"Krippe zwischen Marzipan und Urknall" - Predigt über Johannes 3, 31-36 von Wolfgang Vögele
3,31
Krippe zwischen Marzipan und Urknall
Der Predigttext für den ersten Weihnachtsfeiertag steht in Joh 3,31-36:
„Der von oben her kommt, ist über allen. Wer von der Erde ist, der ist von der Erde und redet von der Erde. Der vom Himmel kommt, der ist über allen und bezeugt, was er gesehen und gehört hat; und sein Zeugnis nimmt niemand an. Wer es aber annimmt, der besiegelt, dass Gott wahrhaftig ist. Denn der, den Gott gesandt hat, redet Gottes Worte; denn Gott gibt den Geist ohne Maß. Der Vater hat den Sohn lieb und hat ihm alles in seine Hand gegeben. Wer an den Sohn glaubt, der hat das ewige Leben. Wer aber dem Sohn nicht gehorsam ist, der wird das Leben nicht sehen, sondern der Zorn Gottes bleibt über ihm.“
Liebe Gemeinde,
den richtigen Riecher braucht man für Weihnachten. Das leiernde Gedudel der Weihnachtslieder aus den versteckten Lautsprechern zwischen den Buden der Weihnachtsmärkte, die endlosen blendenden Lichterketten an den Weihnachtsbäumen und in den Fenstern, sie lenken im Grunde nur ab. Die weihnachtlich gestimmte Nase aber läßt sich nicht täuschen. Wo es nach Zimtstern, Bienenwachs und Marzipankartoffeln duftet, schaltet das dafür empfängliche Bewußtsein ganz ohne Beihilfe des Intellekts auf eine Weihnachtsstimmung, die sich von keiner Einsicht in Vorbereitungshektik und Geschenkestreß beirren läßt. Aber die Stimmung allein tut es nicht, sie braucht Geschmack, Gedanken und Glauben.
Der Evangelist Markus erzählt gar keine Weihnachtsgeschichte, aber trotzdem ist er unter dem Weihnachtsbaum gegenwärtig, jedesmal wenn ein Kind ein Stückchen Marzipan in den Mund nimmt. „Marci panis“, das Brot des Markus heißt die Süßspeise aus Mandeln und Zucker, weil sie aus der Lagunenstadt Venedig kommt. Und der Schutzheilige Venedigs ist der Leben-Jesu-Erzähler Markus mit dem langmähnigen Löwen als Begleiter. (Ich weiß, man kann das Wort Marzipan auch anders herleiten.) Weihnachtsduft, auch wenn er nur in Spurenelementen in die Nase des Geschenkekäufers eindringt, zielt auf tiefere Schichten des Bewußtseins, die dem Zugriff zählenden Kalküls entzogen sind.
Lukas, der zweite Evangelist, setzt auf Anschaulichkeit, erzählt von der mühseligen Wanderung von Nazareth nach Bethlehem, von dem Stall, von den Hirten. In dieser Anschaulichkeit sah die Christenheit den Verfasser des Evangeliums gerne als Maler. Der Evangelist Lukas gestaltete die Krippenszene anschaulich aus  und portraitierte Maria in dieser anrührenden Mischung aus Furcht und Hoffnung, als der Engel Gabriel ihr die bevorstehende Geburt ankündigte. Die Phantasie der Zuhörer und Zuseher hat dann einiges dazu erfunden und in die Nähe des Jesuskindes gerückt, in der wohlmeinenden Absicht, uns das Geschehen so vor Augen zu führen, daß wir die unüberbietbare Bedeutsamkeit des Geschehens erkennen. Der Betrachter und die Hörerin sollen bewegt werden, sich von der Krippe anrühren lassen und sie vor allem in Erinnerung behalten im restlichen Jahr, wenn nicht Weihnachten gefeiert wird. Jedes kindliche Krippenspiel folgt dieser Logik bildlicher und gefühlsmäßiger Anschaulichkeit. Und jedes Kind, das einmal als Maria im blauen Umhang oder als Hirte mit geliehenem Schaffell am Weihnachtsspiel teilgenommen hat, wird das fürs ganze Leben nicht vergessen, darin unterstützt von zu Tränen gerührten Patentanten und fotografierenden Großvätern.
Damit Weihnachten zu mehr wird als dem vorgeschobenen Grund für den Kauf von Geschenken, muß es in uns Gestalt annehmen, bewußt oder unbewußt, als süßer Duft, als verlockender Geschmack oder als anschauliche Geschichte.
Der Wunsch, möglichst genau zu wissen, unter welchen Umständen Maria dieses ihr heilige Kind geboren hat, hat die Phantasie von Liederdichtern, Malern und Krippenspieldramatikern wild wuchern lassen, hat sie nachdenken lassen über den wiederkäuenden Ochsen und den lethargischen Esel, über den herumstehenden Josef, der das Schicksal aller nutzlosen Männer im Kreißsaal teilt, über die armen Hirten und die wertvollen Geschenke der Weisen aus dem Morgenland. Zu diesen Geschenken zählte ja auch ein Kistchen mit Brocken von Weihrauch  - womit wir wieder beim Duft wären, obwohl der Weihrauch im evangelischen Gottesdienst ja verpönt ist.
Gegenüber Duft und Geschmack fällt es sehr auf, daß Johannes, der Evangelist des Predigttextesscheinbar an dieser Anschaulichkeit, Bildlichkeit und Menschlichkeit von Weihnachten nicht interessiert war. Wenn der Evangelist in alten Bildern auftaucht, folgt ihm ein Adler. Adler sind Einzelgänger, majestätisch und stolz, die sich anstrengungslos vom Aufwind auf große Höhen treiben lassen. Dort kreisen dort schwebend umher, weil sie von oben am besten beobachten können, wo sich ihre Beute verstecken könnte. Schwerelosigkeit und scharfe Beobachtungsgabe – das paßt zu dem Evangelisten.
Man könnte, sozusagen mit der Marzipankartoffel im Mund, sagen, Johannes erzählt die Weihnachtsgeschichte aus der Vogelperspektive. Und dazu war er der Meisterdenker unter den Evangelisten, kein spröder, kurz angebundener Geschichtensammler wie Markus, kein anschaulicher Bildermaler wie Lukas und kein Historiker, dem an der Verbindung mit der jüdischen Tradition lag, wie Matthäus.
Johannes der Evangelist ist der ungekrönte Philosophenkönig unter den Evangelisten. Er denkt geordnet und logisch, in größeren Schritten und breit angelegten Maßstäben. Bei Johannes wird das anschauliche lukanische Krippenspiel zum kosmischen Weltereignis, auf das alle Augen und Kameras gerichtet sind. Stallgeruch ist da nicht mehr wahrzunehmen, würde auch nur stören. Absurd der Gedanke, dem Retter der Welt die Windeln zu wechseln. Bei Johannes bringt das Christkind den ganzen Kosmos zu einem leichten Zittern. Der Meisterdenker sah in diesem Kosmos noch ein gigantisches Haus von ungeahnten Ausmaßen, mit drei Stockwerken, im Keller die Toten, im Erdgeschoß die Lebenden und im Himmel die Dreieinigkeit von Vater, Sohn und Geist. Er wußte noch nichts von Urknall und Quantentheorie, darum war der Himmel für ihn noch ein Geheimnis. In seinem Oben sah er Vater, Sohn und Heiligen Geist – und sonst höchstens noch Wolken. Er wußte nicht, daß dort einmal Satelliten und Raumstationen fliegen würden.
Durch die Linse eines Teleskop betrachtet, sieht für uns heute der Himmel anders aus. Wir wissen, daß die Wahrnehmung des Sternenzelts von der Geschwindigkeit des Lichts abhängig ist. Wir sehen den Weltraum eher als gekrümmten Raum, der sich aus einer gigantischen Explosion, dem Urknall entwickelt und immer weiter auseinanderdriftet. Alles strebt auseinander, hinein in eine Kälte, für die uns die Vorstellungskraft verloren gegangen ist.
Das Haus mit drei Stockwerken hat als Modell für den Kosmos ausgedient. Aber Johannes war klug genug, daß er nicht Werbung für ein Weltmodell machen wollte. Er wollte diese einzigartige Berührung zwischen Gott und Welt darstellen. In Jesus Christus berühren sich Gott und Mensch. Das war der Moment, von dem Joseph von Eichendorff in einem Gedicht sagte: „Es war, als hätt der Himmel / Die Erde still geküßt.“ Wobei Eichendorff, der ein gläubiger Katholik war, damit eher die Berührung von Innen und Außen, von Seele und Natur meinte. Aber das nur am Rande.
Johannes der Meisterdenker hatte etwas Ähnliches im Sinn wie moderne Physiker. Sie sind von der Aufgabe besessen, die Entstehung des Kosmos und die Naturgesetze mit einer möglichst kleinen Anzahl von Formeln zu erklären. Diese Theorie nennen sie eine „theory of everything“, eine Theorie von allem. Genau das will Johannes, eine „theory of everything“. Doch damit enden die Gemeinsamkeiten. Ihn bewegt nicht die Frage: Wie ist die Welt entstanden? Ihn bewegt die Frage: Wie kommt Gott als Mensch in die Welt?
Johannes antwortet: „Der von oben kommt, ist über allen.“ In diesem nüchternen Satz ist kein einziges Gramm Krippenkitsch und kein Tropfen Windelseligkeit enthalten. Das Oben, der Himmel breitet sich wie eine Käseglocke über dem Unten, der Erde aus. Oben und Unten berühren sich nicht, nicht einmal am Horizont. Die Irdischen, also die Menschen streben zwar nach oben, aber sie können ihn nicht erreichen. Was die Menschen auch tun, selbst dann, wenn sie mit Flugzeugen oder Raumschiffen am Himmel und darüber hinaus fliegen, sie erreichen das wahre göttliche Oben nicht. Und das kann man sagen, auch wenn wir heute das antike Weltbild, welches solche Aussagen prägt, nicht mehr teilen.
Johannes entfaltet das Drama der Erlösung als ein überirdisches Geschehen, in dem die Erde unterhimmlisch nachgeordnet ist. Wenn man es sich im Bild anschaulich vorstellen will, so erinnert es nicht an das schlafende Baby in der Krippe von Bethlehem. Eher kann man an den Cristo Redentor denken, den erlösenden Christus, die dreißig Meter hohe, mit weißem Speckstein überzogene Figur auf dem Corcovado, dem Zuckerhut bei Rio de Janeiro. Diese Christusfigur breitet segnend und weltumspannend ihre Arme aus, insgesamt 28 Meter breit. Sie ist auf einem acht Meter hohen Sockel auf dem Berggipfel errichtet und steht dort als Berührungspunkt zwischen Oben und Unten, Himmel und Erde, als Inbegriff der starken und schwachen Wechselwirkung zwischen Gott und Mensch.
In ihm, im weißen weihnachtlichen Erlöser begegnen sich Gott und Mensch, das Unanschauliche und das Anschauliche, Allmacht und Sterblichkeit. Aus dieser Berührung heraus fließt die Kraft des Heiligen Geistes genauso wie Strom fließt, wenn  Anode und Kathode durch einen Leiter miteinander verbunden werden.
Es ist merkwürdig, daß dann am Ende doch noch ein Moment des Emotionalen in die philosophisch-spirituelle Rede des Johannes hineinkommt. Johannes spricht vom Zorn. Dem Kind in der Krippe traut niemand Zorn zu, es ist dazu noch gar nicht in der Lage. Anders Johannes: Gottes mächtiger Zorn trifft unvermeidlich all diejenigen, die dem himmlischen Sohn keinen Glauben schenken. Keiner, auch kein glaubender Mensch will Gott gerne Zorn zugestehen, mit dem Hintergedanken und -gefühl, daß er genau diesen Zorn und seine Unberechenbarkeit fürchtet.
Zornlosigkeit bei Gott ist aber ähnlich schwierig wie Zahnlosigkeit bei Menschen. Manche Menschen trauen sich ja nie zornig zu werden, obwohl sie ausreichend Gründe dafür hätten, wegen Scheinheiligkeit und Heuchelei, wegen Demütigungen und Kränkungen. Menschen, die ihren Zorn verschweigen, werden unberechenbar. Gleiches würde für einen Gott gelten, der Zorn und Unzufriedenheit stets hinter seiner Liebe verschleiert. Verborgener Zorn kommt erst recht zur Explosion. Ähnliches gilt ja auch für das Gefühl des Überdrusses, wenn junge Eltern in der Nacht zum vierten Mal aufstehen müssen, weil das Baby seinen Schnuller immer wieder verliert und nicht einschlafen kann. Gegenüber dem kleinen Baby kann keine Mutter zornig werden.
Der philosophierende Evangelist Johannes ist klüger als die Kleingläubigen, die immer nur mit dem angeblich so lieben Gott kuscheln wollen. Wer den eigenen Zorn unterdrückt, der begeht denselben Fehler wie der, der nur vom lieben Gott redet und den Zorn Gottes nicht wahrhaben will. Die Glaubensrechnung, die Johannes aufmacht, kommt nicht ohne Unbekannte aus. Und die größte Unbekannte ist das kleine Kind, das zu demjenigen Gottesprediger und Heiler heranwachsen wird, den die Menschen mit dem Kreuz von Golgotha töten.
Heißt das: Weihnachtsfreude ist im Grunde nicht berechtigt? Keineswegs. Aber die Freude über Weihnachten bekommt einen Ort zugewiesen. Sie steht nicht für sich selbst, sondern sie ist eingeordnet in die Geschichte Gottes mit den Menschen. Johannes der Evangelist hat das gewußt. Deswegen hat er auf die Krippe verzichtet. Aber in seinen Worten hat er gezeigt, wie Gott den Himmel auf die Erde holt. Gott wird Mensch. Das ist Johannes' „theory of everything“, zwischen Marzipan und Urknall. Amen.
Perikope
25.12.2012
3,31