Kreuzabnahme – Predigt zu Johannes 19,16-42 von Sven Keppler
19,16-42

I. Das Leiden Jesu hat ein Ende gefunden. Schlaff liegt sein sehniger Körper in den Armen von zwei Männern. Leichenblass. Fast so farblos wie die Leinentücher, in die er gewickelt werden soll.

Die Augen geschlossen, den Mund leicht geöffnet, kippt der Kopf nach hinten weg – die Leichen-starre ist noch nicht eingetreten. Der rechte Arm hängt leblos herab. Nur die Stellung von Zeige- und Mittelfinger könnte ein V andeuten. Ein zarter Hinweis, dass Jesus auch im Tod der Sieger bleibt.

Zwei Männer halten den Leichnam. Der rechte ist Nikodemus. Einer der Jerusalemer Honoratioren, ein gelehrter Lehrer Israels. Jahre zuvor hatte er mit Jesus in der Nacht über die Auferstehung gesprochen. Er hatte Jesus damals nicht verstan-den, obwohl er es aufrichtig versucht hatte. Aber nun war er unter dem Kreuz und brachte kost-bares Salböl.

Der andere dürfte der Jünger Johannes sein. Bartlos ist er, steht nahe bei Maria. Und er berührt die Seitenwunde Jesu, so wie nur der Jünger es tut. Weil Johannes dabei ist, könnte man das Bild für eine Kreuzabnahme halten. Auch die Anwesenheit der drei Frauen spricht dafür: Maria, die Mutter Jesu; Maria von Magdala; und Maria, die Frau des Klopas. Obwohl Josef von Arimathäa fehlt, geht es doch auch um die Grablegung: Nikodemus ist schon da. Und er steht mit Johannes auf der Steinplatte, die das Grab bedeckt.

Caravaggio verdichtet alles, was auf das Sterben Christi folgt, in einem einzigen Moment. Das Kreuz ist nicht mehr zu sehen, sondern nur noch der Tod: der Leichnam, die Grabplatte, und vor allem die trauernden Menschen. Männer und Frauen am Karfreitag. Sie müssen mit dem Tod Jesu umgehen lernen. Dieselbe Aufgabe, vor der wir heute stehen – immer noch und immer wieder.

Deshalb möchte ich heute die Aufmerksamkeit auf diese fünf Menschen lenken. Möchte Sie dazu einladen, dass wir uns gemeinsam mit ihnen dem Geheimnis des Karfreitags nähern.

 

II. Alle fünf, die Jesus umgeben, wirken auf mich ganz ratlos. Alle sind sie in Bewegung, vor allem mit den Händen. Und doch strahlen sie auf mich alle auch eine große Hilflosigkeit aus.

Am stärksten merkt man es bei Maria Magdalena, der mittleren der drei Frauen. Den Kopf hat sie nach vorne geneigt. Die Augen entweder geschlossen oder den Blick ins Leere gerichtet. Den Mund fragend geöffnet. Mit der Rechten stützt sie den Kopf ab. Jede Energie, jede Hoffnung scheint von ihr gewichen. Fassungslos, gebrochen, vor den Kopf gestoßen.

Auf den ersten Blick ganz anders verhält sich die Frau rechts neben ihr. Maria, die Frau des Klopas. Beide Arme breitet sie weit aus, streckt sie in den Himmel. Eine leidenschaftliche Geste der Klage. Der Blick ist fragend nach oben gerichtet. Aber ihr ausdrucksloses Gesicht zeigt, dass sie anscheinend auch von dort keine Antwort erwartet. Dieselbe Fassungslosigkeit wie bei der Magdalena. Nur dass sie sich in einem anderen Temperament ausdrückt.

Viel ruhiger, viel gefasster dagegen die Mutter Jesu. Eine gealterte Frau, mit ihrem blauen Gewand und weißen Tuch hier wie eine Nonne vorgestellt. Auch sie hat die Arme ausgebreitet, man kann es leider kaum sehen: die eine Hand über Jesu Haupt, die andere direkt unter der Brust der Klopasfrau. Als wollte sie ihren Sohn umfassen. Als wollte sie ihn beschwören, wieder zurück zu den Lebenden zu kommen. Aber er ist ihr entzogen. Hilflos deshalb auch sie.

Nikodemus dagegen packt kräftig zu. Er hat die gebeugten Beine Jesu umschlossen, hat die Initiative ergriffen. Wie es dem bedeutenden Mann gemäß ist. Aber nun, wohin mit ihm? Ratlos scheint er uns anzuschauen. Als wollte er fragen: Sollen wir den Gottessohn denn tatsächlich in ein Grab legen? Nikodemus sieht aus, als hätte Caravaggio ihm seine eigenen Züge gegeben, nur um 20 Jahre gealtert. In aller Tatkraft ist auch er hilflos und überfordert.

Und Johannes? Fürsorglich beugt sich der Lieblingsjünger über seinen Meister. Zärtlich umschließt er ihn mit beiden Händen, liebevoll. Blickt auf ihn mit großem Gefühl. Ganz versunken in den Moment. Aber seltsam unbeteiligt an dem Geschehen um ihn herum. Auch von ihm ist kein Impuls zu erwarten, wie es weitergehen soll.

Alle fünf drücken auf ihre Weise die Lähmung des Karfreitags aus. Die Ratlosigkeit und Verzweiflung. Alle fünf auf ganz unterschiedliche Art, je nach Temperament, nach Alter und auch nach ihrer Stellung zu Jesus.

 

III. Liebe Gemeinde, eben habe ich von der Hilflosigkeit der Menschen auf unserem Bild gesprochen. Wenn man jedoch genauer hinschaut, dann gibt es bei jeder Person etwas, das über die bloße Ratlosigkeit hinausweist. Darauf möchte ich jetzt den Blick lenken.

Beginnen wir wieder bei Maria Magdalena. Ihr Blick ist nach innen gerichtet. Woran mag sie denken? Steht ihr vielleicht die Szene vor Augen, wie sie Jesus zum ersten Mal begegnet war? Lukas berichtet, dass Jesus sie von sieben bösen Geistern geheilt hatte. Diese Erfahrung bleibt ihr. Der Tod kann sie nicht zerstören.

Oder Maria, die Frau des Klopas: Gewiss, ihr vor Trauer erschöpfter Blick scheint nichts mehr zu erwarten. Aber doch bringt sie die Kraft auf, die Arme in den Himmel zu recken. Sie zeigt an, von wo allein eine Antwort zu erhoffen ist. Eine Antwort, wie Gott sie am Ostermorgen auf wunderbare Weise gegeben hat.

Johannes hält Jesus liebevoll im Arm. Seine Hand fasst ihn genau dort, wo der Speer des Soldaten eine Wunde hinterlassen hat. Er legt sozusagen den Finger in die Wunde. Er weicht dem Schrecklichen nicht aus. Dass er das voller Hoffnung tut, das deutet Caravaggio durch das grüne Gewand des Jüngers an.

Dasselbe Grün wie die Pfanze unterhalb des Grabsteins. Auch so ein zarter Hinweis, dass aus dem Grab neues Leben hervorgehen wird.

Und Marias Geste – die ausgebreiteten Arme? Ist das nicht auch eine Segensgeste? Sie segnet ihren Sohn, der unschuldig sein Leben gelassen hat.

Nikodemus schließlich richtet seinen Blick auf uns. Welche Frage steht in seinen Augen? Ihr Menschen, ihr Versmolder – was wollt Ihr sagen zu diesem Tod? Wisst Ihr, dass er auch mit Euch zu tun hat? Dass er auch Euch ein neues Leben eröffnen soll?

 

IV. Lassen wir uns also die Frage stellen: Was sagen wir zu diesem Tod? Haben wir Verständnis für den Satz, dass Jesus für uns gestorben ist? Dass unsere Sünden zu seinem Tod beigetragen haben? Dass er unser Verhältnis zu Gott ins Reine gebracht hat, weil er die Strafen, die wir verdient hätten, für uns erlitten hat?

Immerhin haben diese Vorstellungen den christlichen Glauben von Anfang an geprägt. Erst seit der Aufklärung ist immer wieder die Frage gestellt worden, ob dies die angemessene Deutung von Karfreitag und Ostern ist.

Lassen Sie mich eine ganz persönliche Antwort auf diese Frage versuchen. Der fragende Blick des Nikodemus richtet sich an jeden einzelnen von uns. Wir alle sind herausgefordert, unsere ganz eigene Antwort zu geben.

Unser Glaube ist kein Schönwetterglaube. Unser Glaube ist mehr als die Freude über das Christkind. Mehr als der Dank für die gute Ernte. Mehr als die Segensbitte für Säuglinge und Brautpaare. Das alles ist wunderbar und gehört dazu. Aber unser Glaube soll uns auch helfen, mit dunklen, schweren Erfahrungen umzugehen.

Vermutlich jeder Mensch macht irgendwann dunkle Erfahrungen mit Gott. Dass er oder sie sich einmal Hilfe von Gott erhofft – und sie bleibt aus. Dass die Frage kommt, wie Gott das Leid zulassen kann, oder Unglücke – ganz aktuell nach der Katastrophe von Notre Dame. Oder dass der Tod eines Menschen so erlebt wird, dass Gott sich verfinstert und ferne ist.

Viele Menschen haben in solchen Verfinsterungen Gottes seinen Zorn gesehen. Haben ihr Unglück als eine Strafe Gottes gedeutet. Und sie können viele Stellen in der Bibel finden, die auch so sprechen.

 

V. Die wichtigste Frage des Glaubens ist doch: Wie können wir herauskommen aus solch einer Verfinsterung Gottes? Wie können wir den Gott wiederfinden, der unser guter Hirte ist? Den Gott, dem wir vertrauen. Und der uns trägt, auch in schweren Zeiten.

Ich glaube, am Karfreitag hat Gott selbst eine Antwort auf diese Frage gegeben. Seine Antwort ist: Er steigt selbst herab zu uns in die Dunkelheit. In seinem Sohn erlebt er selbst die Verlassenheit und die Angst des Todes. Er zieht uns nicht einfach zu sich ins Licht, sondern teilt mit uns die höchste Not.

Dadurch hat sich etwas Entscheidendes verändert. Von Karfreitag an können wir Gott nicht nur nahe sein, wenn die Nacht wieder dem Tag gewichen ist. Sondern auch in der einsamsten Not ist Gott bei uns.

Er entzieht sich uns nicht. Und wir brauchen seinen Entzug nicht mehr so zu deuten, dass er uns zürnt. Deshalb können wir sagen: Christus ist für uns gestorben. Damit uns nichts mehr von Gott trennen kann – auch nicht unsere Schuld. Damit wir leben. Amen.

Ergänzend:

Gemälde Caravaggios Kreuzabnahme

 

Perikope
19.04.2019
19,16-42