Leben in der Erwartung - Predigt zu Lukas 1, 67-79 von Matthias Wolfes
„Und sein [des Johannes] Vater Zacharias ward des heiligen Geistes voll, weissagte und sprach: Gelobet sei der HERR, der Gott Israels! denn er hat besucht und erlöst sein Volk und hat uns aufgerichtet ein Horn des Heils in dem Hause seines Dieners David, wie er vorzeiten geredet hat durch den Mund des Propheten: daß er uns errettete von unseren Feinden und von der Hand aller, die uns hassen, und Barmherzigkeit erzeigte unsern Vätern und gedächte an seinen heiligen Bund und an den Eid, den er geschworen hat unserm Vater Abraham, uns zu geben, daß wir, erlöst aus der Hand unserer Feinde, ihm dienten ohne Furcht unser Leben lang in Heiligkeit und Gerechtigkeit, die ihm gefällig ist
Und du, Kindlein, wirst ein Prophet des Höchsten heißen. Du wirst vor dem HERRN her gehen, daß du seinen Weg bereitest und Erkenntnis des Heils gebest seinem Volk, das da ist in Vergebung ihrer Sünden; durch die herzliche Barmherzigkeit unseres Gottes, durch welche uns besucht hat [oder auch: besuchen wird] der Aufgang aus der Höhe, auf daß er erscheine denen, die da sitzen in Finsternis und Schatten des Todes, und richte unsere Füße auf den Weg des Friedens.“ (Jubiläumsbibel, Stuttgart 1912)
Liebe Gemeinde,
der Lobgesang des Zacharias gilt seinem Sohn, Johannes, „Johannes, dem Täufer“. Ihm ist der größte Teil des ersten Kapitels im Lukasevangelium gewidmet. Es geht um die Ankündigung von dessen Geburt, um seine Geburt selbst und dann um die voraussagende Lobpreisung des „Kindleins“ durch den Vater Zacharias.
Johannes werde, so sieht es der Vater, „ein Prophet des Höchsten“ heißen. Dieser Höchste ist Christus. Ihm werde er den Weg bereiten. „Erkenntnis des Heils“ werde er „seinem Volk“ geben, und zwar einer solchen Erkenntnis, die in der Vergebung der Sünden besteht. Sein Wirken sei selbst ein Zeichen der Barmherzigkeit Gottes. In nicht ganz leicht zu verstehenden eigenen Wendungen zitiert Zacharias sodann die Heilige Schrift, wo es unter anderem heißt: „Ich sehe ihn, aber nicht jetzt; ich schaue ihn aber nicht von nahe. Es wird ein Stern aus Jakob aufgehen [...].“ (4. Mos 24, 17). Der Lobpreis endet mit den Worten: „Auf daß er erscheine denen, die da sitzen in Finsternis und Schatten des Todes, und richte unsere Füße auf den Weg des Friedens.“
Johannes ist derjenige, der Christus die Bahn bereitet. Der Evangelist Lukas hat hier einen sehr kompakten Text geschaffen, um diesen Gedanken zum Ausdruck zu bringen. Er ist auch sonst noch voller Anspielungen und Anklänge an alttestamentliche Stellen. Dieses kleine Stück ist eine Fundgrube für Bibelwissenschaftler. Nicht ohne Grund gilt Lukas als der gediegenste Verfasser unter den zahlreichen Autoren der neutestamentlichen Schriften.
Was mich anspricht ist aber nicht in erster Linie die literarische Form. In unseren Versen findet sich eine sehr genaue, geradezu erstaunlich präzise Beschreibung des christlichen Lebens. Drei Ausdrücke sind es, die wie Merkzeichen aufleuchten. Die, die sich der Barmherzigkeit Gottes gewiss sind, leben „ohne Furcht“. Sie führen ihr Leben in „Heiligkeit“. Und sie gehen „den Weg des Friedens“.
Um diese drei – Furchtlosigkeit, „Heiligkeit“, als Streben nach Gerechtigkeit, und Friedfertigkeit – ist es uns heute zu tun.
I.
Furchtlosigkeit, Heiligkeit, Friedfertigkeit – von Anfang an ist klar, dass der Evangelist nicht sagen will: Wer nur irgendwie sich zu Christus bekennt, der kann das alles für sich in Anspruch nehmen. Von uns selbst würden wir ja auch nicht behaupten, wir führten unser Leben in „Heiligkeit“ oder gingen konsequent „den Weg des Friedens“. Schön wär’s. Aber so ist es nicht. Auch wir sind ja verstrickt in das genaue Gegenteil. Unser Leben ist oft sehr unheilig und sehr unfriedlich.
Was der Evangelist sagt, ist etwas anderes: Er weist selbst mit seinen Worten den Weg. Furchtlosigkeit, ein in sich glaubwürdiges und gemeinschaftsfähiges Leben sowie das Streben nach Ausgleich und Frieden sind es, die der Barmherzigkeit Gottes von unserer Seite aus entsprechen.
Johannes, der Täufer, war nicht selbst der Erlöser. Er war dessen Wegbereiter. Sein Platz in der christlichen Geschichte ist anders: Er gehört zu denen, die das Umfeld Christi bilden. Darin aber ist er einer von denen, die zugleich den Raum schaffen für das Wirken des Heilands selbst.
Und so stelle ich mir auch den Ort vor, an dem wir irgendwie, jeder an seiner Stelle, stehen. Auch wir gehören in das Umfeld des Zentrums. Auch an uns liegt es, wie es weitergeht und welche Wirkung Gottes Barmherzigkeit in der Welt hat.
Wenn man es genau bedenkt, ist das eine enorme Verantwortung, die da auf uns liegt. Aber es ist nichts anderes als die Verantwortung von Menschen, die selbst Gottes Barmherzigkeit erfahren haben. Es muss doch etwas bedeuten, wenn wir uns zu Gott bekennen. Und was es bedeutet, sagt der Evangelist Lukas an dieser Stelle in aller Klarheit: ein furchtloses, „heiliges“, das heißt nach Gerechtigkeit strebendes, friedfertiges Leben.
II.
Als gläubige Menschen sehen wir uns immer wieder dem Vorwurf ausgesetzt, christliches Leben neige zur Weltflucht. Aber alles andere als das ist der Fall. Bei aller Distanz gegenüber dem Alltagsgetriebe verschließen wir uns nicht. Ein christliches Leben wird nicht im Exil geführt. Sich „lossagen“ zu wollen, ist immer sinnlos und führt zu allerlei Absurditäten. Selbst noch die ausgeprägteste Flucht aus der Welt ändert doch nichts an deren bloßem Vorhandensein. Die Grundhaltung des Christen soll auch in dieser Richtung von Güte und Gerechtigkeit bestimmt sein. Wie wir Gott verstehen, will er ehrliche Menschen. Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit sind die Voraussetzungen von Güte: „Wer ohne Tadel einhergeht und recht tut und redet die Wahrheit von Herzen; wer mit seiner Zunge nicht verleumdet und seinen Nächstem kein Arges tut und seinen Nächsten nicht schmäht […]: wer das tut, der wird wohl bleiben“ (Ps 15, 2. 3. 5b).
Ein Leben, das ausgerichtet ist am Maßstab von Güte und Gerechtigkeit, kann nicht misslingen. Wer ihm folgt, bedarf der Hilfe des „Glückes“ am wenigsten. Entscheidend ist der Maßstab. Und diesen Maßstab gibt uns Lukas mit seinen drei Leuchtzeichen: ohne Furcht, gerecht, friedliebend.
Sie sind „Leuchtzeichen“. Das bedeutet: Ich kann Ihnen nicht sagen, wir Sie in Ihrem eigenen Leben „gerecht“ oder „gut“ handeln können. Was „gut“ und „gerecht“ ist, was „gütiges“ Handeln bedeutet, lässt sich nicht außerhalb der jeweiligen Situation feststellen. Es handelt sich um Zielsetzungen, die sich an der Sache selbst bewähren müssen. Und solche Zielsetzungen sind Ihre eigenen Zielsetzungen. Mir zum Beispiel ist es sehr wichtig, mich zu konzentrieren, wenn jemand mir etwas sagt. Bei Telefongesprächen gleichzeitig noch etwas anderes zu tun (denn der andere sieht es ja nicht), finde ich ganz und gar ungehörig und unterlasse es streng. Das scheint mir gefordert zu sein, wenn mein Handeln Bestand haben soll. Und so ist es überall: „Gerecht“ ist zunächst einmal das, was mir als gerecht erscheint. Diese Scheinbarkeit kann ich nur mit Einfühlungsvermögen und Urteilskraft überwinden. Ich handele dann nicht nach der Maßgabe guter Absicht, sondern bemühe mich, vernünftig und verantwortungsvoll vorzugehen.
Als Menschen überhaupt, und noch einmal um so mehr als gläubige Menschen müssen wir zu Entscheidungen im Stande sein. Das bedeutet, dass wir einem Maßstab folgen, mit dem wir die Situation einschätzen. In einem absoluten Sinne „gut“ oder „gerecht“ zu sein – oder zu wähnen, man handele so –, ist dann leicht, wenn man die Wirklichkeit ausblendet. Ausblenden aber wollen wir nicht. Gewiß ist es anders gar nicht möglich; man kann nicht alles in gleichem Maße an sich heranlassen. Da geht es auch um Selbstschutz. Doch ein Prinzip machen wir nicht daraus.
Und dann kommt ja auch noch hinzu, dass sich die Folgen unserer Handlungen nicht vollständig abschätzen lassen. Diese Schwierigkeit ist unüberwindlich. Sie ist unseren Entscheidungen wie eine Grundbedingung eingeschrieben, und ihr kann man nur durch Nachdenken, Offenheit des Blicks und Realismus begegnen. Man muss unterscheiden können, Argumenten zugänglich und allem Autoritären gegenüber skeptisch sein.
III.
Wer sich mit Einsicht und Ehrlichkeit auf die Gegebenheiten einlässt, der sieht, dass es in erster Linie darauf ankommt, von welchen Grundsätzen ausgegangen wird. Nicht dagegen kommt es darauf an, dass man sich irgendwelchen Idealen von Gut, Gerecht oder auch Notwendig verschreibt. Eine Güte, die die Begegnung mit der Welt nicht verträgt, ist keine. Es gibt auch eine lächerliche Freiheit, und Weltflucht bedeutet: dem Leben nicht gewachsen sein.
Ich habe den gängigen Vorwurf der Weltflucht angesprochen. In Wahrheit aber hat der christliche Glaube eine weltfluchtfeindliche Tendenz. Ihm entspricht es, sich auf die Welt einzulassen, nicht aber, ihr entgehen zu wollen. Wir betrachten diese Welt als den Ort, an dem wir uns zu bewähren haben. Dabei denke ich etwa an unser Leben in der Familie, an den Bereich unseres Lebens, wo wir einer Arbeit nachgehen und dort mit anderen Menschen konfrontiert sind, oder überhaupt an all jene Situationen, in denen wir anderen begegnen und sie uns. Und doch ist dies alles nicht das Ganze. Als Christen leben wir im Noch-Nicht, denn die Erfüllung, das Heil steht noch aus. Aber wir leben eben in ihm, in diesem Noch-Nicht, das die Wirklichkeit selbst ist, und nicht neben oder außerhalb davon.
Als Christen sind wir immer unterwegs. Unser ganzes Leben ist ein Werden auf das hin, was wir noch nicht sind, was wohl Gott schon im Moment unserer Entstehung bei sich gesehen und gewollt hat, was zu werden aber eben die Aufgabe unseres Lebens ist.
Auch wir selbst, als solche, die „unterwegs“ sind, sind also Vorläufer. Das Eigentliche kommt erst noch; wir aber leben auf es hin. Das ist unsere Hoffnung, die wir unversehrt bewahren wollen in einem furchtlosen, gerechten und friedliebenden Leben.
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Vor Augen steht mir die Gottesdienstgemeinde einer Großstadtkirche in zentraler, auch räumlich herausgehobener Lage (Trinitatiskirche in Berlin-Charlottenburg). Auf diese Gemeinde bezieht sich das oft gebrauchte „Wir“, in das ich mich konsequent und ausnahmslos einschließe.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Der Anspruch, in vergleichsweise finsteren Zeiten (Pandemie) Zuspruch zu geben.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Dass es nicht ganz leicht ist, das große Thema der „Bewährung“, das mir sehr am Herzen liegt, ohne drängenden Ton oder gar die Tendenz zur Handlungsanweisung zu erörtern.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Anteilnahme der Predigtcoacherin. Ich halte viel von „positivem Hörer bzw. Lesen“, und das meine ich, bei ihr gefunden zu haben.