Krumme Wege führen zum Heil - Predigt zu Micha 5,1-4 von Isolde Karle
5,1-4

Und du, Bethlehem Efrata, die du klein bist unter den Städten in Juda, aus dir soll mir der kommen, der in Israel Herr sei, dessen Ausgang von Anfang und von Ewigkeit her gewesen ist.
Indes lässt er sie plagen bis auf die Zeit, daß die, welche gebären soll, geboren hat. Da wird dann der Rest seiner Brüder wiederkommen zu den Söhnen Israel. Er aber wird auftreten und weiden in der Kraft des Herrn und in der Macht des Namens des Herrn, seines Gottes. Und sie werden sicher wohnen; denn er wird zur selben Zeit herrlich werden, so weit die Welt ist. Und er wird der Friede sein. (Mi 5,1-4)

Liebe Gemeinde,
das faszinierende an biblischen Geschichten ist, dass sie uns herausfordern, die Welt anders als sonst wahrzunehmen. Sie folgen nicht der Logik, die sich von selbst versteht, sie fordern uns vielmehr auf nachzudenken und wahrzunehmen, was leicht übersehen wird. Gute Geschichten haben es in sich. Sie nehmen unvorhersehbare Wendungen. Oft führen in ihnen krumme Wege zum Ziel. In Micha 5 haben wir es mit einer solchen Geschichte zu tun und sie ist verwoben mit vielen anderen biblischen Geschichten, die im Neuen Testament auf wundersame Weise im Stammbaum Jesu wieder auftauchen. Damit weist unser Predigttext weit über sich selbst hinaus und nimmt in gewisser Hinsicht schon die Weihnachtsgeschichte vorweg.
Ich will im Folgenden den weihnachtlichen Motiven unseres Predigttextes nachgehen und über Bethlehem, David, die erstaunlichen Frauengeschichten, die hinter dem Stammbaum Jesu stehen, und Maria und Josef nachdenken.

(1) Bethlehem
In Micha fünf überrascht zunächst der Ort, der als Schauplatz des Heils gewählt wird: Es geht um Bethlehem, die Stadt oder besser das Dorf, das Jahrhunderte später in der Erzählung der Geburtsgeschichte Jesu zentrale Bedeutung gewinnen wird und heute in der ganzen Welt bekannt ist.
Bethlehem, nicht Jerusalem, ist für Micha der Ort, an dem ein neuer Herrscher geboren werden soll. Dieser Herrscher wird in der Tradition Davids dafür sorgen, dass man sicher im Land wohnen kann, dass das Leiden unter Not und Ungerechtigkeit ein Ende hat, dass Flucht und gewaltsamer Tod aufhören. Dieser Herrscher wird ein neuer David sein, er wird einen Neuanfang machen und sich um die Menschen wie ein Hirte kümmern. Ein Hirte führt sein Volk, er schützt es und versorgt es. Der neue Herrscher wird bis zu den Rändern der Erde alle Mächte umgreifen. Er wird Rettung bringen und wahren Frieden, Schalom.
Der Prophet Micha verknüpft diese weitreichende Vision mit dem kleinen, politisch völlig unbedeutende Bethlehem. Bethlehem liegt etwa zehn Kilometer von Jerusalem entfernt. Nicht Jerusalem ist der Ort der Hoffnung einer neuen Weltordnung, sondern das belanglose Bethlehem, ein Flecken am Rand. Gott beginnt sein rettendes und heilendes Handeln am ruhmlosen Ort unter kleinen Leuten. Krumme Wege führen zum Heil.
Micha blendet die gegenwärtige Not seiner Zeitgenossen bei seiner Vision keineswegs aus. Aber sein Akzent liegt auf der Überwindung der Not. Er interpretiert die Erfahrung der Gegenwart neu und greift dazu auf ein Bild zurück, das an die Weihnachtsgeschichte erinnert: Es geht um das Bild einer gebärenden Frau. Solange die Gebärende in Wehen liegt, leidet sie heftige Schmerzen. Ist die Geburt aber vorbei, dann ist die Befreiung da, dann ist alles vergessen, was vorher notvoll, mühsam und bedrückend war. Die Geburt ist das Ende der Krise, aber ohne Krise wiederum ist eine Geburt nicht möglich. Das ist die Botschaft des Micha: Die Krise wird nicht ewig dauern, Trost und Hoffnung stehen vor der Tür.

(2) David
Bethlehem ist der Geburtsort von David. David war der jüngste und der kleinste in der Kinderschar seines Vaters Isai. Keiner nahm David ernst. Während die großen Brüder wichtig waren und mit König Saul in den Krieg ziehen durften, hütete David als Hirte ein paar Schafe in Bethlehem. Als die Philister mit dem Riesen Goliat Saul und sein Heer angreifen, ist die Furcht und das Entsetzen groß. Keiner traut sich, sich mit Goliat anzulegen. Als David im Kriegslager auftaucht, um seinen Brüdern etwas zu essen zu bringen, nimmt er die Bedrohung wahr, wird aber von seinem großen Bruder sogleich scharf zurechtgewiesen und als Wichtigtuer beschimpft.
Schließlich kommt David zu Saul und überredet diesen, gegen Goliat kämpfen zu dürfen. Obwohl es absurd erscheint, gibt Saul aus lauter Hilflosigkeit David schließlich nach. Die Rüstung, die David angezogen wird, legt er sofort wieder ab. David geht darin völlig unter und kann sich nicht bewegen. So geht er völlig ungeschützt in den Kampf, lediglich bewaffnet mit fünf glatten Steinen und einer Steinschleuder – und einem ungeheuren Mut und Gottvertrauen. Wir wissen, wie es ausging. Goliath wird besiegt und das Volk gerettet. Krumme Wege führen zum Heil.
Aus Davids Geschlecht soll der neue Retter kommen. Das sagt Micha und verweist auf Bethlehem. Diese Verknüpfung vom kleinen Bethlehem und vom jungen David haben die neutestamentlichen Autoren bei der Geburtsgeschichte vor Augen. Sowohl Matthäus als auch Lukas legen deshalb viel Wert auf die Geburt Jesu in Bethlehem und auf einen Stammbaum, der Jesus als Nachkomme Davids ausweist. Denn der künftige Friedensherrscher kommt nicht aus Jerusalem, er kommt auch nicht aus Nazareth, dem wahrscheinlichen Geburtsort Jesu, sondern aus Bethlehem, der Geburtsstadt Davids.
Das Kleine, Geringe und Unbedeutende wird damit umgedeutet in sein Gegenteil: Es wird zum Ausgangspunkt für das Heil der Welt. Gottes Menschwerdung ereignet sich nicht in der Hauptstadt mit ihrem Glanz, mit Tempel und Palast, sondern auf dem Land, in einem Stall, im Kleinen und Unscheinbaren. Matthäus korrigiert Micha deshalb sogar, als er ihn zitiert: Bei Matthäus ist Bethlehem nicht mehr die kleinste unter den Städten, Matthäus sagt vielmehr, ich zitiere: „Und du Bethlehem im jüdischen Land, bist keineswegs die kleinste unter den Städten in Juda, denn aus dir wird kommen der Fürst, der mein Volks Israel weiden soll.“ (Mt 2,6) Für Matthäus ist es offenbar: Bethlehem ist nur vermeintlich klein und gering. Durch die Menschwerdung Gottes, durch das Kind in der Krippe, durch Weihnachten steigt das kleine, unbedeutende Bethlehem zu Weltruhm auf. Bethlehem wird damit zu einer Metapher für die Hoffnung, die sich mit der Geschichte Gottes mit seinen Menschen, mit allen, die sich klein und unbedeutend fühlen, verbindet.

(3) Der Stammbaum Jesu (Mattäus1)
Ganz ähnliche Umwertungen finden wir auch im Stammbaum Jesu. Bei Matthäus läuft der Stammbaum von Abraham über David bis hin zu Josef, der damit im Übrigen am Ende doch als Vater Jesu gilt. Das Erstaunliche an diesem Stammbaum ist nun aber nicht, dass Jesus als Nachfahre Davids ausgewiesen wird, sondern dass vier Frauen, mit Maria sind es fünf, dabei erwähnt werden, deren Biographien alles andere als geradlinig verlaufen sind. Es geht um Tamar, Rahab, Batseba und Rut. Bei allen Frauenfiguren war die Geburt des Kindes jeweils mit einem Skandal oder jedenfalls mit dem Anschein eines Makels verbunden. Bei allen führten äußerst krumme Wege zum Heil.
Zunächst zu Tamar: Tamar war die Schwiegertochter Judas. Doch die beiden Söhne Judas, die nacheinander mit Tamar verheiratet waren, starben beide. Juda wollte ihr daraufhin keinen weiteren Sohn als Ehemann geben. Um zu ihrem Recht als Frau zu kommen, verkleidete sich Tamar als Prostituierte und verführt so ihren Schwiegervater Juda, der sich völlig ahnungslos mit ihr einlässt. Tamar wird schwanger und soll mit dem Tode bestraft werden. Doch sie kann Juda durch das Pfand, das sie von ihm behalten hat, zeigen, dass er selbst der Täter und damit der Vater der Zwillinge ist. Juda akzeptiert daraufhin nicht nur seine Vaterschaft, sondern erkennt auch, dass er Tamar ungerecht behandelt hat. Die Umwertung in dieser Erzählung liegt auf der Hand: Eine komplizierte und prekäre Beziehungsgeschichte, in der Tamar lange die Verliererin zu sein schien, führt schließlich zu ihrem Triumpf und zu Söhnen, die sich in den Stammbaum Jesu einschreiben.
Als nächstes wenden wir uns „der Frau des Uria“ zu – eine kaum verhohlene Anspielung auf Davids Ehebruch mit der schönen Batseba. David lässt Uria, den Mann der Batseba, töten, als sein Ehebruch nicht länger verheimlicht werden kann. Der Sohn, der aus der Beziehung von David und Batseba hervorgeht, wird zur Strafe sterben. Aber David und Batseba bekommen noch ein Kind – Salomo. Als Mutter Salomos setzt sich Batseba schließlich beherzt und geschickt dafür ein, dass Salomo König wird, obwohl Salomo die Thronnachfolge nach den Regeln der Erbfolge eigentlich nicht zugestanden hätte. Batseba bewirkt die Durchbrechung der Regeln. Nur damit wird die für den Stammbaum bei Matthäus entscheidende Linie Davids weitergeführt.
Wir kommen zur dritten Frau. Auch Rahab hat alles andere denn eine moralisch einwandfreie Biographie vorzuweisen. Sie verdient ihren Unterhalt als Hure in Jericho, so heißt es lapidar in der Schrift (Jos 2). Als hebräische und damit feindliche Kundschafter zu ihr kommen, gewährt sie ihnen Gastfreundschaft. Doch dann sickert durch, dass die Kundschafter in Rahabs Haus sind. Ihnen wird nach dem Leben getrachtet. Rahab rettet sie mit einer Lüge in höchster Not. Zugleich verrät sie damit die Leute ihrer Stadt. Als Belohnung lässt man sie und ihre Familie bei der Zerstörung Jerichos am Leben. Rahab wird auf diese Weise als Fremde „Teil der Geschichte Israels und der Familiengeschichte Judas, Davids und Jesu.“ (Ebach, 53) Rahab wird zur Mutter von Boas, der wiederum Rut heiraten wird, die Urgroßmutter Davids – und damit sind wir bei der letzten bedeutenden Frau in Jesu Stammbaum angekommen:
Mit Rut haben wir zum ersten mal eine Frau vor uns, die keinerlei Makel zu kennzeichnen scheint: Keine sexuellen Eskapaden, wie sie die drei Vorgängerinnen auf je unterschiedliche Weise kennzeichnen. Doch Rut ist Moabiterin und das ist nun tatsächlich ein nicht geringes Problem. In Deuteronomium 23,4 und Nehemia 13,1-3 werden Moabiter verdammt als Menschen, die in alle Ewigkeit nicht zum Volk Gottes dazugehören können. Ruts Geschichte, die durch und durch positiv gezeichnet wird, unterläuft damit eine zentrale Norm.
Als Noomi, ihre Schwiegermutter, sie anfänglich zurück in ihr Land schicken möchte, weil sie weiß, dass Rut als Ausländerin keine Chance in ihrer Heimat haben wird, antwortet Rut: „Rede mir nicht ein, daß ich dich verlassen und von dir umkehren sollte. Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe ich auch... Der Herr tue mir dies und das, nur der Tod wird mich und dich scheinden.“ (Rut 1,16f) Rut bekennt sich damit klar zu dem Gott Noomis, sie zeigt ihren Mut zum Risiko und sorgt schließlich zusammen mit Noomi dafür, dass ihr Weg nach Betlehem nicht in einer Sackgasse endet, sondern dass Boas sie zur Frau nimmt und sich am Ende alles glücklich fügt. Das ist nicht nur für Rut persönlich ein haapy end, es ist auch im Hinblick auf die Welt ein happy end: Rut wird als Moabiterin zur Urgroßmutter Davids und damit zur direkten Vorfahrin Jesu. Ohne Rut keinen David, ohne David keinen Jesus.

Es ist sehr bemerkenswert, dass uns Matthäus einen solchen Stammbaum Jesu zu Beginn des Neuen Testaments präsentiert. Er verbindet damit das Alte und das Neue Testament. Er zeigt uns vor allem, wie krumme Wege zum Heil führen, wie Gott das kleine und unbedeutende, das unangepasste und fremde benutzt, um den Menschen seine Nähe zu zeigen und sie in seine Zukunft zu führen.

4) Maria und Josef
Den Leserinnen und Lesern des Stammbaums führt Matthäus durch die Frauen und die mit ihnen lebendig werdenden Geschichten vor Augen, dass es in dieser Familie nicht erst jetzt, bei der Geburt Jesu durch Maria, ungewöhnlich zugeht. „Gerade die Geschichten von Tamar und Rahab, Rut und der Mutter Salomos schreiben ins Stammbuch dieser Familie, dass ein vorschnelles Urteil rasch ein falsches wird.“ (Ebach, 68) Das gilt auch für die Schwangerschaft Marias bzw. die Zeugung Jesu. Für Josef ist es nicht leicht, als er merkt, dass Maria schwanger ist, obwohl er selbst nach der Logik des Matthäusevangeliums nicht der Vater sein kann. Josef muss von Ehebruch ausgehen und überlegt deshalb, Maria zu verlassen. Wie sein Namensbruder im Alten Testament wird Josef dann aber in einem Traum belehrt. Das hilft ihm, sich zu Maria zu bekennen und Jesus als seinen Sohn zu betrachten.

Krumme Wege führen zum Heil. Das ist die Botschaft von Weihnachten. Jesus wird in ärmlichsten Umständen geboren. Ihm wird bald nach dem Leben getrachtet. Sein Leben ist alles andere als einfach. Und doch ist die Geschichte Jesu eine Geschichte voller Hoffnung und Heil. In Jesus zeigt uns Gott, dass er mit uns ist, dass er uns nicht verlässt. Dass er uns treu bleibt trotz allem Zynismus. Dass er das Licht der Engel verbreitet trotz aller Dunkelheit. Gott wird Mensch, damit wir menschlich werden. Lesen wir uns hinein in diese Geschichten, in die Geschichte von Micha und seiner Friedensverheißung, in die Geschichte von Bethlehem und David, in die Geschichten von Tamar und Batseba, von Rahab und Rut, von Maria und Josef. Nicht nur mit ihnen, auch mit uns geht Gott oft krumme und verschlungene Wege, Wege aber, die am Ende in seinen Schalom münden. Das ist die Verheißung des Micha. Am Ende werden die Hoffnung und die Liebe das letzte Wort haben. Das feiern und besingen wir an Weihnachten. Amen.

 

 

Literatur: Jürgen Ebach, Josef und Josef. Literarische und hermeneutische Reflexionen zu Verbindungen zwischen Genesis 37-50 und Matthäus 1-2, Stuttgart 2009

Perikope
25.12.2016
5,1-4