Unterm Feigenbaum - Predigt zu Mi 4,1-5(7b) von Susanne Ehrhardt-Rein

Unterm Feigenbaum - Predigt zu Mi 4,1-5(7b) von Susanne Ehrhardt-Rein
4,1-5(7b)

Vor einigen Jahren habe ich einen kleinen Feigenbaum in einen Blumentopf gepflanzt. Inzwischen wächst er in einem größeren Blumenkübel. Er wird gehegt und gepflegt, im Frühjahr vorsichtig beschnitten und gedüngt. In diesem Jahr trug er zum ersten Mal einige Feigen. Nicht alle wurden reif, aber einige doch: süß und saftig, ein Vorgeschmack auf kommende Früchte. Ich muss Geduld haben. Das Bäumchen braucht noch Zeit. Es wächst langsam, wie ein Kind, aber es wächst. Ich träume davon, eines Tages in seinem Schatten zu sitzen, an der geschützten Südwand eines Hauses vielleicht. Dann wird der Baum groß sein und jedes Jahr Früchte tragen. Ich werde ihn schützen vor Frost und Trockenheit. Wenn ich unter seinen Zweigen sitze, werde ich alt sein, richtig alt. Ich sitze dort und lese eine Nachricht auf meinem Tablet. Meine Enkelin hat sie geschrieben. Sie ist 19 Jahre alt. Gerade erst hat sie die Schule abgeschlossen. Wir stehen uns sehr nahe und als sie kleiner war, haben wir oft Zeit zusammen verbracht. Jetzt ist Elisabeth erwachsen, eine junge Frau. Neugierig auf das Leben und nachdenklich. Vor vier Wochen ist sie nach Israel aufgebrochen, um in Jerusalem ein Soziales Jahr zu absolvieren. Es ist Ende Oktober 2050.

Jerusalem, 27.10.2050

Liebe Oma,
endlich habe ich Zeit, Dir ausführlicher zu schreiben. Du weißt ja schon, dass ich gut hier angekommen bin. In den ersten vier Wochen hatten wir einige Seminare und Einführungen, um die Stadt und das Land besser kennenzulernen. Unsere Gruppe ist international gemischt, das ist wirklich toll. Meistens sprechen wir Englisch, aber ich habe jetzt auch einen Kurs für Ivrit angefangen und kann auch ein bisschen französisch sprechen. War die Schule doch nicht umsonst… Hier kommt gleich noch ein Foto – neben mir siehst Du Saba. Wir haben uns gleich angefreundet. Sie kommt aus Gaza. Nächstes Jahr will sie ein Medizinstudium beginnen und plant ein Praktikum in Deutschland. Ich habe sie schon eingeladen, mich zu besuchen. Ab nächsten Montag werde ich in einem israelisch-palästinensischen Kindergarten arbeiten, das wird sprachlich bestimmt nicht ganz leicht. Aber es wird mir auch helfen beim Lernen. Hauptsache, die Kinder mögen mich.
Es ist alles so neu und aufregend für mich: Die alte Stadt mit ihren Gassen und Mauern aus hellen Steinen. Die vielen Menschen, die sich in den Straßen drängen. Es gibt ja noch die Viertel, die von bestimmten Traditionen und Gruppen geprägt sind: das orthodoxe jüdische Viertel, die Häuser der armenischen Christen, die moderne Stadt im Westen und das große muslimische Viertel im Osten. Ich bin schon viel durch die Stadt gelaufen, überall ist so viel los. Man merkt das auch an der Straßenbahn. Alle fahren damit, das ist bequem und schnell. Du hast mir erzählt, dass es schon vor vierzig Jahren so war, manches bleibt eben auch gleich, wenn es gut funktioniert. Was heute aber bestimmt anders ist: Niemand hat Angst, dass irgendwo eine Bombe explodieren könnte. Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass in diesem Land vor 25 Jahren noch Krieg war.

Morgen Abend bin ich zum Schabbat bei Michals Familie eingeladen. Auf dem zweiten Foto siehst du sie, es ist die mit dem bunten Tuch. Michal ist auch in unserer Freiwilligen-Gruppe und auch mit Saba befreundet. Sie haben zusammen ein Foto-Projekt gestartet und haben das in unserer Gruppe schon vorgestellt: Israel – Palästina – Gesichter des Friedens. Vielleicht kann ich dabei auch mitmachen. Ich bin jedenfalls ständig am Fotografieren.
Ich will unbedingt von Dir hören, was Du hier vor so langer Zeit erlebt hast. Dann kann ich vielleicht besser verstehen, warum viele dieses Land heute so ungewöhnlich finden. Lass uns bald auch wieder per Videocall sprechen. Ich freue mich schon! Deine Elisabeth

Ja, ich habe auch große Lust, mit Elisabeth per Videocall zu sprechen. Aber erst einmal schreibe ich ihr eine Nachricht zurück. Dann kann sie vielleicht schon besser verstehen, warum ich ihre Reise so wunderbar finde.

Meine liebe Elisabeth,
Deine Nachricht bewegt mich sehr! Du hast so lange darauf gewartet, endlich in die Welt zu ziehen. Und nun bist Du in dieser alten, schönen Stadt. So viel Geschichte, und so viele Geschichten! Ich erinnere mich an die goldenen Kuppeln und die hellen Steine. Und natürlich an die Straßenbahn, von der ich Dir schon erzählt habe. Bei meinem ersten Besuch in Jerusalem gab es sie erst seit kurzer Zeit. Sie hat schon damals vom Damaskustor vor der Altstadt bis in den Westen der Stadt die Viertel miteinander verbunden. Aber sie war auch immer ein Ort der Angst und des Schreckens. Kurz nach unserem Besuch 2012 explodierte eine Bombe an einer Haltestelle, es gab viele Verletzte und Tote. Und so ging es weiter, es gab keinen Frieden für Jerusalem, für Israel und Gaza. Am schlimmsten wurde es Mitte der zwanziger Jahre, mit dem Terroranschlag der Hamas im Süden und dem Gaza-Krieg. Es war eine Katastrophe, es gab keine Hoffnung auf einen Frieden, der wirklich hält und für alle gerecht ist.

Aber jetzt scheint es wirklich endlich besser zu werden: Jerusalem unter internationaler Aufsicht, eine Stadt, in der Platz ist für alle, die dort leben: jüdische und muslimische Familien, Menschen aller Traditionen, mit und ohne Religion, verschiedene christliche Gemeinden, modernes Leben. Es sind keine bewaffneten Soldaten mehr unterwegs, das ist gar nicht nötig. Und Du bist mittendrin – das ist wirklich wunderbar! Und Du hast ja gleich Freundinnen gefunden – das passt wirklich zu Dir! Warst Du schon in der alten Himmelfahrtskapelle auf dem Ölberg? Die Tauben fliegen durch die offenen Fenster, wie auf der biblischen Arche. Hoffentlich hält dieser Frieden!
Ich umarme Dich ganz fest, Deine Oma

So träume ich. Mitten in kriegerischen Zeiten träume ich vom Frieden. So wie Micha, der Prophet, von Gottes Frieden träumt. Der Frieden ist noch zu klein. Damals und heute. Noch sitze ich nicht unterm Feigenbaum, auch er ist noch zu klein. Noch ist meine Enkelin nicht geboren. Noch gibt es keinen Frieden – nicht in der heiligen Stadt, nicht in Israel und Palästina, nicht im Libanon, nicht in der Ukraine. Aber den Traum vom Frieden hat Gott uns ins Herz gepflanzt. Wie einen Feigenbaum, der noch klein ist. Aber er wächst und wächst. Der Prophet Micha sieht den Feigenbaum, und er sieht die Menschen, die darunter sitzen. Auf dem Zion, dem Berg Jerusalems, wächst er. Der Traum vom Frieden ist alt, wie der Berg, wie die Stadt. Diesen Traum gebe ich nicht auf: dass dieser Frieden kommt, dass Elisabeth und alle, die noch geboren werden, diesen Frieden erleben. Der Tag wird kommen, an dem es diesen Frieden gibt: Kein Raketenangriff auf Haifa. Kein Bombenalarm in Odessa. Keine Hassparolen in Berlin. In Moskau haben freie Wahlen stattgefunden und in China gibt es keine Gefangenenlager mehr. Auf einer Klimakonferenz haben alle Staaten beschlossen, das fossile Zeitalter endgültig zu beenden. Die armen Länder werden entschuldet und die Bewohner der untergegangenen Fidschi-Inseln sind in Australien gastfreundlich aufgenommen worden.

Und so weiter. Träume sind nicht die Wirklichkeit. Aber ohne den prophetischen Traum vom Frieden Gottes für die Welt wäre es zum Verzweifeln. Dieser Traum zeigt, was jetzt fehlt. Er zeigt die offenen Wunden unserer Gegenwart. Er zeigt, was uns heute so schmerzt: Die Bombenkrater und die überfluteten Städte. Die Tunnel voller Waffen und die verletzten Kinder. Die Gleichgültigkeit der reichen Länder und unsere eigene Verzagtheit.

Gott hat uns seinen Traum vom Frieden ins Herz gepflanzt. Wie ein kleiner Feigenbaum ist er dort eingewurzelt und wächst. Langsam, aber stetig. Er braucht Pflege und Schutz. Irgendwann ist er zu groß für ein einzelnes Herz. Er muss ins Freie gepflanzt werden, die Tauben sitzen auf seinen Zweigen und er wird Früchte bringen. Wir werden in seinem Schatten sitzen und uns an Gottes Versprechen erinnern. Seine Früchte werden reif zu ihrer Zeit. Darauf hoffe ich mit dem Propheten Micha. Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Susanne Ehrhardt-Rein

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die Predigt werde ich im Gottesdienst eines Kurswochenendes des Kirchlichen Fernunterrichts halten. Etwa 25 hochengagierte Menschen treffen sich an diesem Wochenende zum letzten Mal im Kurs. Wir haben in den letzten zwei Jahren viele Themen miteinander bearbeitet und intensiv die Spannung zwischen Glaubenserfahrung und historisch-wissenschaftlich orientierter Theologie erlebt. Ich möchte mit meiner Predigt Michas prophetische Friedenshoffnung in die Gegenwart sprechen lassen – auch als Hoffnung, die uns verbindet und trägt.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die intensiven Bilder des Textes, meine persönliche – widersprüchliche – Erfahrung mit der Losung „Schwerter zu Pflugscharen“ und der Wunsch, der kriegerischen Gegenwart eine Hoffnung entgegenzusetzen – das alles hat mich erst einmal unter Druck gesetzt. Die exegetische Arbeit hat dann zur Nüchternheit beigetragen und daraus entstand Lust am Träumen und Schreiben.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Der endzeitliche Frieden Gottes ist mehr als ein Traum für die Welt – aber eschatologisches Träumen hilft gegen Verzagtheit und Mutlosigkeit. Wie wird es sein, in diesem Frieden zu leben? Und wo wirkt die Hoffnung auf diesen Frieden in der Welt, schon jetzt oder eben in einigen Jahren? Das will ich mir vorstellen und ausmalen.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Wichtige Sätze und Gedanken mehrmals formulieren und durch Wiederholungen die Predigtteile verknüpfen, in der Beschreibung von Bildern konsequent bleiben und keine „Fachbegriffe“ verwenden – das waren sehr hilfreiche Hinweise für die Bearbeitung.

Perikope
10.11.2024
4,1-5(7b)

Am Straßenrand der Welt - Predigt zu Mi 5,1-4 von Christiane Quincke

Am Straßenrand der Welt - Predigt zu Mi 5,1-4 von Christiane Quincke
5,1-4

Ausgerechnet dort
Ein kleiner Punkt auf der Landkarte. Irgendwo in einer römischen Provinz. Bethlehem - Haus des Brotes heißt es. Ein Dorf. Mehr nicht. Das Klima scheint rau zu sein. Kein Platz für Fremde, noch nicht mal für Hochschwangere. Außer in einer Absteige, die gerade mal gut genug für das Vieh ist.
Robuste Gesellen auf den Feldern, die niemand im Blick hat. Dort am Straßenrand der Welt. Was kann schon Gutes aus Bethlehem kommen?

Bibeltext
Viel. Sagst du, Gott. Und dein Prophet Micha schreibt ein paar Jahrhunderte zuvor:

Und du, Bethlehem Efrata, die du klein bist unter den Tausenden in Juda, aus dir soll mir der kommen, der in Israel Herr sei, dessen Ausgang von Anfang und von Ewigkeit her gewesen ist. Indes lässt er sie plagen bis auf die Zeit, dass die, welche gebären soll, geboren hat. Da wird dann der Rest seiner Brüder wiederkommen zu den Israeliten. Er aber wird auftreten und sie weiden in der Kraft des Herrn und in der Hoheit des Namens des Herrn, seines Gottes. Und sie werden sicher wohnen; denn er wird zur selben Zeit herrlich werden bis an die Enden der Erde. Und er wird der Friede sein.

Der kleine David aus Bethlehem
Ein kleiner Punkt auf der Landkarte. Irgendwo in der Provinz. Unwichtig. Unbedeutend. Alltäglich. Dorthin wurde einst der alte Prophet Samuel geschickt, um einen neuen König zu salben. Dorthin? Fragte er. Ja, dorthin, sagte Gott. Stattliche Männer werden ihm, dem alten Propheten Samuel, vorgeführt. Aber sie waren es nicht. Ein Mensch sieht, was vor Augen ist, Gott aber sieht das Herz an. Und so wird ein Jugendlicher mit roten Haaren vom Feld weg geholt. David heißt er. Ein Träumer, spielt Harfe, schreibt Gedichte. Alles andere als ein starker Held. Viel zu zart für eine schwere Rüstung. Aber er ist es. Er wird von dem alten Samuel gesalbt. Auf ihm ruht alle Hoffnung. Ein großer König soll er werden. Obwohl ihn niemand auf dem Schirm hat.
Und er wurde ein großer König – nebenan im großen Jerusalem. Weg vom Straßenrand der Welt. Aber die Hoffnung auf Frieden konnte auch er nicht erfüllen. Seine Sehnsucht nach Macht, nach Großsein war vielleicht zu verführerisch. Und so blieb die letztlich die Hoffnung auf einen neuen David. Einer, bei dem wirklich alles gut wird. Auch der Straßenrand.

Stern über Bethlehem
Viele hundert Jahre später machen sich drei Sterndeuter auf den Weg. Sie haben ihn entdeckt: Einen kleinen Punkt am Nachthimmel. Sie wissen, dass da oben eine besondere Konstellation aus Sternen zu sehen ist. Eine, die sie in die große Stadt Jerusalem zum großen Palast des Herodes führt, weil sie etwas Großes, Königliches erwarten. Sie suchen das Große im Großen. Aber dort finden sie es nicht. Nur eine zweifelhafte Macht, die sich an den letzten Strohhalm klammert und keinen Trick auslässt. Der kleine helle Punkt am Nachthimmel führt sie aber weiter zum kleinen Dorf Bethlehem, das sie nicht auf dem Schirm hatten. Dorthin? Fragen sie. Ja, dorthin, sagt der Stern. Dort, wo es klein und rau und robust zugeht. Von wo nichts Gutes, nichts Großes zu erwarten ist. Am Straßenrand der Welt.

Im Stall in Bethlehem
Und dort ist dieses Kind, auf dem alle Hoffnung ruht. Auch nicht viel größer als ein Punkt, jedenfalls vom Palast aus gesehen. Geboren in einem Nichts. Und die drei Fremden stehen vor einer Scheune. Vielleicht hören sie ein leises Weinen oder wie sich Josef schnäuzt. Vielleicht riechen sie das Heu und den Tierdung und den Schweiß von Maria. Vielleicht sehen sie, wie von weiter hinten dunkle Gestalten vom Feld kommen, mit müden Schritten – auf der Suche nach was Großem, wie sie. Und bestimmt sehen sie das Kind. Gottes Kind, das das erste Mal atmet und schreit und dessen Augen zum ersten Mal zwischen Hell und Dunkel unterscheiden.

Der eine Moment
Ein kleiner Punkt im Leben, ein kleiner Moment, eigentlich ein Nichts, und doch so voller Leben und darum so wunderbar groß. Du kennst das, oder?
Ein Moment, den man am liebsten festhalten möchte. Weil er so ganz anders ist als der Rest der Zeit. Und weil er kurz vergessen lässt, was da draußen los ist. In so einem Moment fängt die Hoffnung an. Vergangenheit und Zukunft verschwimmen. Ein Hirtenjunge wird gesalbt. Ein Stern weist den Weg. Schmerzen in der Nacht kündigen das Wunder des Morgens an. Und das Wunder liegt in deinen Armen. Wenn du nicht nur den einen Stern siehst, sondern das ganze Weltall, das dich umarmt. Weil hier im kleinen Punkt das Größte durchscheint.

Was das große Kind erzählt
Und dann ist dieser eine Punkt im Leben irgendwann vorbei. Der Stern zieht weiter. Die Sterndeuter kehren in ihre Heimat zurück, die Hirten zu den Schafen, Maria und Josef mit dem Kind nach Nazareth. Viele, viele Punkte im Leben später, da erzählt das große Kind aus der Krippe von all dem Kleinen am Straßenrand. Schau hin. Sagt es. Schau auf das kleinste Senfkorn, in dem das Reich Gottes steckt. Ein Punkt in der Hand. In ihm steckt was Großes, was Überwältigendes. Gib ihm Erde. Gib ihm Wasser. Lass ihn wachsen. Und so ist es mit dir. Noch in deinem kleinsten Glauben verbirgt sich die Kraft zu größter Veränderung. Schau hin, sagt das Kind: Die Münze der armen Witwe zählt mehr als Gold, die Kinder sind geschickt für das Himmelreich und das kleine Stück Brot schmeckt nach der Liebe Gottes. Und ja, sage ich: In einem kleinen Kind in der Krippe am Straßenrand verbirgt sich der Gott aller Welt. Und dort beginnt der Frieden.

Friede beginnt mit einem kleinen Punkt
Dort am Straßenrand. Dort im Schmerz. Dort beginnt der Frieden, der höher ist als alle Vernunft. Dort, wo du nicht damit rechnest. In einem kleinen Punkt auf der Landkarte oder in deinem Leben. Der Frieden macht die groß, die klein gemacht werden. Er kommt zu denen, die ihn nicht kennen. Die um ihre Liebsten weinen und vor Trauer nicht wissen, was sie noch glauben können. Denen die Tür vor der Nase zugeschlagen wird, weil man ihnen nicht traut. Die nur einen Platz in der Krippe finden. Oder im Obdachlosenheim. Oder auf der Intensivstation. Zu ihnen kommt er. Die, die denken, sie seien es nicht wert: Ihnen legt Gott einen Säugling vor die Füße. Ein Punkt in ihrem Leben. Nichts Großes. Nur ein Schrei. Zwei Hände. Zwei Füße. Eine Nase. Zwei Augen. Ein Mund. Ein Kind.

Augen auf für das Kleine in deinem Leben
Ein Punkt im Leben. In deinem Leben.
So ein Punkt in meinem Leben war ein Busfahrer hier in Pforzheim. Mein erstes Weihnachten hier. Meine erste Christvesper in der Stadtkirche. Und ich hatte meinen 10jährigen Sohn dabei. Ich weiß nicht mehr warum, aber wir hatten kein Auto dabei. Also Busfahren. Warum auch nicht. Als wir die Kirche verließen, schauten wir auf die Uhr. Oh, wir müssen uns beeilen. Der letzte Bus fährt gleich. Also rennen wir. Kommen an der Bushaltestelle an. Außer Atem. Der Bus kommt. Ich krame nach meinem Geldbeutel. Mist. Ich hatte ihn nicht dabei.
Der Busfahrer schaut mich und meinen Sohn an. Er wusste: Es ist die letzte Fahrt für heute. Und wir die einzigen Fahrgäste. Steigen Sie ein, grummelt er. Ich nehme Sie mit. Erleichtert setzen wir uns auf die Plätze. In meiner Manteltasche fühle ich einen Schokoweihnachtsmann. Paar Stationen später müssen wir aussteigen. Ich gehe nach vorne zum Busfahrer, gebe ihm einen Weihnachtsmann und sage: Frohe Weihnachten! Frohe Weihnachten, strahlt er zurück.

Ein Punkt im Leben. Ein Punkt, wo das Große aufblitzt. Das weite Herz. Der Mut zur Ausnahme.
Vielleicht auch heute. Wo du hier in der Kirche bist. Oder zu Hause auf dem Sofa. Oder am Tisch im Wohnheim. Und du zündest eine Kerze an oder viele. Lauter Punkte. Helle Punkte. Und sie leuchten für dieses Kind in der Krippe. Dieses Kind, das dir die Augen öffnet für das Kleine am Straßenrand der Welt.

Friede kommt aus dem Kleinen
Als die Sterndeuter zurückgehen, machen sie einen großen Bogen um das große Jerusalem.
Einen Bogen um den großen Königspalast und die großen Herren. Weil von dort nicht der Friede kommt. Sondern vom Kleinen. Vom Straßenrand. Von einem Stall, wo es nach Tierdung riecht. Wo Gott das erste Mal atmet und schreit, wo das Kind in der Krippe dich ansieht. Wo Hirten ihre weiche Seite entdecken. Von dort kommt der Friede. Und von einem Busfahrer, der dich mitnimmt auf deinem Weg durch diese Welt. Von dort? Ja, von dort.

Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Christiane Quincke

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die Sehnsucht nach einem besonders festlich-feierlich-glanzvollen Weihnachten weicht schnell der Ernüchterung, dass das eigene Leben alles andere als „festlich“ ist. In diesem Jahr vielleicht besonders. Und wer weiß, wie viele Menschen dieses Jahr Weihnachten tatsächlich in einem feierlichem Gottesdienst in einer festlich geschmückten Kirche verbringen werden? Bestimmt weniger als je zuvor...

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die Traditionsgeschichte von Bethlehem mit ihren verschiedenen „Stories“, die aus der Kombination „Was kann schon Gutes aus Bethlehem kommen“ entstehen. Die Gedanken von Tobias Kriener in „Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext Reihe IV“ haben mich sehr beflügelt, den Gedanken des „Straßenrandes“ auszubauen.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Das Schlichte und Schnörkellose, ja geradezu Unfeierliche von Weihnachten hat einen ganz eigenen Wert und steht quer zu unseren Erwartungen. Das ist kein „Stall-Kitsch“, sondern harte Realität. Und ich finde es wichtig, dass Menschen, die den „Kitsch-Erwartungen“ nicht genügen (und das sind die meisten), genau von ihnen befreit werden, um die Botschaft zu hören: Der Friede Gottes kommt genau zu dir!

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Bitte meiner Coach Stephanie Höhner, einigen Kitsch herauszunehmen, den ich noch drinnen hatte, ihre beharrlichen Rückfragen gegenüber manchen „Behauptungen“ und vor allem ihr Verdacht, dass die Busfahrer-Geschichte konstruiert sei: In einer ersten Version hatte ich sie nur angedeutet. Ihr Zweifel brachte mich dazu, diese Geschichte wirklich zu erzählen... Kurz: Es ist einfach sehr sehr hilfreich, eine Predigt durch andere Augen „sehen“ zu lassen, bevor sie an die Öffentlichkeit geht.

 

Perikope
24.12.2021
5,1-4

In der Tiefe das Hohe, im Kleinen das Große - Predigt zu Micha 5 ,1-­14a von Prof. Peter Lampe

In der Tiefe das Hohe, im Kleinen das Große - Predigt zu Micha 5 ,1-­14a von Prof. Peter Lampe
5,1-14a

Liebe Weihnachtsgemeinde,

Gnade sei mit Euch und Friede in dieser Heiligen Nacht von dem, der da ist, der da war und der da kommen wird. Amen.

Heiliger Abend 2017. Es begab sich aber zu der Zeit, als der Kaiser Augustus sich aus dem Pariser Klimaabkommen verabschiedete, aus der Unesco, aus der UN-Flüchtlingsvereinbarung. Es begab sich zu der Zeit, als nachprüfbare Wahrheit als Lüge beschimpft wurde und Fake-news-Vorwürfe vom eigenen Lügen ablenkten. Als Big Brother und Big Data sich vielerorts zusammentaten. Als Minderheiten ihre Ansichten herausposaunten, indem sie diese als Volksmeinung verkauften – in Ländern, in denen die Bevölkerung, Gott sei’s gedankt, noch vielerlei Ansichten hegte. Es begab sich zu einer Zeit, als im weihnachtlichen Weißen Haus sich eine Wandelhalle mit gespensterhaft nackten Reisern schmückte, weiß von falschem Schnee, vielleicht um anzudeuten, wie in zehn Jahren Nationalparks aussehen könnten. Wer dort hindurch ging, wünschte sich eine warme Jacke herbei, obschon das Haus fossil beheizt war. Es begab sich zu derselben Zeit im Advent, als dieses Weiße Haus seine höchste Gesundheitsbehörde (CDC) anwies, bestimmte Wörter wie „verletzlich“, „wissenschaftsbasiert“ und „Vielfalt“ in Budgetdokumenten nicht mehr zu verwenden. Es begab sich zu der Zeit, als ein Jahrhundert amerikanischer Vorherrschaft und fünf Jahrhunderte westlicher Dominanz auf der Erde dem Ende sich zuneigten. Als niemand mehr Deutschland regieren wollte und, wie der britische Economist kommentierte, sleeping beauty die bundesdeutschen Regierungsgeschäfte verwaltete. Es begab sich, als sieben Millionen Jemeniten vor einer menschengemachten Hungersnot bedroht wurden, die die Welt Jahrzehnte lang nicht gesehen hatte. Zu einer Zeit, als es in den Herzen zitterte angesichts beginnender Erosion demokratischer Kultur – auch in Europa. Als, ja, als Furcht die Herzen beschlich, zum ersten Mal echte Furcht um die Zukunft der Kinder- und Enkelgenerationen. Es begab sich zu der Zeit, als der Weihnachtsevangelist Lukas in den Raum rief: „Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird“ (Lk 2,10), und als der Prophet Micha weissagte: „Du Bethlehem Ephrata, die du klein bist unter den Tausenden ..., aus dir soll mir kommen der, der.... sie weiden wird in der Kraft ... seines Gottes. Und sie werden sicher wohnen ... und er wird der Friede sein“ (5,1-4). Allein, es begab sich zu einer Zeit, als der Glaube an Sicherheit, an Frieden schwer fiel.

Heilig Abend 2017. Da ist sie wieder, die zweitausendjährige Botschaft, dass der allmächtige Gott sich in einem ohnmächtigen Menschen zeigt, in einem Kind im Futtertrog des Ochsenstalls. Eine Botschaft für Esel, die die Dissonanz des Paradoxen nicht stört. Das Starke sei im Schwachen zugänglich. Gottes Heilschaffen im Elend eines Kreuzes, im Gestank eines Stalls zu finden. Und nur da zu finden. Was für ein Blödsinn, notierte bereits Paulus als Reaktion der Welt auf sein Evangelium (1 Kor 1,18ff). Gott sei verborgen in dem Schwachen? Und dort dann sichtbar, greifbar, be-greifbar? Das ist die Zumutung der Weihnachtsbotschaft. Die verstörende Zumutung, die trösten soll; die stärken soll – im weihnachtlichen Innehalten vor einer neuen Jahresrunde auf dem Karussell absurden Welttheaters.

Wie nähern wir uns der alten Botschaft? Fast auf den Tag in vier Monaten jährt sich zum 500. Mal die Heidelberger Disputation, die Martin Luther im Hörsaal der Freien Künste der Heidelberger Universität bestritt. Am 26. April 1518. Nur ein paar Schritte von hier. Er verteidigte vor stirnrunzelnden Theologieprofessoren, aber begeisterungsfähigen Studenten 28 Thesen, die seine Kreuzestheologie entfalteten. Ich zitiere ein paar Sätze Luthers, die er den skeptischen Theologen ins gerunzelte Gesicht schleuderte: Nur „der [verdient ein rechter Theologe genannt zu werden], der das, was von Gottes Wesen sichtbar und der Welt zugewandt ist, als in Leiden und Kreuz sichtbar gemacht begreift.“  Oder sagen wir es anders: Nur der, der den Himmel im Stalltrog zu finden vermag. Der Disputant Luther spitzte zu: Gott kann nur dort, „nur in den Leiden und im Kreuz gefunden“ werden. Er ist der „in Leiden verborgene Gott“ [deus absconditus in passionibus]. Im Unscheinbaren verborgen. Im kleinen Volk am Rande des Römerreichs, im kleinen Ephrata in Judäa, in einer Viehkrippe, in einem Kind.

Gott verborgen und zugleich sichtbar sub contrario – das heißt, im genauen Gegenteil von dem, was sonst mit Gott verbunden wird, im Gegenteil von Glorie, Kraft, Weisheit. Stattdessen schäbiger Stall, kindliche Ohnmacht und Narretei paradoxer Botschaft – die die Welt veränderte.  

Überlegen wir einen Augenblick, was dieses Zusammendenken von Gegensätzen anzustellen vermag. Was macht es mit einer Kultur, wenn sie lernt, im Schwachen, Unscheinbaren, im Stallkind Gott zu entdecken? Ethisch bedeutete dies – und kein anderer begriff dies besser als Matthäus – ethisch bedeutete dies, im Gesicht des Hilflosen, des Kranken  das menschliche Angesicht Gottes zu sehen, und das hieß: das geschundene Antlitz Jesu Christi (Matth 25). Es bedeutete, am Krankenbett Christus zu begegnen; selbst dem dementen Patienten Würde zuzusprechen, dem Obdachlosen, der Geflüchteten. Wer Menschen liebt, und seien sie hässlich, blickt Gott ins Gesicht. Wir spüren, wie sehr die weihnachtliche Denkart des sub contrario den schwachen Menschen aufwertete, ihm Würde zusprach. Paulus nahm denselben ethischen Impuls auf. In Philipper 2 zitierte er einen alten Christushymnus aus den ersten beiden Jahrzehnten des Christentums und führte ihn so ein: „Seid so gesinnt, wie es Christus Jesus war: Obgleich er göttlicher Gestalt war..., entäußerte er sich selbst und ... ward den Menschen gleich .... Er erniedrigte sich selbst“. Statusverzicht, Sich-Zurücknehmen, das Zurückstellen von Eigeninteressen – um anderer willen. Das ist es, was Gott vorlebt. Das ist Lieben in radikaler Form. Wer dies schafft, ohne sich selbst zu schaden, ohne das Liebe-dich-selbst zu vernachlässigen, der findet die Gestrandeten, der beherbergt die Heimatlosen, der verbindet die Gebrochenen. Er kann nicht mehr die Schwachen als „Loser“ verhöhnen, wie Mr. Trump dies tut. Frieden schafft das nicht. Frieden schafft, wenn eine wohlhabende Familie bei sich zu Hause einen begabten Jungen aus einem Dorf in Nepal aufnimmt, damit er in Europa das Abitur absolviert, um zurückzukehren in sein Land und in Kathmandu zu studieren. Wenn dieselbe Familie sich mit anderen Wohlhabenden in Zürich zusammentut, um in Entwicklungsländern auf den Dörfern Bibliotheken einzurichten und die Menschen ins Lesen und Nachdenken zu locken. Das schafft Frieden – über Ländergrenzen hinweg. Diese Familie geht selten zur Kirche, aber sie hat etwas vom tätigen Christensein verstanden. Vom Aufsuchen der Schwachen, vom Aufrichten der Kleinmächtigen.

Das weihnachtliche Denken des sub contrario bewirkt darüber hinaus ein Zweites. Nicht nur ändert der Blick auf das Schwache sich. Es ändert sich umgekehrt der Blick auf Gott. Herkömmliche Gottesbilder werden umgeworfen. Der allmächtige Gott thront nicht nur abseits in jenseitigen Himmeln, unnahbar, ein höchstes Sein. Nein, Gott ist auch „Vater“, der selbst die Haare auf Deinem Kopf zählt, wie Matthäus kühn behauptet (10,29-31). Gott wird „Vater“ an Weihnachten. Eine mutige Weihnachtsbotschaft: Der ferne Souverän als uns Naher. Gott uns nah im Kind der Krippe, einem Kind, das Immanuel heißt, übersetzt “Gott-mit-uns”.

Christinnen und Christen glauben an den, der selbst im menschlichen Dunkel uns noch als Immanuel von allen Seiten umgibt. Als Immanuel, den wir im Gebet bedrängen dürfen und der am Ende des Matthäusevangeliums verspricht: „Siehe, ich bin bei euch – alle Tage – bis an der Welt Ende.“ Fiele ich auch in den tiefsten Abgrund, „so bist du dennoch da“, bekennen die Psalmen (vgl. Psalm 139,5-12). Oft genug nicht als rettender Engel, der wundersam wendet, nein, oft genug selbst geschunden – aber da vielleicht näher als irgendwo sonst. Hier liegt ein, wenn nicht das Geheimnis christlichen Glaubens. Der Souverän thront nicht; er liegt in einem Stalltrog, er hängt an einem Kreuz, an der Seite anderer Menschen. Das ist Weihnachten. Gott – der Immanuel in geschundener Welt.

Und ein Drittes und Letztes ergibt sich aus dem Denken im Paradoxon. Luther verband in der Heidelberger Disputation seine Kreuzestheologie mit seiner Heilslehre (mit seiner sogenannten Rechtfertigungslehre). Will sagen, Gott nimmt einen Menschen nicht deshalb an, weil dieser schrecklich fromm ist, gute Taten und eine weiße Weste vorzuweisen hätte. Wer hat das schon? Gott nimmt einen Menschen einzig deshalb an, weil er ihn als sein Geschöpf vorbehaltlos liebt, ohne weiteres, obgleich dieser Mensch nichts vorzuweisen hat, mit leeren Händen vor ihm steht und mit Ballast auf dem Buckel. Noch einmal Luther-Originalton aus dem Heidelberger Hörsaal nebenan: „Die Liebe des Menschen   entsteht ... an dem, was sie als liebenswert vorfindet.“ „Die Liebe Gottes [dagegen] findet nicht vor, sondern schafft sich, was sie liebt“ [amor Dei non invenit, sed creat suum diligibile]. Sie „liebt, was ... schlecht, töricht und schwach ist, um es ... gut, weise und stark zu machen.“ Sie „verströmt sich so“ und schafft Gutes. Eben „weil sie geliebt werden, sind die Sünder schön, nicht weil sie schön sind, werden sie geliebt.“ Die Liebe Gottes wendet sich „dorthin, wo sie das Gute dem Schlechten und Bedürftigen austeilen kann.“ Für Luther bedeutete diese Erkenntnis ein ungeheueres Befreien von religiösem Druck. Gott schenkt in leere Hände hinein. Gott kommt liebevoll nah – unverdient. Mögen Sie, mögen wir ein wenig davon erspüren in dieser Heiligen Nacht. Mögen wir Heimat und Herberge finden im neuen Jahr. Siehe, ich bin bei Euch alle Tage – als Immanuel geschunden wie Ihr, Euch an der Seite; aber als souveräner Gott auch Herr des Welttheaters. Werft Euch mir in die Arme, “die ihr mühselig und beladen seid“ (Matth 11,28). Ihr werdet Frieden finden in Euch und von dort aus Frieden stiften. Beherzt. Mutig. Nicht resignierend. Zu Beistand wie zu Widerstand bereit, wo er nötig werden wird – an der Seite des Immanuel und inmitten der Gemeinschaft anderer Christinnen und Christen. Keiner von uns ist auf einsamem Posten, egal, was kommen mag. So lasst uns getrost sein und  froh dieses Weihnachtsfest begehen. Siehe, ich bin bei Euch alle Tage, spricht der Friedefürst. Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christo Jesu in dieser Heiligen Nacht. Amen.

 

 

Perikope
24.12.2017
5,1-14a

Er wird der Friede sein - Predigt zu Micha 5,1-4 von Martina Janßen

Er wird der Friede sein - Predigt zu Micha 5,1-4 von Martina Janßen
5,1-4

I.
„Hört’s, ihr Menschen groß und klein, Halleluja, Friede soll auf Erden sein“ (eg 47,4). Noch hallen die Worte nach, die wir eben gesungen haben, noch liegt die Melodie in der Luft, noch spüre ich diesen Weihnachtsfrieden. Doch was passiert, wenn der Gottesdienst vorbei ist? Wenn Weihnachten vorbei ist und wir wieder im Alltag landen? Wie steht es dann um den Frieden – in unserem Leben und in der Welt?
Hand auf’s Herz, wir wissen es doch alle: Im wirklichen Leben kommt Frieden nicht durch Engelschöre oder einen festlichen Weihnachtsgottesdienst. Friede kommt anders, viel komplizierter – wenn er überhaupt kommt. Ich habe noch die Bilder vom OSZE-Gipfel in Hamburg von Anfang Dezember vor Augen. Da ging es um die Möglichkeit des Friedens und seiner Sicherung in all den Krisenherden dieser Welt. Das war ein gewaltiges Ereignis, dagegen kommen ein paar Engelsstimmen auf einem Feld nicht an. 57 Mitgliedsländer, über 50 Außenminister, 13.00 Delegierte, 14.000 Polizisten, 160 Millionen Kosten, sieben Kilometer Gitterzaun. Viel Glamour und maximaler Schutz für die Strategen des Friedens. Eigentlich verrückt: Die Friedensbemühungen machen die offene Stadt zur Festung. Was für Bilder!
Hinter den glanzvollen Kulissen: Verhandeln und Reden. Klare Hierarchien und Rituale. Vor den Kulissen: Demonstrationen und Kontrollen. Schnappschüsse auch. Der US-amerikanische Außenminister Kerry beim Shoppen auf dem Weihnachtsmarkt – das Bild ging durch die Presse. Zugegeben, das alles ist eine andere Nummer als ein Engelschor auf einem Feld und ein Paar Hirten und Schafe. Und doch: Frieden hat es nicht gebracht, viel bewegt hat das alles nicht, nicht einmal kleine Schritte auf den Frieden hin sind gelungen. Der OSZE-Gipfel wurde ohne eine gemeinsame Abschlusserklärung beendet. Kein Konsens oder Kompromiss in all den Konflikten, Krisen und Kriegen. Also nur: Schön, dass wir darüber geredet haben. Also viel Lärm um nichts?
Sicher, es ist gut, dass überhaupt geredet wird, sonst wäre ja vielleicht alles noch viel schlimmer. Doch was bleibt? Ehrlich gesagt: Nicht viel. Ein Großevent, das schnell verpufft. Was bleibt? Schmuddelwetter in Hamburg und stürmische Zeiten auf der Weltbühne. Was also bleibt? Vielleicht das Gefühl: es geht genauso weiter wie vorher, ein Schnappschuss von Kerry auf dem Hamburger Weihnachtsmarkt und die Frage: Wann wird Friede sein?

II.
Und du Bethlehem Efrata, die du klein bist unter den Städten in Juda, aus dir soll mir der kommen, der in Israel HERR sei, dessen Ausgang von Anfang und von Ewigkeit her gewesen ist. Indes lässt er sie plagen bis auf die Zeit, dass die, welche gebären soll, geboren hat. Da wird dann der Rest seiner Brüder wiederkommen zu den Söhnen Israel. Er wird aber auftreten und weiden in der Kraft des HERRN und in der Macht des Namens des HERRN, seines Gottes. Und sie werden sicher wohnen; denn er wird zur selben Zeit herrlich werden, soweit die Welt ist. Und er wird der Friede sein.(Micha 5,1-4a)

Bethlehem ist nicht Hamburg. Verglichen mit der Weltmetropole an der Elbe ist Bethlehem ein kleines Dorf. Der, der unser Friede ist, wurde in einer stillen Nacht in einem kleinen Dorf geboren. Ohne Glamour und ohne Kosten und ohne Schutz. Nicht als mächtiger Mann wurde er geboren, sondern als kleines Kind. So wie es eben überall und zu allen Zeiten passiert. Das ist keine Schlagzeile in der Weltpresse wert. Und doch: Der kleine Junge aus Bethlehem – und niemand sonst – ist der Friede. Unglaublich eigentlich, wie kann das sein? Ist das nicht nur eine schöne Geschichte? Nun ja, zumindest eine, die unvergessen ist und bleibt. An den OSZE-Gipfel in Hamburg 2016 wird sich in zweitausend Jahren wohl niemand mehr erinnern und wenn man den neusten Prognosen der Klimaforschung Glauben schenkt, könnte dann selbst Hamburg in der Versenkung verschwunden sein.
Anders die Geschichte vom Kind in Bethlehem. Seit über zweitausend Jahren wird sie erzählt und immer, wenn sie erzählt wird, bewegt sie die Herzen und lässt die Welt ein bisschen stiller stehen als sonst. Mich rührt die Erinnerung eines Taxifahrers aus New York an: „Unser Taxi schaffte in jener Vorweihnachtszeit in fünfzehn Minuten etwa zwei Häuserblocks. `Dieser Verkehr ist eine Katastrophe´, schimpfte mein Begleiter. `Er nimmt mir das ganze bisschen Weihnachtsstimmung, das ich habe.´ Mein anderer Begleiter war philosophischer. `Es ist unglaublich´, sinnierte er, `ganz und gar unglaublich. Denkt doch bloß – ein Kind, das vor über zweitausend Jahren mehr als achttausend Kilometer von hier geboren wurde, verursacht ein Verkehrschaos auf der Fifth Avenue in New York!´ Tja, das ist tatsächlich unglaublich!“[1].

III.
„Ich frage mich, was geschehen würde, wenn die Armeen plötzlich die Waffen niederlegen und sagen würden, man müsse eine andere Art und Weise finden, um Konflikte beizulegen.“ So hat es Winston Churchill, First Lord of the Admiralty, im November 1914 formuliert. Ein Gedankenspiel, das tatsächlich Wirklichkeit wurde. Eigentlich unglaublich, ganz und gar unglaublich, aber wahr. Der Weihnachtsfriede von 1914 ist legendär geworden. Von ihm erzählen Lieder, Gedichte, Filme und Romane. Verfeindete Armeen unterbrechen den Krieg und feiern gemeinsam Weihnachten an der Front. „Ich denke, dass meine Kompanie und ich das merkwürdigste Weihnachtsfest erlebt haben, das überhaupt jemals möglich ist.“[2] So beginnt der Bericht des britischen Hauptmanns C. I. Stockwell über den Weihnachtsfrieden 1914. Und der Soldat Josef Wenzel schreibt an seine Eltern. „Ein Engländer spielte mit der Mundharmonika eines deutschen Kameraden, andere tanzten […]. Die Engländer stimmten ein Lied an, wir sangen hierauf ‚Stille Nacht, heilige Nacht’. Es war dies etwas Ergreifendes: zwischen den Schützengräben stehen die verhasstesten und erbittertsten Gegner um den Christbaum und singen Weihnachtslieder. Diesen Anblick werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Man sieht halt, dass der Mensch weiterlebt, auch wenn er nichts mehr kennt in dieser Zeit als Töten und Morden […] Weihnachten 1914 wird mir unvergesslich sein.“
Man muss es sich vorstellen: Da wird nicht rhetorisch zwischen Krieg und Frieden abgewogen, da wird nicht im geschützten Raum mit kulturellem Begleitprogramm zwischen globalen und nationalen Interessen zu vermitteln versucht, da ist Krieg Realität. Da steht niemandem der Sinn nach Schnappschüssen, denn da wird scharf geschossen. Und genau da machen Menschen Frieden. Ungeschützt und ohne Glamour. Im Dreck und in Schützengräben. Ohne die Sicherheit von Ritualen und Hierarchien. Einfach so. Da machen Soldaten mitten im Krieg einfach Frieden. Für eine Nacht. Ohne Blitzlichtgewitter. Ganz still. Stille Nacht, heilige Nacht. Da wird auf dem Schlachtfeld wahr, was die Engel damals den Hirten gesungen haben: „Hört’s, ihr Menschen groß und klein, Halleluja, Friede soll auf Erden sein.“ (eg 47,4) Das ist tatsächlich unglaublich! Unvergesslich, ergreifend, merk-würdig auch im wörtlichen Sinn.
Ich frage mich, wie das damals möglich war mit dem Frieden. Da war ja nichts geplant wie bei unseren großen Gipfeln, da war niemand verantwortlich, da gab es keinen Vorlauf und keinen Befehl. Ganz normale Menschen haben einfach Frieden gemacht mitten im Krieg. Nicht theoretisch, sondern ganz konkret und im Kleinen. So ist es wohl, Frieden kann man nicht delegieren an die Mächtigen dieser Welt. Frieden beginnt mit dir und mir. Damit, dass wir beginnen.

Wer hat wohl damals angefangen mit dem Frieden? Wie und womit hat er wohl begonnen, der Weihnachtsfriede 1914? Vielleicht mit der Sehnsucht. Ja, ich glaube, die Sehnsucht war der Anfang vom Frieden. Die Sehnsucht nach Weihnachten mitten im Dreck und Blut und Lärm des Krieges. Die Sehnsucht nach Licht und Wärme. Die Erinnerung an den Zauber der Kindertage unterm Weihnachtsbaum, an die Melodien, an das Kind in der Krippe, die eigenen Kinder zuhause. Damit hat es wohl gefangen. Mehr brauchte es nicht. Keinen Schutz, keine Sicherheit, keine Strategien, nur diese Sehnsucht, die sich an der Geburt des kleinen Kindes in Bethlehem entzündet hat. Unglaublich, aber wahr: Ein Kind, das vor über zweitausend Jahren mehrere tausende Kilometer von den Fronten des ersten Weltkriegs entfernt geboren wurde, verursacht Frieden mitten im Krieg. Was für eine Kraft geht von dem aus, was damals geschehen ist!

Und du Bethlehem Efrata, die du klein bist unter den Städten in Juda, aus dir soll mir kommen, der Herr ist. Und er wird der Friede sein. (Mi 5,1)

So war es in dieser Nacht des Weihnachtsfriedens 1914. Da war Friede. Doch was ist geblieben nach dieser Nacht? Danach wurde wieder scharf geschossen, das kann niemand leugnen. Ist es also wieder nur eine romantische Geschichte, die am Ende übrig bleibt? So ein sentimentaler Schnappschuss wie Kerry auf dem Weihnachtsmarkt? Ich glaube nicht. Denn da war eine Nacht Frieden. Da war eine Nacht kein Sterben. Da war ein Mensch, der vielleicht genau wegen dieser Nacht den Krieg überlebt hat, der sein Leben gelebt und Leben weitergegeben hat. „Das man halt sieht, dass der Mensch weiterlebt, auch wenn er nichts mehr kennt in dieser Zeit als Töten und Morden.“ Das bleibt und gibt der Sehnsucht hier und heute Nahrung: Möge doch wieder so ein Friede kommen in unsere verwundete Welt! Das bleibt: Weil Gott in tiefster Nacht erschien, kann unsre Nacht nicht endlos sein. Er wird der Friede sein.

„Gott segne uns und behüte uns. Das Licht von Bethlehem scheine in unseren Herzen und dringe vor aus dem Elendsstall bis in die Paläste. Wir sind das Licht der Welt. Geht hin in Frieden.“ (D.Sölle)
Amen.

 

 

[1] Norman Vincent Peale, aus: ach! Das kleine Buch vom großen Staunen, Andere Zeiten e.V. Hamburg 2007, S.30.

Perikope
25.12.2016
5,1-4

Krumme Wege führen zum Heil - Predigt zu Micha 5,1-4 von Isolde Karle

Krumme Wege führen zum Heil - Predigt zu Micha 5,1-4 von Isolde Karle
5,1-4

Und du, Bethlehem Efrata, die du klein bist unter den Städten in Juda, aus dir soll mir der kommen, der in Israel Herr sei, dessen Ausgang von Anfang und von Ewigkeit her gewesen ist.
Indes lässt er sie plagen bis auf die Zeit, daß die, welche gebären soll, geboren hat. Da wird dann der Rest seiner Brüder wiederkommen zu den Söhnen Israel. Er aber wird auftreten und weiden in der Kraft des Herrn und in der Macht des Namens des Herrn, seines Gottes. Und sie werden sicher wohnen; denn er wird zur selben Zeit herrlich werden, so weit die Welt ist. Und er wird der Friede sein. (Mi 5,1-4)

Liebe Gemeinde,
das faszinierende an biblischen Geschichten ist, dass sie uns herausfordern, die Welt anders als sonst wahrzunehmen. Sie folgen nicht der Logik, die sich von selbst versteht, sie fordern uns vielmehr auf nachzudenken und wahrzunehmen, was leicht übersehen wird. Gute Geschichten haben es in sich. Sie nehmen unvorhersehbare Wendungen. Oft führen in ihnen krumme Wege zum Ziel. In Micha 5 haben wir es mit einer solchen Geschichte zu tun und sie ist verwoben mit vielen anderen biblischen Geschichten, die im Neuen Testament auf wundersame Weise im Stammbaum Jesu wieder auftauchen. Damit weist unser Predigttext weit über sich selbst hinaus und nimmt in gewisser Hinsicht schon die Weihnachtsgeschichte vorweg.
Ich will im Folgenden den weihnachtlichen Motiven unseres Predigttextes nachgehen und über Bethlehem, David, die erstaunlichen Frauengeschichten, die hinter dem Stammbaum Jesu stehen, und Maria und Josef nachdenken.

(1) Bethlehem
In Micha fünf überrascht zunächst der Ort, der als Schauplatz des Heils gewählt wird: Es geht um Bethlehem, die Stadt oder besser das Dorf, das Jahrhunderte später in der Erzählung der Geburtsgeschichte Jesu zentrale Bedeutung gewinnen wird und heute in der ganzen Welt bekannt ist.
Bethlehem, nicht Jerusalem, ist für Micha der Ort, an dem ein neuer Herrscher geboren werden soll. Dieser Herrscher wird in der Tradition Davids dafür sorgen, dass man sicher im Land wohnen kann, dass das Leiden unter Not und Ungerechtigkeit ein Ende hat, dass Flucht und gewaltsamer Tod aufhören. Dieser Herrscher wird ein neuer David sein, er wird einen Neuanfang machen und sich um die Menschen wie ein Hirte kümmern. Ein Hirte führt sein Volk, er schützt es und versorgt es. Der neue Herrscher wird bis zu den Rändern der Erde alle Mächte umgreifen. Er wird Rettung bringen und wahren Frieden, Schalom.
Der Prophet Micha verknüpft diese weitreichende Vision mit dem kleinen, politisch völlig unbedeutende Bethlehem. Bethlehem liegt etwa zehn Kilometer von Jerusalem entfernt. Nicht Jerusalem ist der Ort der Hoffnung einer neuen Weltordnung, sondern das belanglose Bethlehem, ein Flecken am Rand. Gott beginnt sein rettendes und heilendes Handeln am ruhmlosen Ort unter kleinen Leuten. Krumme Wege führen zum Heil.
Micha blendet die gegenwärtige Not seiner Zeitgenossen bei seiner Vision keineswegs aus. Aber sein Akzent liegt auf der Überwindung der Not. Er interpretiert die Erfahrung der Gegenwart neu und greift dazu auf ein Bild zurück, das an die Weihnachtsgeschichte erinnert: Es geht um das Bild einer gebärenden Frau. Solange die Gebärende in Wehen liegt, leidet sie heftige Schmerzen. Ist die Geburt aber vorbei, dann ist die Befreiung da, dann ist alles vergessen, was vorher notvoll, mühsam und bedrückend war. Die Geburt ist das Ende der Krise, aber ohne Krise wiederum ist eine Geburt nicht möglich. Das ist die Botschaft des Micha: Die Krise wird nicht ewig dauern, Trost und Hoffnung stehen vor der Tür.

(2) David
Bethlehem ist der Geburtsort von David. David war der jüngste und der kleinste in der Kinderschar seines Vaters Isai. Keiner nahm David ernst. Während die großen Brüder wichtig waren und mit König Saul in den Krieg ziehen durften, hütete David als Hirte ein paar Schafe in Bethlehem. Als die Philister mit dem Riesen Goliat Saul und sein Heer angreifen, ist die Furcht und das Entsetzen groß. Keiner traut sich, sich mit Goliat anzulegen. Als David im Kriegslager auftaucht, um seinen Brüdern etwas zu essen zu bringen, nimmt er die Bedrohung wahr, wird aber von seinem großen Bruder sogleich scharf zurechtgewiesen und als Wichtigtuer beschimpft.
Schließlich kommt David zu Saul und überredet diesen, gegen Goliat kämpfen zu dürfen. Obwohl es absurd erscheint, gibt Saul aus lauter Hilflosigkeit David schließlich nach. Die Rüstung, die David angezogen wird, legt er sofort wieder ab. David geht darin völlig unter und kann sich nicht bewegen. So geht er völlig ungeschützt in den Kampf, lediglich bewaffnet mit fünf glatten Steinen und einer Steinschleuder – und einem ungeheuren Mut und Gottvertrauen. Wir wissen, wie es ausging. Goliath wird besiegt und das Volk gerettet. Krumme Wege führen zum Heil.
Aus Davids Geschlecht soll der neue Retter kommen. Das sagt Micha und verweist auf Bethlehem. Diese Verknüpfung vom kleinen Bethlehem und vom jungen David haben die neutestamentlichen Autoren bei der Geburtsgeschichte vor Augen. Sowohl Matthäus als auch Lukas legen deshalb viel Wert auf die Geburt Jesu in Bethlehem und auf einen Stammbaum, der Jesus als Nachkomme Davids ausweist. Denn der künftige Friedensherrscher kommt nicht aus Jerusalem, er kommt auch nicht aus Nazareth, dem wahrscheinlichen Geburtsort Jesu, sondern aus Bethlehem, der Geburtsstadt Davids.
Das Kleine, Geringe und Unbedeutende wird damit umgedeutet in sein Gegenteil: Es wird zum Ausgangspunkt für das Heil der Welt. Gottes Menschwerdung ereignet sich nicht in der Hauptstadt mit ihrem Glanz, mit Tempel und Palast, sondern auf dem Land, in einem Stall, im Kleinen und Unscheinbaren. Matthäus korrigiert Micha deshalb sogar, als er ihn zitiert: Bei Matthäus ist Bethlehem nicht mehr die kleinste unter den Städten, Matthäus sagt vielmehr, ich zitiere: „Und du Bethlehem im jüdischen Land, bist keineswegs die kleinste unter den Städten in Juda, denn aus dir wird kommen der Fürst, der mein Volks Israel weiden soll.“ (Mt 2,6) Für Matthäus ist es offenbar: Bethlehem ist nur vermeintlich klein und gering. Durch die Menschwerdung Gottes, durch das Kind in der Krippe, durch Weihnachten steigt das kleine, unbedeutende Bethlehem zu Weltruhm auf. Bethlehem wird damit zu einer Metapher für die Hoffnung, die sich mit der Geschichte Gottes mit seinen Menschen, mit allen, die sich klein und unbedeutend fühlen, verbindet.

(3) Der Stammbaum Jesu (Mattäus1)
Ganz ähnliche Umwertungen finden wir auch im Stammbaum Jesu. Bei Matthäus läuft der Stammbaum von Abraham über David bis hin zu Josef, der damit im Übrigen am Ende doch als Vater Jesu gilt. Das Erstaunliche an diesem Stammbaum ist nun aber nicht, dass Jesus als Nachfahre Davids ausgewiesen wird, sondern dass vier Frauen, mit Maria sind es fünf, dabei erwähnt werden, deren Biographien alles andere als geradlinig verlaufen sind. Es geht um Tamar, Rahab, Batseba und Rut. Bei allen Frauenfiguren war die Geburt des Kindes jeweils mit einem Skandal oder jedenfalls mit dem Anschein eines Makels verbunden. Bei allen führten äußerst krumme Wege zum Heil.
Zunächst zu Tamar: Tamar war die Schwiegertochter Judas. Doch die beiden Söhne Judas, die nacheinander mit Tamar verheiratet waren, starben beide. Juda wollte ihr daraufhin keinen weiteren Sohn als Ehemann geben. Um zu ihrem Recht als Frau zu kommen, verkleidete sich Tamar als Prostituierte und verführt so ihren Schwiegervater Juda, der sich völlig ahnungslos mit ihr einlässt. Tamar wird schwanger und soll mit dem Tode bestraft werden. Doch sie kann Juda durch das Pfand, das sie von ihm behalten hat, zeigen, dass er selbst der Täter und damit der Vater der Zwillinge ist. Juda akzeptiert daraufhin nicht nur seine Vaterschaft, sondern erkennt auch, dass er Tamar ungerecht behandelt hat. Die Umwertung in dieser Erzählung liegt auf der Hand: Eine komplizierte und prekäre Beziehungsgeschichte, in der Tamar lange die Verliererin zu sein schien, führt schließlich zu ihrem Triumpf und zu Söhnen, die sich in den Stammbaum Jesu einschreiben.
Als nächstes wenden wir uns „der Frau des Uria“ zu – eine kaum verhohlene Anspielung auf Davids Ehebruch mit der schönen Batseba. David lässt Uria, den Mann der Batseba, töten, als sein Ehebruch nicht länger verheimlicht werden kann. Der Sohn, der aus der Beziehung von David und Batseba hervorgeht, wird zur Strafe sterben. Aber David und Batseba bekommen noch ein Kind – Salomo. Als Mutter Salomos setzt sich Batseba schließlich beherzt und geschickt dafür ein, dass Salomo König wird, obwohl Salomo die Thronnachfolge nach den Regeln der Erbfolge eigentlich nicht zugestanden hätte. Batseba bewirkt die Durchbrechung der Regeln. Nur damit wird die für den Stammbaum bei Matthäus entscheidende Linie Davids weitergeführt.
Wir kommen zur dritten Frau. Auch Rahab hat alles andere denn eine moralisch einwandfreie Biographie vorzuweisen. Sie verdient ihren Unterhalt als Hure in Jericho, so heißt es lapidar in der Schrift (Jos 2). Als hebräische und damit feindliche Kundschafter zu ihr kommen, gewährt sie ihnen Gastfreundschaft. Doch dann sickert durch, dass die Kundschafter in Rahabs Haus sind. Ihnen wird nach dem Leben getrachtet. Rahab rettet sie mit einer Lüge in höchster Not. Zugleich verrät sie damit die Leute ihrer Stadt. Als Belohnung lässt man sie und ihre Familie bei der Zerstörung Jerichos am Leben. Rahab wird auf diese Weise als Fremde „Teil der Geschichte Israels und der Familiengeschichte Judas, Davids und Jesu.“ (Ebach, 53) Rahab wird zur Mutter von Boas, der wiederum Rut heiraten wird, die Urgroßmutter Davids – und damit sind wir bei der letzten bedeutenden Frau in Jesu Stammbaum angekommen:
Mit Rut haben wir zum ersten mal eine Frau vor uns, die keinerlei Makel zu kennzeichnen scheint: Keine sexuellen Eskapaden, wie sie die drei Vorgängerinnen auf je unterschiedliche Weise kennzeichnen. Doch Rut ist Moabiterin und das ist nun tatsächlich ein nicht geringes Problem. In Deuteronomium 23,4 und Nehemia 13,1-3 werden Moabiter verdammt als Menschen, die in alle Ewigkeit nicht zum Volk Gottes dazugehören können. Ruts Geschichte, die durch und durch positiv gezeichnet wird, unterläuft damit eine zentrale Norm.
Als Noomi, ihre Schwiegermutter, sie anfänglich zurück in ihr Land schicken möchte, weil sie weiß, dass Rut als Ausländerin keine Chance in ihrer Heimat haben wird, antwortet Rut: „Rede mir nicht ein, daß ich dich verlassen und von dir umkehren sollte. Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe ich auch... Der Herr tue mir dies und das, nur der Tod wird mich und dich scheinden.“ (Rut 1,16f) Rut bekennt sich damit klar zu dem Gott Noomis, sie zeigt ihren Mut zum Risiko und sorgt schließlich zusammen mit Noomi dafür, dass ihr Weg nach Betlehem nicht in einer Sackgasse endet, sondern dass Boas sie zur Frau nimmt und sich am Ende alles glücklich fügt. Das ist nicht nur für Rut persönlich ein haapy end, es ist auch im Hinblick auf die Welt ein happy end: Rut wird als Moabiterin zur Urgroßmutter Davids und damit zur direkten Vorfahrin Jesu. Ohne Rut keinen David, ohne David keinen Jesus.

Es ist sehr bemerkenswert, dass uns Matthäus einen solchen Stammbaum Jesu zu Beginn des Neuen Testaments präsentiert. Er verbindet damit das Alte und das Neue Testament. Er zeigt uns vor allem, wie krumme Wege zum Heil führen, wie Gott das kleine und unbedeutende, das unangepasste und fremde benutzt, um den Menschen seine Nähe zu zeigen und sie in seine Zukunft zu führen.

4) Maria und Josef
Den Leserinnen und Lesern des Stammbaums führt Matthäus durch die Frauen und die mit ihnen lebendig werdenden Geschichten vor Augen, dass es in dieser Familie nicht erst jetzt, bei der Geburt Jesu durch Maria, ungewöhnlich zugeht. „Gerade die Geschichten von Tamar und Rahab, Rut und der Mutter Salomos schreiben ins Stammbuch dieser Familie, dass ein vorschnelles Urteil rasch ein falsches wird.“ (Ebach, 68) Das gilt auch für die Schwangerschaft Marias bzw. die Zeugung Jesu. Für Josef ist es nicht leicht, als er merkt, dass Maria schwanger ist, obwohl er selbst nach der Logik des Matthäusevangeliums nicht der Vater sein kann. Josef muss von Ehebruch ausgehen und überlegt deshalb, Maria zu verlassen. Wie sein Namensbruder im Alten Testament wird Josef dann aber in einem Traum belehrt. Das hilft ihm, sich zu Maria zu bekennen und Jesus als seinen Sohn zu betrachten.

Krumme Wege führen zum Heil. Das ist die Botschaft von Weihnachten. Jesus wird in ärmlichsten Umständen geboren. Ihm wird bald nach dem Leben getrachtet. Sein Leben ist alles andere als einfach. Und doch ist die Geschichte Jesu eine Geschichte voller Hoffnung und Heil. In Jesus zeigt uns Gott, dass er mit uns ist, dass er uns nicht verlässt. Dass er uns treu bleibt trotz allem Zynismus. Dass er das Licht der Engel verbreitet trotz aller Dunkelheit. Gott wird Mensch, damit wir menschlich werden. Lesen wir uns hinein in diese Geschichten, in die Geschichte von Micha und seiner Friedensverheißung, in die Geschichte von Bethlehem und David, in die Geschichten von Tamar und Batseba, von Rahab und Rut, von Maria und Josef. Nicht nur mit ihnen, auch mit uns geht Gott oft krumme und verschlungene Wege, Wege aber, die am Ende in seinen Schalom münden. Das ist die Verheißung des Micha. Am Ende werden die Hoffnung und die Liebe das letzte Wort haben. Das feiern und besingen wir an Weihnachten. Amen.

 

 

Literatur: Jürgen Ebach, Josef und Josef. Literarische und hermeneutische Reflexionen zu Verbindungen zwischen Genesis 37-50 und Matthäus 1-2, Stuttgart 2009

Perikope
25.12.2016
5,1-4

Von Gott auf die Schultern genommen - Predigt zu Micha 5,1-4 von Friederike Erichsen-Wendt

Von Gott auf die Schultern genommen - Predigt zu Micha 5,1-4 von Friederike Erichsen-Wendt
5,1-4

Winterurlaub
Michel schaut aufs Meer.1
Er ist klein genug, um auf Mutters Schultern zu dürfen. Und groß genug, um der kalten Brise seine eigenen Gedanken entgegenzuhalten. Mutters warme Hände halten seine Fußgelenke fest, mit dem rechten Unterarm stützt er sich auf ihrem Kopf ab.

Kind, von der Mutter getragen.
Zwei Menschen, die in die Ferne schauen.
Den Blick in die Zukunft richten.

Weit über das Wasser, hin zum Horizont, den man so ‚Zukunft‘ nennt.

Und wo die Dinge klein sind.
Die Schiffe, die die Kontinente verbinden.
Die Inseln, die die Wellen brechen und ihnen die Kraft nehmen, bevor sie das Land zerstören mit ihrer Macht.
Überhaupt, die Macht des Meeres, aus dem das Leben kommt und das so viele Tote birgt.
Und dann ist da das Land auf der anderen Seite des Meeres. Nur zu erahnen.
Wenn überhaupt zu sehen, dann nur, wenn Du die Augen ganz weit aufmachst, genau hinschaust, eine Weile bei dem bleibst, was es zu erkennen gilt. Was Du siehst, nur weil Du weißt, dass es da ist.

Bethlehem – Stadt ohne Brot
Kind, von der Mutter getragen.
Nicht an der Grenze von Land und Wasser. Mitten im Land. Das „Heilige Land“, sagen sie.
Einem Land ohne Frieden.
Einem Land mit machthungrigem König, der Kinder ermorden lässt.
Kind und Mutter. Jesus und Maria. Zwei Menschen, die nur auf den nächsten Schritt schauen. Auf die Felder. Auf Stoppeln und zertretene Halme.
Auf die Häuser, in denen immer die Anderen ein Zuhause haben: Hell und warm und geborgen. Das Leben der Anderen ist das gute Leben.
Sie schauen auf beschlagene Fenster und verschlossene Türen. Auf einen blutverschmierten Säugling im Stroh. Weit über die Ebene in der schlaflosen Nacht, hin zum Horizont, den wir Zukunft nennen. Und wo die Dinge klein sind.
Menschen backen Brot. Sitzen um einen Tisch. Das Kind wächst heran, lernt zählen, schreiben und Holz zu bearbeiten. Nur zu erahnen. Wenn überhaupt zu sehen, dann nur, wenn Du die Augen ganz weit aufmachst, genau hinschaust, eine Weile bei dem bleibst, was es zu erkennen gilt.
Was Du siehst, nur weil Du weißt, dass es da ist.
Die Sterne am Himmel, die nur für Dich Bedeutung haben, und die Stimmen von Engeln, die flüstern: Fürchte Dich nicht.

Die eigene Geschichte liegt in den Wehen
In solchen Momenten fängt die Geschichte an.
In solchen Momenten verstehst Du Dein Leben.
Eine Frau liegt in den Wehen und sehnt sich danach, endlich ihr Kind in den Armen zu halten.
Du weißt nicht wann – aber es geschieht.
So ist das mit dem Frieden. So ist das mit dem Reich Gottes. So ist das mit dem Retter, nach dem sich so viele sehnen.

Und die Geschichte beginnt nicht dort, wo tagsüber alle alles richtig machen wollen.
Die Geschichte beginnt in den Schmerzen des Nachts. Bei denen, die nach Hause wollen. Die in der Zugluft sitzen. Die unter Herrschern leiden, die ihrem Volk fremd geworden sind.

Ihnen legt Gott einen Säugling in die Mitte. So schutzlos, so ohnmächtig. Irgendwie wird dieses Kind auch schon irgendwie groß werden. Und lernt die Worte, die Anderen wichtig sind. Und das Werk der Hände, das Anderen Lebensunterhalt und Lebenskunst ist.

Worte wie diese:
Und du, Bethlehem Efrata, die du klein bist unter den Städten in Juda, aus dir soll mir der kommen, der in Israel Herr sei, dessen Ausgang von Anfang und von Ewigkeit her gewesen ist. Indes lässt er sie plagen bis auf die Zeit, dass die, welche gebären soll, geboren hat. Da wird dann der Rest seiner Brüder wiederkommen zu den Söhnen Israel. Er aber wird auftreten und weiden in der Kraft des HERRN und in der Macht des Namens des HERRN, seines Gottes. Und sie werden sicher wohnen; denn er wird zur selben Zeit herrlich werden, so weit die Welt ist. Und er wird der Friede sein. (Micha 5,1-4)

Prophetisch: Von Gott auf die Schulter genommen
Micha schaut in die Ferne.
Er ist Mensch genug, um auf Gottes Schultern zu dürfen.
Die Fußgelenke von warmen Händen festgehalten, mit dem rechten Unterarm stützt er sich ab. Er ist einer, den Gott in seine Richtung schauen lässt.

Propheten nennt man die Leute.
Und manchmal ist es ja so, dass wir Kleinen, Unbedeutenden, von Gott selbst festgehalten werden, er unseren Blick lenkt, auf das, was seine Geschichte mit den Menschen wichtig macht.
Eine Frau vor verschlossenen Türen in Wehen.
Hirten auf dem Feld.
Ein Herrscher, der sagt: Ich bin der gute Hirte.
Und ein sicheres Dach über dem Kopf für alle.
Darauf schaut! Was zum Himmel schreit. Und was den Frieden ansagt.
Zukünftig wird abgerüstet. Das Kleine ist bedeutend, nicht das Mehr-und-Mehr.
Nicht, weil es per se gut wäre, sondern weil es beschützt und hilft, tröstet und heilt.
Und da ist Gott. „Meine Schafe hören meine Stimme“, sagt dieser herrschende Hirte, Gott selbst, auf den Feldern unseres Lebens.

Winterurlaub II
Michels Mama hält inne. Spürt die Last auf den Schultern und die Stiche im Herzen. Und doch hört sie, was die kleinen Dinge ihr anempfehlen. Sie hört, weil ihre Sehnsucht sucht. Wo Menschen suchen, beginnt Gott sich zu zeigen, sich Gehör zu verschaffen.
Du musst dafür nicht loslaufen, nichts tun wollen, um Gott zu finden. Aber sei gewiss: Wo Du umgetrieben bist von Enttäuschung und Schmerz, von unverständlich großer Freude und Mut – da ist Gott da. Völlig ausgeliefert, gleich einem Mann, der ans Kreuz geschlagen ist. Vielleicht blutverschmiert, wie ein Säugling, der das erste Mal ins Licht schaut. Da steht Gott an der Hobelbank neben Dir, um den Dingen den rechten Schliff zu geben. So, wie es sich für einen Zimmermann gebührt. Er geht hier und da umher und erzählt vom Reich der Himmelsherrschaft. Er tut unerwartet Unglaubliches und redet in Bildern.

Jetzt.
Und er wird es wieder tun.
Und er wird der Friede sein.

Zugluftexistenz
Schau über die Weite Deines Lebens. So viele Geschichten, auf deren Schultern du ruhst.
Geschichten aus Bethlehem. Geschichten voller Zugluft. Geschichten unterm Weihnachtsbaum.
Du bist gehalten von warmen Händen an den Fußgelenken. Getragen, um gemeinsam zu schauen. Den Blick in die Zukunft richten.

Weit hinaus, hin zum Horizont, den wir Zukunft nennen. Und wo die Dinge klein sind. Nur zu erahnen. Wenn überhaupt, nur zu sehen, wenn Du die Augen ganz weit aufmachst, genau hinschaust, eine Weile bei dem bleibst, was es zu erkennen gilt.
Was Du siehst, nur weil Du weißt, dass es da ist.
Sehnsuchtsvoll suchend.
Gott sieht. Gott hört.

Jetzt.
Und er wird es wieder tun.
Und er wird der Friede sein.
Amen.

1 Der Predigteinstieg ist motiviert durch eine Zeichnung von Quint Buchholz: „Am Leuchtturm“ (2010), abgedruckt beispielsweise in: Die Bibel in Bildern von Quint Buchholz, Gütersloh 2010, 204 (zu Lk, 2, 1-20).

Perikope
25.12.2016
5,1-4

"Krieg wird nicht mehr gelernt" - Predigt zur EKD-Synode in Magdeburg

"Krieg wird nicht mehr gelernt" - Predigt zur EKD-Synode in Magdeburg
4,1-7

Gottesdienst zur Eröffnung der 3. Tagung der 12. Synode der EKD im Dom St. Mauritius und Katharina zu Magdeburg, Landesbischöfin Ilse Junkermann (Evangelische Kirche in Mitteldeutschland)

Micha 4, 1-5.7b

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserm Vater, und unserem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde!

Frieden zwischen Völkern ist möglich. Was für eine Vision! Und in weiten Teilen Europas ist sie seit 1945 politische Wirklichkeit. Was für eine Geschichte! Nach zwei furchtbaren Weltkriegen war vielen Menschen in Europa klar: Krieg kann nicht zu Frieden führen. Die Europäische Gemeinschaft wurde gegründet. Das war - und ist! - das größte Friedensprojekt, das unser Kontinent in seiner langen und leidvollen Geschichte bisher erlebt hat.

Frieden ist möglich. Alte Feindschaften werden geschlichtet.

Wo Gegensätze scheinbar unüberbrückbar erscheinen, wird geduldig vermittelt. Sogenannte "Erzfeinde" können zu Freunden werden. Alte Gräben sind überwunden. Ja, Frieden ist möglich.

Wer dies vor hundert Jahren in Europa verkündete, wurde als Spinnerin und Phantast angesehen – leider auch in den großen christlichen Kirchen.

Dabei malt uns die Bibel in kräftigen Farben vor Augen, wie eine friedliche und gerechte Welt aussehen kann. Hören wir auf den Predigttext, wie er geschrieben steht im Buch des Propheten Micha:

Micha 4, 1-5.7b

1 In den letzten Tagen aber wird der Berg, darauf des HERRN Haus ist, fest stehen, höher als alle Berge und über alle Hügel erhaben. Und die Völker werden herzulaufen,

2 und viele Heiden werden hingehen und sagen: Kommt, lasst uns hinauf zum Berge des HERRN gehen und zum Hause des Gottes Jakobs, dass er uns lehre seine Wege und wir in seinen Pfaden wandeln! Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des HERRN Wort von Jerusalem.

3 Er wird unter vielen Völkern richten und mächtige Nationen zurechtweisen in fernen Landen. Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen machen und ihre Spieße zu Sicheln. Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen.

4 Ein jeder wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen, und niemand wird sie schrecken. Denn der Mund des HERRN Zebaoth hat's geredet.

5 Ein jedes Volk wandelt im Namen seines Gottes, aber wir wandeln im Namen des HERRN, unseres Gottes, immer und ewiglich!

7b Und der HERR wird König über sie sein auf dem Berge Zion von nun an bis in Ewigkeit.

Was für eine Vision! Frieden ist möglich. Alte Feindschaften sind geschlichtet. Es gibt wohl noch Unterschiede, auch Gegensätze zwischen den Völkern. Doch führen sie nicht mehr zum Krieg. Zwischen den Völkern regiert "versöhnte Verschiedenheit".

Ja, Frieden ist möglich. Frieden ist möglich, wenn Bewegung in die Welt kommt. Micha hat diese künftige Bewegung schon vor Augen:

Sie geht vom Berg Zion in Jerusalem aus. Er wird wachsen. Er wird alle anderen Berge überragen. Das zieht dann alle Völker an. Zu ihm hin wollen sie. Und machen sich auf den Weg. Endlich hat der Streit ein Ende, der Streit, wer der Größte und Stärkste ist. "... von Zion wird Weisung ausgehen und des HERRN Wort von Jerusalem" – und dann endlich hören die Völker Gottes Wort und Weisung. Genau so beginnt der Friedensprozess. Gottes Wort und Weisung leitet sie. Sie hören – endlich! Alle! - auf das Doppelgebot der Liebe: Gott lieben und respektieren und den Nächsten lieben und respektieren. Wenn Gott "unter großen Völkern richten und viele Heiden in fernen Landen zurechtweisen" wird, dann wird er sie genau nach diesem Recht richten. Dass sich kein Machthaber, keine Regierung mehr als Gott aufspielt, als Weltherrscher; vielmehr Gott, den Gott Israels als Herrn der Welt respektiert. Und dass sich kein Volk als Herr über ein anderes aufspielt. Vielmehr gestehen sich alle das gleiche Lebensrecht zu. Das wird Gottes Wort und Weisung richten. So wird Gott schlichten und vermitteln.

Und das bringt die Wende in alle Kriegsgelüste!

Wenn die Völker auf Gottes Richten, sein Schlichten und Vermitteln hören, dann geht es über in ihre Gedanken und Hände.

Dann schmieden die Völker ihre Kriegswaffen um in Friedensgeräte.

Aus Schwertern werden Pflugscharen.

Aus Spießen werden Sicheln und Winzermesser.

Und dann, dann herrscht endlich Friede.

Krieg wird nicht einmal mehr gelernt.

Das Konzept ‚Frieden durch Abschreckung’ ist abgelöst durch ‚Frieden durch Abrüstung.’ Die wertvollen Rohstoffe, bisher in Waffen gebunden, dienen nun der landwirtschaftlichen Erzeugung. Die Ressourcen, hier das Metall, werden lebensdienlich eingesetzt. Der Pflug dient nun mit seiner Schärfe dazu, die Erde für die Körner aufzupflügen, damit Brot wachsen kann. Und das Winzermesser kultiviert den Feigenbaum und die Weinstöcke. Zum Frieden gehört: Es ist genug für alle da. Alle lassen es sich genug sein. Wie das Brot für Grundbedürfnisse steht, so stehen Feigen und Wein für Genießen und für Lebensfreude. Ja, der Mensch braucht nicht nur Brot. Das wird jeder und jede zu Genüge haben. Der Mensch braucht auch Genuss, guten Wein und köstliche Feigen, er lebt auch von Schönheit und Jubel, vom Tanzen und vom Singen. Auch das wird jeder und jede zur Genüge haben. In alledem erfahren die Menschen, was Gott zusagt: ‚Du sollst, Ihr sollt leben! Du sollst, Ihr sollt ein gutes Leben haben!’

Liebe Gemeinde, was für ein Sehnsuchtsbild! Sehen Sie sie auch sitzen, diese Menschen? Ganz in Ruhe vor ihrem Haus, in ihrem Garten, bei ihrem Weinstock und Feigenbaum. Jeder Mensch hat genug zum Leben und ist zufrieden und deshalb friedlich. Nichts schreckt einen mehr auf. Alle Gräben sind überwunden.

Was für eine Vision! Frieden ist möglich!

Ein verwegenes Bild? Ja! Die Vision beginnt ja mit den Worten "in den letzten Tagen...". So übersetzt Martin Luther. Also: Am Ende der Zeit? Ohne Relevanz für die Gegenwart? Wörtlich heißt es: "...das Hintere der Tage". Es geht also um das, was wir noch nicht sehen können.

Zugleich leuchtet die Vision schon in gegenwärtige Tage, quasi ‚von hinten’! Wie die Kerze hinter einem Transparentpapier.

Jesus stärkt dieses Hoffnungslicht auf Frieden. Er preist sie glücklich, die Friedensstifter. Ja sogar: "Liebt eure Feinde...". Frieden ist möglich. Er selbst ist unser Friede geworden. Durch ihn haben auch wir aus den vielen Nationen und Völkern Anteil an Gottes Bund mit seinem Volk Israel und an den Verheißungen. So gibt es keinen Frieden ohne Volk Israel oder am Volk Israel vorbei. Jerusalem wird die Stadt des Friedens sein.

Auch Europa kann nicht sich selbst genug sein. Es ist eingebunden in die ganze Völkergemeinschaft, und orientiert sich auf den Gott Israels, den Vater Jesu Christi, hin, orientiert so auf Gerechtigkeit zwischen den Völkern.

Jesus besiegelt mit seinem Leben und Sterben die gute Nachricht. Er überwindet den Graben zwischen Gott und Mensch und zwischen Tod und Leben. Alle Todesmächte sind in seiner Auferstehung überwunden. Er ist das Licht.

(Lied "Christus, dein Licht verklärt unsere Schatten, lasse nicht zu, dass das Dunkel zu uns spricht. Christus, dein Licht erstrahlt auf der Erde, und du sagst uns: Auch ihr seid das Licht.")

"Auch wir sind das Licht ...?"

Wenn wir die täglichen Nachrichten und Kriegsmeldungen und Bilder sehen, liebe Brüder und Schwestern, da könnten wir verzagen. Da ist doch so viel Dunkel, das zu uns spricht:

Unser Land, Deutschland, ist der viertgrößte Rüstungsexporteur der Welt, für Kleinwaffen stehen wir sogar auf Platz zwei der Exporteure1.

Eine neue Form von Krieg kommt nach Europa. Terroristen bringen furchtbare Gewalt und verbreiten Angst und Schrecken. Und viele Menschen suchen Sicherheit in Nationalismen.

Angst wächst, auch die Angst vor Fremden. Europa schottet sich immer mehr ab, besonders gegen Menschen in Not. So bringt es eine seiner wesentlichen Grundlagen in Gefahr: Solidarität und Mitmenschlichkeit.

Und ich denke an die herrschenden Kriege im Nahen und Mittleren Osten und in Afrika. Ach, wenn es doch nur einen Waffenstillstand, wenigstens eine Waffenpause in Syrien gäbe, für die Menschen in Aleppo, in Mossul im Irak und in den anderen Städten! Wie mühsam ist Schlichten und Vermitteln! Nur kleinste Schritte scheinen möglich.

Viel Dunkel! Ja!

Aber es spricht nicht allein. Und es hat nicht das letzte Wort.

Michas Vision leuchtet schon heute in unsere Tage. Das verändert die todbringende Wirklichkeit. Menschen lassen sich ansprechen von der Friedensvision, sie lassen sich vom Licht leiten.

Seit 1945 erleben wir dies im Friedensprojekt Europa. Ja, Schlichten und Vermitteln kostet Mühe. Doch viele Gräben sind überwunden!

"Schwerter zu Pflugscharen." Wie stark wirkt dieses biblische Bild in reale Politik hinein! Seit 1959 steht die Statue des Bildhauers Ewgenij Viktorowitsch Wutschetitsch als Geschenk der Sowjetunion vor dem Hauptgebäude der UNO in New York – als echtes Leitbild für die Völker und Nationen der Erde.

Und auf jenem kleinen Stoffaufnäher, damals "Textiloberflächenveredelung" genannt, wurde mit ihr 1980 zum ersten Mal von kirchlichen Friedensgruppen in der damaligen DDR zu einem zehntägigen Friedensgebet in den Novembertagen vor Buß- und Bettag eingeladen. Heute beginnt die 37. Dekade. Wie kümmerlich mag das damals gewirkt haben im grauen November des Jahres 1980! Wie wenig beeindruckend! Wie weltfremd und naiv! Doch die Geschichte ging weiter. Es ist gar nicht abzuschätzen, wie wichtig diese Friedensbotschaft für das Gelingen der Friedlichen Revolution in unserem Land war. Die Rufe "Keine Gewalt!" und "Nie wieder Krieg!" wurden zu wirksamem politischen Handeln. 1989 gelang die Überwindung der Teilung Europas und wurde uns geschenkt!

In der Denkschrift aus dem Jahr 2007 "Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen" beziehen wir als Evangelische Kirche in Deutschland – endlich - ganz klar Position: Es gibt keine "gerechten Kriege". Frieden wird und wächst vielmehr durch Gerechtigkeit. Schlichten und Vermitteln wird Gräben überwinden.

So lassen wir, so lassen viele Menschen, so lassen politisch Verantwortliche sich davon anstecken, wie Gott auf Schlichten und Vermitteln setzt. So lasst uns von ihm stärken und uns dafür stark machen.

Sein Friede, der höher ist als alle Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen.

Perikope
06.11.2016
4,1-7