"Kraft aus der Höhe", Predigt über Epheser 4, 7-16 von Angelika Volkmann
4,7
"Kraft aus der Höhe"
Liebe Gemeinde,
Pfingsten, das ist das Fest der großen Bewegung zwischen Himmel und Erde! An Himmelfahrt fährt der Auferstandene von der Erde in den Himmel hinauf – an Pfingsten kommt der Heilige Geist Gottes herab auf die Erde und erfüllt die Menschen, schüttet seine Gnade aus.
"Einem jeden aber von uns ist die Gnade gegeben nach dem Maß der Gabe Christi." (V 7) , so lesen wir im Brief an die Epheser. Jederbekommt einen Anteil an dieser himmlischen Kostbarkeit, uns allen ist sie geschenkt. Jesus Christus ist aus dem Himmel herab gekommen und hat unser menschliches Leben geteilt bis in die tiefste Erfahrung des Sterbens hinein. Er hat den Tod überwunden. Immer wieder haben die Seinen ihn gesehen nach Ostern, konnten mit ihm sprechen, seine Stimme hören. Dann nimmt er sich zurück, verabschiedet sich segnend. Er kehrt zurück in die der Sichtbarkeit entzogene Sphäre zur Rechten Gottes, um uns allen unsichtbar nahe zu sein. Gott kommt auf die Erde und alle irdischen Erfahrungen kommen zu Gott – in diesem Auf und Ab, diesem Herabfahren und Hinauffahren geschieht lebendige Verbindung zwischen Gott und uns: wir werden von Gott berührt mitten in unserem Lebensalltag, denn Gott lässt sich von uns berühren, von allem, was uns umtreibt und schickt uns seine Kraft aus der Höhe. "Einem jeden von uns ist die Gnade gegeben ..." Das ist Pfingsten. So baut Gott seine Kirche.
Kann man das auch heute erleben? Welche Kraft aus der Höhe erwarten wir?
Ich konnte mit vier Menschen darüber sprechen:
"Ja, die Kraft aus der Höhe, die könnte ich schon wirklich gut gebrauchen", sagt Maria, Mitte sechzig. "Mit meiner eigenen Kraft bin ich nämlich am Ende." Sie bricht fast zusammen unter der Pflege ihrer hochbetagten Mutter.
"Ja, auf die Kraft aus der Höhe warte ich auch", sagt mir Peter, ein Mann Anfang vierzig. "Ist Pfingsten nicht das Fest der Verständigung? Ich glaube, ich brauche den Heiligen Geist für meine Ehe. Wir lieben uns, aber wir sind so unterschiedlich. Oft verstehen wir uns einfach nicht, es ist als sprächen wir verschiedene Sprachen. Dann verletzen wir uns und so ganz langsam kam es dazu, dass wir uns gegenseitig bekämpfen. Eigentlich wollen wir das beide nicht, aber wir finden keinen Ausweg mehr. Kann es für uns ein Pfingsten geben?"
"Ich würde so gerne wieder Freude erleben", sagt die achtunddreißigjährige Michaela. Sie ist an einer Depression erkrankt, bewältigt mit Mühe ihren persönlichen Alltag, arbeiten kann sie zur Zeit nicht. "Alles fühlt sich so leer an", sagt sie. "Ich muss ja schon dankbar sein, wenn ich keine Angstzustände erleben muss. Aber - was ist das für ein Leben?"
"Braucht nicht unsere ganze Welt den Heiligen Geist von Gott?" gibt Susanne, knapp fünzig, zu bedenken. "Die Krisenherde überall, die Dynamik von Gewalt und Gegengewalt, soviel Hass und so viel Elend ... das ist doch alles nicht zum Aushalten. Wo ist denn der Heilige Geist? Oder haben wir einfach verlernt, ihn wahrzunehmen?"
Damals, in Jerusalem, warten sie auf ihn. Erschüttert über den unvermuteten und grausamen Tod Jesu, den sie miterlebt haben, sitzen sie beieinander. Ebenfalls erschüttert sind sie über die Erfahrung von Ostern, manche aufgewühlt, andere zweifelnd. Sie ahnen, dass ihnen eine große Aufgabe bevorsteht, der sie sich nicht gewachsen fühlen. So sitzen sie in Jerusalem und feiern das Wochenfest Schawuot und beten den 68. Psalm, den die jüdische Gemeinde bis zum heutigen Tage am zweiten Tages des Wochenfestes betet und ihn darum auch gestern gebetet hat. Eben den Psalm, der in unserem Abschnitt zitiert wird: "Er ist aufgefahren in die Höhe und hat Gefangene mit sich geführt und hat den Menschen Gaben gegeben." (V 8)
Von wem ist hier die Rede?
Von Mose, sagt die jüdische Auslegung. Der Psalm redet von Moses Gotteserfahrung auf dem Sinai. Die von den verschiedenen Ereignissen erschütterten Anhänger Jesu sitzen also in Jerusalem und beten diesen alten Psalm. Von den Himmeln und vom höchsten Berg ist darin die Rede und von den tiefsten Tiefen des Meeres. Auch bis dahin reicht Gottes Macht. Und vom Himmel fällt nicht nur der lebenswichtige gnädige Regen, nein, "die Himmel troffen vor Gott – vor Gott, dem Gott Israels," so betet der Psalm (Psalm 68,9). Das klingt üppig. Das klingt gnadenreich. Das klingt nach Leben. Das bestärkt die Anhänger Jesu, auch in ihrer Situation die Hoffnung nicht aufzugeben. Die Hoffnung auf die die Kraft von oben.
Denn damals am Sinai war es ja auch geschehen. Unser christliches Pfingstfest, liebe Gemeinde, können wir ohne Mose und den Sinai, ohne diese große Bewegung des Gebens und Empfangens zwischen Himmel und Erde nicht verstehen.
Mose lässt das Volk am Sinai lagern. Er selbst steigt den Berg hinauf, Schritt für Schritt, bereitet sich selber vor auf die Begegnung mit Gott. Alles, was ihn ablenkt und sonst beschäftigt, lässt er hinter sich. Er ist für niemanden mehr zu erreichen, außer für Gott. Immer weiter gelangt er hinauf, erreicht schließlich himmlische Höhen. Er begegnet Gott und empfängt von ihm die Tora, Gottes Weisung für ein Leben in Güte und Freude. Die Dienstengel sind verstimmt - so erzählt die jüdische Tradition. Was hat ein von einer Frau Geborener überhaupt in ihren Sphären zu suchen? Doch Gott redet ihnen gut zu und gibt ihnen zu bedenken, dass doch viele der Gebote für die Engel selber gar keinen Sinn ergeben, wohl aber für die Menschen. So empfängt Mose die Tora, die bisher gleichsam im Himmel "gefangen" war und sich nun im Menschen erfüllen kann, als kostbare Himmelsgabe. "Liebe Gott von ganzem Herzen und deinen Nächsten wie dich selbst." Das ist das höchste Gebot der Tora. Und Mose nimmt sie in Empfang und seit damals lebt das Volk mit dieser Gabe. "Du hast den Menschen Gaben gegeben " lesen wir im Epheserbrief als Zitat aus dem 68. Psalm.
Die Tora, die Weisung Gottes, kommt im Menschen zur Erfüllung. Sie kommt aus dem Himmel als Gabe für die Menschen, die daraus Orientierung und Sinn und Trost und Freude für ihr Leben empfangen.
Liebe Gemeinde: Himmlische Gaben empfangen, Gaben aus der Höhe für ein Leben, das auch durch Tiefen führt, das ist Pfingsten. Und als sich die ersten Jüngerinnen und Jünger in Jerusalem verzagt und sehnsüchtig versammeln, damals, da warten sie wieder auf die Gabe aus der Höhe. Sie beten den alten Psalm. Und der Gott Israels, der treu ist und seine Menschen liebt, schickt ihnen seinen Heiligen Geist. Sie erleben das Wunder von Pfingsten, die frohmachende Kraft, die alle Verzagtheit überwindet, das Verstehen untereinander und mit vielen so verschiedenen Menschen.
Gott schickt seinen Heiligen Geist, damit sie weiterhin gemeinsam leben und Gottes Treue bezeugen unter den Menschen. Nicht nur sein geliebtes Volk, sondern alle Menschen auf der Welt sollen Anteil bekommen an der Kraft aus der Höhe. So baut Christus seine Kirche, so wächst sein Leib auf dieser Erde, der durch sein Haupt, durch den auferstandenen Christus zur Rechten Gottes, bereits mit dem Himmel verbunden ist. Und die Worte des Psalms, zu denen die Anhänger Jesu schon damals Zuflucht nahmen, erfüllen sich auf's Neue: "Einem jeden von uns ist die Gnade gegeben".
Damit diese weltweite Gemeinschaft, der Leib Christi auf Erden gedeihen kann, hat Christus unterschiedliche Aufgaben für die einzelnen bereit. Einige setzt er als Apostel ein. Die ersten Apostelinnen, das sind die Frauen am Ostermorgen am leeren Grab. Vom Auferstanden erhalten sie den Verkündigungsauftrag. Prophetinnen und Propheten hat Gott seinem Volk und seiner Kirche immer wieder geschickt. Das sind Menschen, die hellhörig sind für die Zeichen Gottes und für seinen Willen. Sie zeigen den anderen, die dafür manchmal blind sind, das Licht, das von Gott her die gegenwärtige Lebenslage erhellt. Einige hat er als Hirten und Lehrer eingesetzt. Wie wichtig ist es für die Herde Gottes, dass kundige Hirtinnen und Hirten sich um die wichtigen Dinge kümmern, die richtigen Entscheidungen treffen, Verantwortung übernehmen, z.B. in unserer Zeit auch mit weniger Geld das kirchliche Leben gestalten. Lehrerinnen und Lehrer sind ebenfalls dringend erforderlich. Den einzelnen Gliedern am Leib Christi soll ermöglicht werden, die Heilige Schrift zu verstehen.
Diese Dinge sind nötig, damit alle Heiligen – und das sind wir ! – in den Stand versetzt werden "zum Werk des Dienstes", wie der Epheserbrief formuliert. Das ist das Ziel! Das "Werk des Dienstes"! Dazu ist Gottes Geist gekommen! Alle Gaben, die Gott schenkt, jede Gnade, die uns gegeben ist, ist dazu da, dass wir einander dienen – "ein jeglicher mit der Gabe, die er empfangen hat" (1.Petrus 4,10).
Es geht also nicht nur darum, dass wir glauben, vertrauen, verstehen, sondern es geht darum, dass wir "dienen", d.h., dass wir liebevoll handeln. Wie es die Tora lehrt. Jesus selbst hat das Gebot der Nächstenliebe immer wieder betont. Jede und jeder von uns ist zum Dienst, zur diakonia berufen, damit der Leib Christi als lebendiger Körper gedeiht und wächst. Jedes Glied am Leib Christi soll das andere unterstützen nach dem Maß seiner Kraft. So baut sich der Leib Christi auf in Liebe. Dazu werden wir befähigt und dazu sind wir herausgefordert. Es liegt an uns. Und wir sind mit dieser Aufgabe nicht allein gelassen.
Maria, die ihre hochbetagte Mutter pflegt, begreift das nach unserem Gespräch so: Ja, ich darf mich auch einmal ausruhen. Wenn Gott selbst am siebten Tag geruht hat, dann darf ich das auch. Und sie ruft den Kreis ihrer Freundinnen zusammen, um ihre Lage mit ihnen zu besprechen. Und die Freundinnen haben die Gabe des Zuhörens und des Ermutigens. Mit dieser Kraft im Rücken organisiert Maria, dass sich an einem Nachmittag pro Woche eine andere Person um die Mutter kümmert und mutet ihr das auch zu, und dass einmal pro Woche ein Pflegedienst auch über Nacht kommt, sodass Maria einmal durchschlafen kann und Zeit gewinnt für schöne Dinge, für eine Wanderung mit einer Freundin oder etwas, was ihr sonst gut tut. "Das ist für mich eine richtig gute Pfingstbotschaft!" strahlt sie.
Auch Peter besinnt sich darauf, dass er nicht alleine ist, sondern dass er verbunden ist mit der größeren Gemeinschaft. Zunächst öffnet er sich einem Freund und spricht zu ihm von seinen Schwierigkeiten in der Ehe. Dieser Freund hat die Gabe des Zuhörens und der Verschwiegenheit. Und er kann auch guten Rat geben. Er weiß von der Kraft der Versöhnung und gibt die richtigen Impulse. Peter spricht mit seiner Frau, gemeinsam suchen sie sich Hilfe. Peter lernt eigene Fehler zuzugeben und die beiden machen sich von neuem auf den Weg, sich kennen zu lernen und einander immer wieder zu verzeihen und sie erfahren, dass sich ihre Liebe vertieft. "Meine Ehe zu leben, das ist für mich jetzt ein spiritueller Prozess," sagt Peter später. "Ich fühle mich getragen von Gottes Geist der Liebe und der Versöhnung, und das Schöne ist, ich kann mich dieser Kraft immer wieder von neuem anvertrauen und selber Liebe und Versöhnung lernen."
Michaela, die an Depressionen leidet, braucht Mitmenschen, die die Gabe haben, für sie zu glauben. Mittlerweile bezeugt sie, dass sie sich getragen fühlt durch ihre schweren Zeiten, auch wenn es Momente gibt, wo ihr dieses Gefühl nicht zur Verfügung steht. Dann hält sie sich daran fest, dass Gott selber in Christus auch in dieser Tiefe war und auch diese Verlassenheit und Trostlosigkeit kennt und dass sie darin ausharren muss und kann, bis es jeweils wieder besser wird. Die Freunde und Freundinnen, die für sie glauben, helfen Michaela, dass sie selber eine unglaublich kostbare Gabe entwickelt: Vertrauen in schwerster Angefochtenheit. Zuweilen kann sie andere, die ein ähnliches Schicksal haben, ermutigen. Das ist Kraft von oben, Kraft, die durch die Tiefe hindurchgegangen ist, Kraft, die hilft.
Und die Krisenherde und der Hass zwischen Völkern und die Ungerechtigketi und der Hunger auf dieser Welt? Liebe Gemeinde, überall sind wir aufgefordert zum "Werk des Dienstes": zur Fürbitte, zur herzlichen inneren Anteilnahme, zur konkreten Hilfe; dazu, für Schwache Partei zu ergreifen, dazu, versöhnliche Töne in Debatten zu bringen, zu teilen, was wir haben. Und wir sind dabei nicht alleine gelassen.
Wenn wir in dieser Weise das "Werk des Dienstes" tun, wenn wir, wie die Tora sagt, von ganzem Herzen Gott lieben und unseren Nächsten wie uns selbst, dann werden wir zur Einheit des Glaubens gelangen, sagt der Epheserbrief. Ist das nicht eine großartige Verheißung gerade in einem ökumenischen Gottesdienst? Und haben wir das nicht auch schon erlebt?
Wenn wir in dieser Weise das "Werk des Dienstes" tun, dann werden wir zur Erkenntnis von Christus gelangen, dann werden wir zu Männern und Frauen, die ans Ziel gekommen sind und zum vollen Maß der Fülle Christi gelangen; dann werden wir standfest sein gegenüber dem trügerischem und manipulativem Spiel von Verführern.
Das alles, liebe Gemeinde, ist eine ständige Bewegung zwischen Himmel und Erde, ein wunderbares Geschehen, das schon längst vor uns begonnnen hat und in das wir immer wieder neu mithineingenommen werden. Wir sollen mitmachen, mitlieben, mitwachsen! Wir können uns mit freuen, uns alle gemeinsam als Leib Christi verstehen. Wir können uns als von Gott reich Beschenkte empfinden, denn er gibt uns immer wieder neu die Kraft aus der Höhe.
Wir wollen nicht aufhören, ihn zu feiern, den Grund unseres Lebens.
Amen.
Lied nach der Predigt: EG 281,1-3 Erhebet er sich unser Gott (Psalm 68)
Literatur: Friedemann Eißler, Predigmeditation über Epheser 4, 11-15(16) zu Pfingstmontag 2006, in: Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext, Zur Perikopenreihe IV , herausgegeben von Studium in Israel e.V. 2005
Liebe Gemeinde,
Pfingsten, das ist das Fest der großen Bewegung zwischen Himmel und Erde! An Himmelfahrt fährt der Auferstandene von der Erde in den Himmel hinauf – an Pfingsten kommt der Heilige Geist Gottes herab auf die Erde und erfüllt die Menschen, schüttet seine Gnade aus.
"Einem jeden aber von uns ist die Gnade gegeben nach dem Maß der Gabe Christi." (V 7) , so lesen wir im Brief an die Epheser. Jederbekommt einen Anteil an dieser himmlischen Kostbarkeit, uns allen ist sie geschenkt. Jesus Christus ist aus dem Himmel herab gekommen und hat unser menschliches Leben geteilt bis in die tiefste Erfahrung des Sterbens hinein. Er hat den Tod überwunden. Immer wieder haben die Seinen ihn gesehen nach Ostern, konnten mit ihm sprechen, seine Stimme hören. Dann nimmt er sich zurück, verabschiedet sich segnend. Er kehrt zurück in die der Sichtbarkeit entzogene Sphäre zur Rechten Gottes, um uns allen unsichtbar nahe zu sein. Gott kommt auf die Erde und alle irdischen Erfahrungen kommen zu Gott – in diesem Auf und Ab, diesem Herabfahren und Hinauffahren geschieht lebendige Verbindung zwischen Gott und uns: wir werden von Gott berührt mitten in unserem Lebensalltag, denn Gott lässt sich von uns berühren, von allem, was uns umtreibt und schickt uns seine Kraft aus der Höhe. "Einem jeden von uns ist die Gnade gegeben ..." Das ist Pfingsten. So baut Gott seine Kirche.
Kann man das auch heute erleben? Welche Kraft aus der Höhe erwarten wir?
Ich konnte mit vier Menschen darüber sprechen:
"Ja, die Kraft aus der Höhe, die könnte ich schon wirklich gut gebrauchen", sagt Maria, Mitte sechzig. "Mit meiner eigenen Kraft bin ich nämlich am Ende." Sie bricht fast zusammen unter der Pflege ihrer hochbetagten Mutter.
"Ja, auf die Kraft aus der Höhe warte ich auch", sagt mir Peter, ein Mann Anfang vierzig. "Ist Pfingsten nicht das Fest der Verständigung? Ich glaube, ich brauche den Heiligen Geist für meine Ehe. Wir lieben uns, aber wir sind so unterschiedlich. Oft verstehen wir uns einfach nicht, es ist als sprächen wir verschiedene Sprachen. Dann verletzen wir uns und so ganz langsam kam es dazu, dass wir uns gegenseitig bekämpfen. Eigentlich wollen wir das beide nicht, aber wir finden keinen Ausweg mehr. Kann es für uns ein Pfingsten geben?"
"Ich würde so gerne wieder Freude erleben", sagt die achtunddreißigjährige Michaela. Sie ist an einer Depression erkrankt, bewältigt mit Mühe ihren persönlichen Alltag, arbeiten kann sie zur Zeit nicht. "Alles fühlt sich so leer an", sagt sie. "Ich muss ja schon dankbar sein, wenn ich keine Angstzustände erleben muss. Aber - was ist das für ein Leben?"
"Braucht nicht unsere ganze Welt den Heiligen Geist von Gott?" gibt Susanne, knapp fünzig, zu bedenken. "Die Krisenherde überall, die Dynamik von Gewalt und Gegengewalt, soviel Hass und so viel Elend ... das ist doch alles nicht zum Aushalten. Wo ist denn der Heilige Geist? Oder haben wir einfach verlernt, ihn wahrzunehmen?"
Damals, in Jerusalem, warten sie auf ihn. Erschüttert über den unvermuteten und grausamen Tod Jesu, den sie miterlebt haben, sitzen sie beieinander. Ebenfalls erschüttert sind sie über die Erfahrung von Ostern, manche aufgewühlt, andere zweifelnd. Sie ahnen, dass ihnen eine große Aufgabe bevorsteht, der sie sich nicht gewachsen fühlen. So sitzen sie in Jerusalem und feiern das Wochenfest Schawuot und beten den 68. Psalm, den die jüdische Gemeinde bis zum heutigen Tage am zweiten Tages des Wochenfestes betet und ihn darum auch gestern gebetet hat. Eben den Psalm, der in unserem Abschnitt zitiert wird: "Er ist aufgefahren in die Höhe und hat Gefangene mit sich geführt und hat den Menschen Gaben gegeben." (V 8)
Von wem ist hier die Rede?
Von Mose, sagt die jüdische Auslegung. Der Psalm redet von Moses Gotteserfahrung auf dem Sinai. Die von den verschiedenen Ereignissen erschütterten Anhänger Jesu sitzen also in Jerusalem und beten diesen alten Psalm. Von den Himmeln und vom höchsten Berg ist darin die Rede und von den tiefsten Tiefen des Meeres. Auch bis dahin reicht Gottes Macht. Und vom Himmel fällt nicht nur der lebenswichtige gnädige Regen, nein, "die Himmel troffen vor Gott – vor Gott, dem Gott Israels," so betet der Psalm (Psalm 68,9). Das klingt üppig. Das klingt gnadenreich. Das klingt nach Leben. Das bestärkt die Anhänger Jesu, auch in ihrer Situation die Hoffnung nicht aufzugeben. Die Hoffnung auf die die Kraft von oben.
Denn damals am Sinai war es ja auch geschehen. Unser christliches Pfingstfest, liebe Gemeinde, können wir ohne Mose und den Sinai, ohne diese große Bewegung des Gebens und Empfangens zwischen Himmel und Erde nicht verstehen.
Mose lässt das Volk am Sinai lagern. Er selbst steigt den Berg hinauf, Schritt für Schritt, bereitet sich selber vor auf die Begegnung mit Gott. Alles, was ihn ablenkt und sonst beschäftigt, lässt er hinter sich. Er ist für niemanden mehr zu erreichen, außer für Gott. Immer weiter gelangt er hinauf, erreicht schließlich himmlische Höhen. Er begegnet Gott und empfängt von ihm die Tora, Gottes Weisung für ein Leben in Güte und Freude. Die Dienstengel sind verstimmt - so erzählt die jüdische Tradition. Was hat ein von einer Frau Geborener überhaupt in ihren Sphären zu suchen? Doch Gott redet ihnen gut zu und gibt ihnen zu bedenken, dass doch viele der Gebote für die Engel selber gar keinen Sinn ergeben, wohl aber für die Menschen. So empfängt Mose die Tora, die bisher gleichsam im Himmel "gefangen" war und sich nun im Menschen erfüllen kann, als kostbare Himmelsgabe. "Liebe Gott von ganzem Herzen und deinen Nächsten wie dich selbst." Das ist das höchste Gebot der Tora. Und Mose nimmt sie in Empfang und seit damals lebt das Volk mit dieser Gabe. "Du hast den Menschen Gaben gegeben " lesen wir im Epheserbrief als Zitat aus dem 68. Psalm.
Die Tora, die Weisung Gottes, kommt im Menschen zur Erfüllung. Sie kommt aus dem Himmel als Gabe für die Menschen, die daraus Orientierung und Sinn und Trost und Freude für ihr Leben empfangen.
Liebe Gemeinde: Himmlische Gaben empfangen, Gaben aus der Höhe für ein Leben, das auch durch Tiefen führt, das ist Pfingsten. Und als sich die ersten Jüngerinnen und Jünger in Jerusalem verzagt und sehnsüchtig versammeln, damals, da warten sie wieder auf die Gabe aus der Höhe. Sie beten den alten Psalm. Und der Gott Israels, der treu ist und seine Menschen liebt, schickt ihnen seinen Heiligen Geist. Sie erleben das Wunder von Pfingsten, die frohmachende Kraft, die alle Verzagtheit überwindet, das Verstehen untereinander und mit vielen so verschiedenen Menschen.
Gott schickt seinen Heiligen Geist, damit sie weiterhin gemeinsam leben und Gottes Treue bezeugen unter den Menschen. Nicht nur sein geliebtes Volk, sondern alle Menschen auf der Welt sollen Anteil bekommen an der Kraft aus der Höhe. So baut Christus seine Kirche, so wächst sein Leib auf dieser Erde, der durch sein Haupt, durch den auferstandenen Christus zur Rechten Gottes, bereits mit dem Himmel verbunden ist. Und die Worte des Psalms, zu denen die Anhänger Jesu schon damals Zuflucht nahmen, erfüllen sich auf's Neue: "Einem jeden von uns ist die Gnade gegeben".
Damit diese weltweite Gemeinschaft, der Leib Christi auf Erden gedeihen kann, hat Christus unterschiedliche Aufgaben für die einzelnen bereit. Einige setzt er als Apostel ein. Die ersten Apostelinnen, das sind die Frauen am Ostermorgen am leeren Grab. Vom Auferstanden erhalten sie den Verkündigungsauftrag. Prophetinnen und Propheten hat Gott seinem Volk und seiner Kirche immer wieder geschickt. Das sind Menschen, die hellhörig sind für die Zeichen Gottes und für seinen Willen. Sie zeigen den anderen, die dafür manchmal blind sind, das Licht, das von Gott her die gegenwärtige Lebenslage erhellt. Einige hat er als Hirten und Lehrer eingesetzt. Wie wichtig ist es für die Herde Gottes, dass kundige Hirtinnen und Hirten sich um die wichtigen Dinge kümmern, die richtigen Entscheidungen treffen, Verantwortung übernehmen, z.B. in unserer Zeit auch mit weniger Geld das kirchliche Leben gestalten. Lehrerinnen und Lehrer sind ebenfalls dringend erforderlich. Den einzelnen Gliedern am Leib Christi soll ermöglicht werden, die Heilige Schrift zu verstehen.
Diese Dinge sind nötig, damit alle Heiligen – und das sind wir ! – in den Stand versetzt werden "zum Werk des Dienstes", wie der Epheserbrief formuliert. Das ist das Ziel! Das "Werk des Dienstes"! Dazu ist Gottes Geist gekommen! Alle Gaben, die Gott schenkt, jede Gnade, die uns gegeben ist, ist dazu da, dass wir einander dienen – "ein jeglicher mit der Gabe, die er empfangen hat" (1.Petrus 4,10).
Es geht also nicht nur darum, dass wir glauben, vertrauen, verstehen, sondern es geht darum, dass wir "dienen", d.h., dass wir liebevoll handeln. Wie es die Tora lehrt. Jesus selbst hat das Gebot der Nächstenliebe immer wieder betont. Jede und jeder von uns ist zum Dienst, zur diakonia berufen, damit der Leib Christi als lebendiger Körper gedeiht und wächst. Jedes Glied am Leib Christi soll das andere unterstützen nach dem Maß seiner Kraft. So baut sich der Leib Christi auf in Liebe. Dazu werden wir befähigt und dazu sind wir herausgefordert. Es liegt an uns. Und wir sind mit dieser Aufgabe nicht allein gelassen.
Maria, die ihre hochbetagte Mutter pflegt, begreift das nach unserem Gespräch so: Ja, ich darf mich auch einmal ausruhen. Wenn Gott selbst am siebten Tag geruht hat, dann darf ich das auch. Und sie ruft den Kreis ihrer Freundinnen zusammen, um ihre Lage mit ihnen zu besprechen. Und die Freundinnen haben die Gabe des Zuhörens und des Ermutigens. Mit dieser Kraft im Rücken organisiert Maria, dass sich an einem Nachmittag pro Woche eine andere Person um die Mutter kümmert und mutet ihr das auch zu, und dass einmal pro Woche ein Pflegedienst auch über Nacht kommt, sodass Maria einmal durchschlafen kann und Zeit gewinnt für schöne Dinge, für eine Wanderung mit einer Freundin oder etwas, was ihr sonst gut tut. "Das ist für mich eine richtig gute Pfingstbotschaft!" strahlt sie.
Auch Peter besinnt sich darauf, dass er nicht alleine ist, sondern dass er verbunden ist mit der größeren Gemeinschaft. Zunächst öffnet er sich einem Freund und spricht zu ihm von seinen Schwierigkeiten in der Ehe. Dieser Freund hat die Gabe des Zuhörens und der Verschwiegenheit. Und er kann auch guten Rat geben. Er weiß von der Kraft der Versöhnung und gibt die richtigen Impulse. Peter spricht mit seiner Frau, gemeinsam suchen sie sich Hilfe. Peter lernt eigene Fehler zuzugeben und die beiden machen sich von neuem auf den Weg, sich kennen zu lernen und einander immer wieder zu verzeihen und sie erfahren, dass sich ihre Liebe vertieft. "Meine Ehe zu leben, das ist für mich jetzt ein spiritueller Prozess," sagt Peter später. "Ich fühle mich getragen von Gottes Geist der Liebe und der Versöhnung, und das Schöne ist, ich kann mich dieser Kraft immer wieder von neuem anvertrauen und selber Liebe und Versöhnung lernen."
Michaela, die an Depressionen leidet, braucht Mitmenschen, die die Gabe haben, für sie zu glauben. Mittlerweile bezeugt sie, dass sie sich getragen fühlt durch ihre schweren Zeiten, auch wenn es Momente gibt, wo ihr dieses Gefühl nicht zur Verfügung steht. Dann hält sie sich daran fest, dass Gott selber in Christus auch in dieser Tiefe war und auch diese Verlassenheit und Trostlosigkeit kennt und dass sie darin ausharren muss und kann, bis es jeweils wieder besser wird. Die Freunde und Freundinnen, die für sie glauben, helfen Michaela, dass sie selber eine unglaublich kostbare Gabe entwickelt: Vertrauen in schwerster Angefochtenheit. Zuweilen kann sie andere, die ein ähnliches Schicksal haben, ermutigen. Das ist Kraft von oben, Kraft, die durch die Tiefe hindurchgegangen ist, Kraft, die hilft.
Und die Krisenherde und der Hass zwischen Völkern und die Ungerechtigketi und der Hunger auf dieser Welt? Liebe Gemeinde, überall sind wir aufgefordert zum "Werk des Dienstes": zur Fürbitte, zur herzlichen inneren Anteilnahme, zur konkreten Hilfe; dazu, für Schwache Partei zu ergreifen, dazu, versöhnliche Töne in Debatten zu bringen, zu teilen, was wir haben. Und wir sind dabei nicht alleine gelassen.
Wenn wir in dieser Weise das "Werk des Dienstes" tun, wenn wir, wie die Tora sagt, von ganzem Herzen Gott lieben und unseren Nächsten wie uns selbst, dann werden wir zur Einheit des Glaubens gelangen, sagt der Epheserbrief. Ist das nicht eine großartige Verheißung gerade in einem ökumenischen Gottesdienst? Und haben wir das nicht auch schon erlebt?
Wenn wir in dieser Weise das "Werk des Dienstes" tun, dann werden wir zur Erkenntnis von Christus gelangen, dann werden wir zu Männern und Frauen, die ans Ziel gekommen sind und zum vollen Maß der Fülle Christi gelangen; dann werden wir standfest sein gegenüber dem trügerischem und manipulativem Spiel von Verführern.
Das alles, liebe Gemeinde, ist eine ständige Bewegung zwischen Himmel und Erde, ein wunderbares Geschehen, das schon längst vor uns begonnnen hat und in das wir immer wieder neu mithineingenommen werden. Wir sollen mitmachen, mitlieben, mitwachsen! Wir können uns mit freuen, uns alle gemeinsam als Leib Christi verstehen. Wir können uns als von Gott reich Beschenkte empfinden, denn er gibt uns immer wieder neu die Kraft aus der Höhe.
Wir wollen nicht aufhören, ihn zu feiern, den Grund unseres Lebens.
Amen.
Lied nach der Predigt: EG 281,1-3 Erhebet er sich unser Gott (Psalm 68)
Literatur: Friedemann Eißler, Predigmeditation über Epheser 4, 11-15(16) zu Pfingstmontag 2006, in: Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext, Zur Perikopenreihe IV , herausgegeben von Studium in Israel e.V. 2005
Perikope