seinem Ort, und seine Augen fingen an, schwach zu werden, sodass er nicht mehr sehen konnte. 3Die Lampe Gottes war noch nicht verloschen. Und Samuel hatte sich gelegt im Tempel des Herrn, wo die Lade Gottes war. 4Und der Herr rief Samuel. Er aber antwortete: Siehe, hier bin ich!, 5und lief zu Eli und sprach: Siehe, hier bin ich! Du hast mich gerufen. Er aber sprach: Ich habe nicht gerufen; geh wieder hin und lege dich schlafen. Und er ging hin und legte sich schlafen. 6Der Herr rief abermals: Samuel! Und Samuel stand auf und ging zu Eli und sprach: Siehe, hier bin ich! Du hast mich gerufen. Er aber sprach: Ich habe nicht gerufen, mein Sohn; geh wieder hin und lege dich schlafen. 7Aber Samuel kannte den Herrn noch nicht, und des Herrn Wort war ihm noch nicht offenbart. 8Und der Herr rief Samuel wieder, zum dritten Mal. Und er stand auf und ging zu Eli und sprach: Siehe, hier bin ich! Du hast mich gerufen. Da merkte Eli, dass der Herr den Knaben rief. 9Und Eli sprach zu Samuel: Geh wieder hin und lege dich schlafen; und wenn du gerufen wirst, so sprich: Rede, Herr, denn dein Knecht hört. Samuel ging hin und legte sich an seinen Ort.10Da kam der Herr und trat herzu und rief wie vorher: Samuel, Samuel! Und Samuel sprach: Rede, denn dein Knecht hört. 

Beim abendlichen Kontrollgang durch die große Hallenkirche folgt er einem festgelegten Ablauf. Immer durch den Haupteingang rein und dann die schwere Holztür von innen abschließen. Langsam durch den Mittelgang gehen und zuerst die Bankreihen links und rechts im Kirchenschiff kontrollieren, dann die äußeren Bänke. Ist das erledigt, geht er zum Altar. Vor den Stufen bleibt er kurz stehen und geht erst dann bedächtig die drei Steintreppen hoch. Er löscht die zwei Altarkerzen, überprüft gekonnt die Blumen in der Vase und wendet sich zuletzt der Osterkerze zu. Weil sie zu dieser Zeit im Jahr noch nicht sehr runtergebrannt ist, muss er sich kaum bücken, um sie auszupusten.
Sobald die Flamme aus ist, verharrt er einen Moment und lauscht in die leere Kirche. Und bevor er seinen Kontrollgang fortsetzt, fragt er sich, wie es wäre, wenn jetzt, genau in die Stille hinein, Gott zu ihm spräche. So wie er einst zu Samuel gesprochen hatte.

Seit Jahrzehnten tut er schon Dienst in dieser Kirche. Er hat viele Pfarrer und Pfarrerinnen kommen und gehen sehen. Hat ihnen zugehört, wenn sie sich beschwert haben, über die Institution, über den Dekan oder wie furchtbar kalt es heute schon wieder in der Kirche ist. Er hat den Geistlichen dann manchmal Decken und Tee gebracht, weiter Stühle gestellt und in seinem Kämmerlein, in dem die ganze Technik untergebracht ist, im richtigen Moment die Vater-Unser-Glocken angestellt.
Halb im Ernst, halb im Spaß würde er sagen, dass man zu diesem Dienst berufen sein muss.
Auch wenn Gott noch nie zu ihm gesprochen hat, beim Auspusten der Kerzen

Egal. Seine Handgriffe sind routiniert. Auch ohne Berufung. Und er geht in seiner Arbeit auf. Manchmal hat er Angst davor, dass es ihm einst so ergehen könnte, wie dem alten Prophetenlehrer Eli. Der war so alt, dass er nur noch liegend Anweisungen erteilen konnte und niemand in Sicht, der seinen Dienst tun könnte. Sein Dienst, dem Untergang geweiht. Als er damals seine Stelle angetreten hat, hatte er keine Ahnung, was auf ihn zukommen würde. Aber man kann das lernen, hauptberuflich etwas mit Gott und seinem Personal zu machen. Man wächst in diese Aufgabe rein. Und erfährt schnell die Vorteile: Im Sommer ist es gut, dass es in der Kirche nicht so heiß ist.
Manchmal riecht es muffig, aber dann öffnet er einfach die großen Holztüren und lässt Licht und Luft herein. Und mit der Sonne kommt der Glanz durch die bunten Kirchenfenster in das große Schiff. Er weiß um alle Spardebatten, er hat den Geistlichen zugehört, wenn sie in der Sakristei über Reformprozesse reden, als würden sie sich über Nagelpilz austauschen. Dabei wäre ein bisschen Veränderung bestimmt nicht schlecht. Ab und an eine kleine Störung vom Himmel wäre hilfreich. Natürlich, Selbsterkenntnis ist schmerzhaft. Aber er sieht ja, wie viele (noch) kommen. Woran das liegt, weiß er auch. Es sind nicht nur all die schlimmen Verfehlungen, es ist auch das Sich-Einrichten in einem dunklen, muffig riechenden Kirchlein. Seine Diagnose: Fehlender Mut. Auch zur Veränderung. Was fehlt? Ein Hoffnungsschimmer, glänzend wie das Sonnenlicht in den bunten Kirchenfenstern.

Samuel, der kleine Prophetenschüler, ist so ein glänzender Hoffnungsschimmer. Er ist bereit. Schläft sogar im Tempel, für den Fall, das Gott zu ihm sprechen würde. Unwahrscheinlich scheint das damals jedenfalls nicht gewesen zu sein. Und als das Unwahrscheinliche tatsächlich geschieht, denkt Samuel, sein Meister, Eli, spreche zu ihm. Gottes Stimme hat anscheinend einen menschlichen Klang.
So unwahrscheinlich es auch ist, dass Gott zu mir spricht, denkt sich der Küster zurecht, es geschieht. Und so selten das Wort des Herren auch sein mag, die Welt ist nicht ohne dieses Wort. Es erreicht Menschen und wartet auf deren Antwort. Ein kurzes Gebet, ein schnell gesprochenes Bekenntnis oder einfach nur ein, ich höre. Die Welt braucht mehr Geschichten wie die vom jungen Prophetenschüler Samuel, auch weil sie davon erzählt, dass die Kirche nicht nur eine hauptamtliche Kirche ist. Der kleine Samuel passt (noch) nicht in seine Rolle und Gott spricht trotzdem zu ihm.

Am Ende seines Kontrollgangs hat die Dunkelheit fast gewonnen. Langsam verschwindet das Licht aus der Kirche. Der Küster hat alle Lichter ausgemacht, alle Kerzen ausgepustet. Und während die Erde der Nacht entgegenrollt blickt der Küster in das immer dunkler werdende Kirchenschiff, geht durch seinen Technikraum raus vor die Tür und schließt für diesen Tag die Kirche ab. Mit einem Lächeln denkt er an den kleinen Samuel. Auch wenn Gott heute Abend wieder nicht zu ihm gesprochen hat, man darf damit rechnen. Wer weiß schon, wann Gott sein Schweigen bricht und die Lampe Gottes ist noch lange nicht erloschen.

Amen.

Perikope
21.05.2023
3,1-10