"Land gewinnen" - Predigt über Philipper 1, 21-26 von Martin Schmid
1,21
Land gewinnen
Denn Christus ist mein Leben, und Sterben ist mein Gewinn. Wenn aber das Leben im Fleisch mir dazu dient, mehr Frucht zu schaffen, so weiß ich nicht, was ich wählen soll. Gedrängt bin ich von beiden Seiten: ich habe Lust, aus der Welt zu scheiden und bei Christus zu sein, was auch viel besser wäre; aber es ist nötiger, im Fleisch zu bleiben, um euretwillen. Und in solcher Zuversicht weiß ich, dass ich bleiben und bei euch allen sein werde, euch zur Förderung und zur Freude im Glauben, damit euer Rühmen in Christus Jesus größer werde durch mich, wenn ich wieder zu euch komme.  
„Ich fühle mich wie ausgeschlossen“, hat eine Frau gesagt, deren Mann im Sommer gestorben ist. Sie hätte auch sagen können: „Ich fühle mich wie eingesperrt.“ Denn Kummer ist eine Höhle. Und Menschen in Kummer und Leid fühlen sich oft wie abgetrennt vom Leben der andern, Höhlenbewohner, die sich erst langsam ans Licht wieder gewöhnen müssten, wenn sie herausgeführt würden.
Die Worte, die in diesem Predigttext zu uns sprechen, kommen aus einem Gefängnis. Der Schreiber musste die widrigen Umstände ertragen, die dort herrschten. Ob er in einem dunklen Verlies steckte, ist nicht bekannt, düster waren aber ganz gewiss seine Zukunftsaussichten. Auch wissen wir nicht, ob er gefesselt war, bestimmt aber war er gehindert, sich frei zu bewegen. Der Apostel Paulus, aus dessen Feder das eben Gehörte stammt, befand sich in römischer Haft, möglicherweise in Ephesus. 
Da sind sie eigentlich in einer ähnlichen Lage, die Trauernden, die am Totensonntag zur Kirche kommen, um ihrer Verstorbenen zu gedenken, und der gefangene Apostel. Zumal auch Paulus den Tod vor Augen hatte, nicht den Tod von Angehörigen, wohl aber den eigenen. Der Ausgang seines Prozesses war ungewiss.
Aber statt bei ihm Nähe und Ähnlichkeiten zu finden, müssen wir bei Paulus zu unserer Überraschung eine völlig andere Sicht der Dinge feststellen.
„Leben heißt für mich: Christus; Sterben heißt für mich: Gewinn“, sagt der Apostel. So sehen wir das nicht. Leben heißt für uns und hieß für die meisten unserer Verstorbenen: Mühe und Arbeit und ein bisschen Glück; Sterben heißt für uns: Loslassen, Hergeben, Verlust. - „Ich habe Lust, aus der Welt zu scheiden und bei Christus zu sein“, schreibt der Apostel. Nicht wenige von uns können zwar tapfer sagen: „Ich habe keine Angst vor dem Tod.“ Doch fügen sie meistens hinzu: „Ich fürchte mich aber vor dem Sterben.“ -  Er kenne, sagt wiederum der Apostel, neben dieser Sehnsucht, sterben zu dürfen, auch noch ein anderes Verlangen; er wünsche sich auch, bleiben zu können, um andere durch seinen Dienst im Glauben zu fördern. Diesen Wunsch, für andere etwas tun zu können und ihnen etwas zu bedeuten, verstehen wir vielleicht am besten. Aber bei uns klagen viele alt gewordene Menschen darüber, dass ihnen genau dies nicht mehr vergönnt sei, und wo sei dann noch der Sinn ihres Lebens.-  Paulus scheint in einer anderen Welt zu leben. Und sein Christusglaube scheint ihn so auszufüllen, dass er schon fast über den Dingen schwebt. Er sagt zwar, er sei von den Fragen des Sterbens oder Weiterlebens bedrängt. Aber viel größer als diese Bedrängnis erscheint uns seine Gelassenheit und seine Fähigkeit, sich‘s gefallen zu lassen, was immer ihm widerfährt. Wir sind vielleicht nicht so gelassen. Und wir können uns vielleicht nicht alles gefallen lassen.
Eingesperrt in die Höhle des Kummers, ist es möglich, dass wir die Stimme des Apostels deshalb nur wie aus der Ferne hören. Es mag uns vorkommen, als sei er uns weit voraus. Vielleicht ist uns da ein anderer Gefangener zunächst einmal näher als Paulus. Auch den Propheten Jeremia hat man einst in ein Loch gesteckt. Ganz unten fand er sich wieder, äußerlich und innerlich. Weil sie diesen Unbequemen loshaben wollten, stießen sie ihn in eine leere Zisterne. Er sank in den feuchten Schlamm. Es herrschte Dunkelheit. Es gab nichts mehr zu hoffen. Doch dann erschien am Brunnenrand der Kopf eines Menschen, und er hörte eine Stimme, die nach ihm rief. Schließlich wurde ein Seil herabgelassen, und ein paar Kleidungsstücke fielen zu ihm herunter, die er sich um seine aufgeweichte Haut an Brust und Rücken wickeln sollte. Vorsichtig zog man ihn nach oben.  
Könnte es für Menschen, die heute in ähnlicher Lage sind, auch eine Art Seil geben, das sie nach oben zieht? Und könnte dieses Seil nun doch tatsächlich gebildet sein aus den Apostelworten, zusammengedreht aus den Buchstabenreihen und Gedankenketten des Philipperbriefes? Einem Wort könnte man es wohl zutrauen, dass es die von uns wieder heraufzieht, die der Kummer in ein Loch gestürzt hat. Schaffen könnte das der kleine Sehnsuchtssatz: „Ich habe Lust, bei Christus zu sein.“  Der Satz verkürzt das Pauluswort „ich habe Lust abzuscheiden und bei Christus zu sein.“ Aber wenn er nur so schmal und schlicht auf uns zukommt, könnten wir uns vielleicht mit unserer eigenen Sehnsucht dranhängen, mit der Sehnsucht nach bleibender Verbundenheit mit unseren Toten und mit der Sehnsucht nach einer Rückkehr ins Leben.
„Ich habe Lust, bei Christus zu sein“. Da streckt einer seine Hände aus, möchte es fassen, endlich erreichen, bei Christus zu sein, und sehnt sich von Herzen danach. Das Verlangen, die Nähe Christi spürbar wahrzunehmen, kennen wir auch. Und es könnte dieses Verlangen besonders groß sein, wenn der Tod uns einen Menschen entrissen hat. In dieser meiner Einsamkeit, so könnten wir denken, würde die Nähe zu Christus mir helfen. Ich brauche jetzt etwas, was mich dort unten, wo ich stecke, auch wirklich erreicht, eine Hand, eine Stimme ...
„Ich habe Lust, bei Christus zu sein“. Es gibt auch bei Christus ein Verlangen, bei uns zu sein. Sein Geist, der Tröster, möchte zu uns niederschweben. Sein Wort möchte sich mit uns anfreunden. Wenn Jesus Christus sich uns nähern will, wird er kein Tuch herabschicken, keinen Stoff, vielleicht aber zum Beispiel ein Bild, wie es die Evangelien mehrfach von ihm zeichnen. Da befindet er sich auf einem Boot und ruht dort auf einem Kissen. Er schläft. Aber rings um ihn her herrscht wilde Unruhe. Die Menschen im Boot sind von Angst und Erschrecken befallen. Sie starren entsetzt über den Bootsrand, wo die Wellen hochgehen. Sie hören den Sturm. Sie fürchten um ihr Leben, weil das Boot zu kentern droht. Und Jesus liegt auf diesem Kissen. Er ruht da wie in Abrahams Schoß. Doch dann erhebt er sich für seine bedrängten Freunde. - Wenn wir uns an dieses Bild hängen und es so nahe an uns heranlassen, dass wir uns selbst darin erkennen, könnte es anfangen, zu uns zu sprechen. „Du kennst die Angst“, könnte es uns sagen, „du kennst die Unruhe, du kennst die Gefahr zu kentern, du siehst die Wellen hochgehen. Ich weiß von einer Ruhe mitten im Getöse und von einer Gelassenheit mitten im Sturm.“-  „Aber das ist nicht unsere Ruhe“, werden wir denken, „und es ist nicht unsere Gelassenheit, von der du sprichst. Wir sind nicht auf das Kissen gebettet, auf dem Jesus schläft. Wir kauern in unseren Ängsten.“ -  Wenn aber das Verlangen Jesu, bei seinen Menschen zu sein, nun vor uns hängt wie jenes Seil vor Jeremia, könnten wir vielleicht anknüpfen. „Ja“, könnten wir sagen „auch ich habe Lust, bei Christus zu sein.“ Unsere Sehnsucht könnte geweckt werden, selbst auch in diese Stille einkehren zu dürfen. Manchmal ist der Glaube ja noch nichts, was wir besitzen, sondern nur eben dies - eine Sehnsucht. Sie könnte erwachen. Und sie könnte sich ermutigt fühlen, nun auch in den Raum einzutreten, in dem Jesus sich so behütet wusste, und unseren Kopf auf sein Kissen zu betten und die Stürme einfach toben zu lassen. Dieser Wunsch wäre vielleicht der erste Zipfel eines Glaubens, der daran festhält, dass es bei Christus so etwas gibt: eine Ruhe im Sturm, eine Gewissheit in der Ungewissheit, eine Geborgenheit in der Angst.
„Ich habe Lust, bei Christus zu sein“. Es müsste möglich sein, diesen Satz nachzusprechen, ohne ihn mit einem Todeswunsch zu verbinden. Es müsste möglich sein, dieses Seil zu ergreifen und es zu verknüpfen mit der Liebe zum Leben. Es müsste möglich sein, an Christus teilzuhaben, der gestorben ist, und mit den Toten verbunden zu bleiben, die gestorben sind, und zugleich sich über den Rand der Zisterne ziehen zu lassen, den Boden wieder zu betreten, die Hände und Füße wieder zu bewegen, die Nachbarn und Freunde wieder zu sehen, die Vögel wieder singen zu hören, Wege wieder zu gehen, die man einmal gegangen ist, Aufgaben zu übernehmen, denen man sich einst gewidmet hatte, oder neue Aufgaben zu finden. Es müsste möglich sein, mit Christus eins zu sein und zugleich im Alltag zu leben.
„Ich habe Lust, bei Christus zu sein“, könnte dann vielleicht heißen: Ich habe Lust, Lebenszeichen wieder zu entdecken und wieder Lebensfreude zu empfinden. - Ich habe Lust, das Schöne, das ich erlebt habe, mir nicht nehmen zu lassen. - Ich habe Lust, mich herausziehen zu lassen aus meinem Loch. - Ich habe Lust, dieses ganz andere Leben mir gefallen zu lassen, das Gott mir nun verordnet hat, und mich darin zurecht zu finden.
„Ich habe Lust, bei Christus zu sein“ hat Paulus gesagt. Und er meinte, dass es deshalb für ihn nicht schlimm wäre zu sterben. Aber als er an seine Freunde und Mitchristen in Philippi dachte, wollte er gerne noch für sie da sein. Und er wollte trotzdem bei Christus sein, zumal ja auch sie „in Christus“ lebten. Denn für ihn gab’s keinen Zweifel, dass wir nicht nur sterbend bei Christus sein können, sondern auch lebend und nicht nur im Aufbrechen, sondern auch im Dableiben. Mehr noch: Mitten im Sterben könnten wir das Leben finden – bei Christus, und mitten in der Traurigkeit könnten wir eine Freude entdecken – in Christus. So wie Christus selbst inmitten der Stürme ruhte wie in Abrahams Schoß und dann aufstand gegen die Bedrohung. An seiner Seite gewinnen auch wir, was Kummer und Angst uns zu rauben drohten: Mut und Halt und Hoffnung; es ist ein Landgewinn, wo alles verloren schien. Amen.
Liedvorschlag: EG 361,6 Hoff, o du arme Seele, hoff und sei unverzagt
Perikope
25.11.2012
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