Leben in der Gemeinschaft - Predigt zu Philipper 1,3-11 von Ralph Hochschild
1,3-11

Liebe Gemeinde,

neulich bin ich ihm begegnet. Bei einem Gang durch die Neue Staatsgalerie Stuttgart. Ihm, Paulus, dem Völkerapostel, dem Schriftkundigen, dem Zeltmacher. Auf der Holztafel, auf der ihn Rembrandt van Rijn porträtiert hat. Als Gefangenen, im Dunkel seiner Zelle, um sich seine Habseligkeiten, das Schwert in der Ecke. Das Zeichen für Gericht und Tod, die ihm jetzt drohen, das Symbol für eine ungewisse Zukunft.

Welch ein Kontrast! Hier die weite, helle, monumentale Neue Staatsgalerie, da die kleine, dunkle, bescheidene Gefängniszelle. Welch eine Differenz zu dem dynamischen und streitlustigen Paulus, den ich aus der Apostelgeschichte und manchen seiner Briefe kenne. Jetzt wirkt er schmächtig und gebeugt. Die Riemen seines Schuhs gelöst, den müden Fuß aufgestellt, sitzt er ganz ruhig auf der Pritsche. Licht fällt durch das Zellenfenster. Die rechte Hand am Kinn folgt er seinen Gedanken. Die Bibel liegt auf seinem Schoß, auf diesem festen Grund ein Briefbogen. In der Hand die Feder, mit der er vielleicht gleich ansetzen und die folgenden Worte schreiben wird. Wir lesen sie heute im ersten Kapitel des Philipperbriefes, in den Versen 3-11.

„Ich danke meinem Gott, sooft ich euer gedenke – was ich allezeit tue in allen meinen Gebeten für euch alle, und ich tue das Gebet mit Freuden –, für eure Gemeinschaft am Evangelium vom ersten Tage an bis heute; und ich bin darin guter Zuversicht, dass der in euch angefangen hat das gute Werk, der wird's auch vollenden bis an den Tag Christi Jesu. Wie es denn recht und billig ist, dass ich so von euch allen denke, weil ich euch in meinem Herzen habe, die ihr alle mit mir an der Gnade teilhabt in meiner Gefangenschaft und wenn ich das Evangelium verteidige und bekräftige. Denn Gott ist mein Zeuge, wie mich nach euch allen verlangt von Herzensgrund in Christus Jesus. Und ich bete darum, dass eure Liebe immer noch reicher werde an Erkenntnis und aller Erfahrung, sodass ihr prüfen könnt, was das Beste sei, damit ihr lauter und unanstößig seid für den Tag Christi, erfüllt mit Frucht der Gerechtigkeit durch Jesus Christus zur Ehre und zum Lobe Gottes.”

Eigentlich müsste er verzweifelt sein, klagend und jammernd in seiner Zelle liegen. Doch Paulus schreibt nicht von Verzweiflung, sondern von seiner Dankbarkeit. Wir hören ihn nicht klagen, sondern von seiner Freude. Er jammert uns nichts vor, sondern spricht von seiner Zuversicht. Es ist, als siegten die hellen Strahlen, die durch das Zellenfenster fallen, über die Düsternis der Zelle, als erleuchteten sie ihm nicht nur Kopf und Verstand, sondern träfen auch sein Herz, stärkten seinen Mut, richteten ihn auf. Paulus spürt wohl, welche Kraft die Gemeinschaft mit seinen Philippern hat. „Ich danke meinem Gott […] für eure Gemeinschaft am Evangelium vom ersten Tage an bis heute.”

Paulus hat es verstanden: Wir können uns wohl mit Menschen bekannt machen, anfreunden, Gemeinschaft aber ist nichts, für das wir uns entscheiden könnten. Er kann es nicht und die Philipper nicht. Sie ist mehr als das Resultat eines kühlen Entschlusses. Sie ist nicht selbstverständlich, sie ist ein Geschenk.

Ein Konfirmand erlebt Ähnliches mit seinen Freunden. Wen ich gut finde und in welchem Freundeskreis ich sein möchte – das kann ich noch entscheiden. Aber ob aus diesem Freundeskreis eine Gemeinschaft wird, in der einer für den anderen einsteht, eine Gemeinschaft, die zusammenhält – das ist ein Geschenk.

Wer je einen Mannschaftssport betrieben hat, weiß das: Ich kann mich für eine Sportart entscheiden, weil sie mir gefällt. Ich kann zu einem Verein wechseln, bei dem ich mit meiner neuen Mannschaft Siege feiern und Erfolge haben möchte. Aber ob aus dem Team eine Gemeinschaft wird, die zusammen kämpft, die Rückschläge und Niederlagen überwinden kann, ob aus dem Team eine Gemeinschaft wird, die über das rein Sportliche hinaus auch in den Krisen und Niederlagen des Lebens füreinander da ist – das ist alles Geschenk.

Jeder von uns sieht es an der Gemeinschaft von Eltern und Kindern. Wir haben unsere Eltern nicht gewählt und doch liebten wir sie von der ersten Sekunde unseres Lebens an – so wie unsere Kinder uns von ihrem ersten Atemzug an geliebt haben und uns Eltern mehr an Liebe gegeben haben, als wir es wohl verdient hatten. Gemeinschaft ist ein Geschenk.

Und so klingt es in diesem Abschnitt aus dem Philipperbrief: Als habe Paulus, der in die Gefangenschaft geworfen wurde, wieder Halt gefunden hat. Als habe der aus seinem Leben Gefallene wieder festen Grund unter den Füßen. Als betrachtete er sein Leben nicht im Schatten von Gefängnis und Schwert, sondern im tröstlichen, ermutigenden Licht des Evangeliums. Das Evangelium begründet die Gemeinschaft zwischen Paulus und den Philippern. Durch das Evangelium teilen sie die Gnade und sind durch Jesus Christus verbunden. Bei uns selbst ist es nicht anders. Seit unserer Taufe auf Jesu Namen sind wir Teil unserer Gemeinde und der weltweiten Gemeinschaft der Christen. In jeder Feier des Abendmahles bekräftigen wir, dass wir mit Jesus Christus und untereinander verbunden bleiben.

Aber: Wenn ich mich nicht sehr täusche, denken wir selten über den Wert unserer Gemeinschaft nach. Wir kämen – glaube ich – auch kaum auf die Idee, für unsere Gemeinde dankbar zu sein. Lieber sprechen wir über das, was uns hier fehlt.
Und: Wichtiger als die Gemeinschaft ist uns unsere eigene Freiheit, unsere Unabhängigkeit, unsere Eigenständigkeit. Aber vielleicht lässt sich das jetzt von Paulus lernen: Wieder aufmerksam für das zu werden, was uns trägt. Die Gemeinschaft der Glaubenden. Und widerständig zu werden gegen enttäuschende und entmutigende Erfahrungen in unserem Leben.

Unsere Erfahrungen sind andere als die des Paulus. Wir kennen die Situation eines Gefangenen nicht wirklich. Aber wir wissen, was es heißt, wenn vieles, was wir uns vom Leben erhofft haben, unerfüllt zu bleiben scheint. Manchmal spüren wir den Druck von Anforderungen und Erwartungen, die uns bedrücken und die Lebensfreude rauben. Niederlagen und Misserfolge belasten uns, lassen Unruhe, Unsicherheit und Unfrieden in uns wachsen, verunsichern und entmutigen uns.

Paulus kann dem widerstehen. Er lässt sich von solchen Ängsten nicht gefangen nehmen. Denn er weiß, was ihn trägt, zu welcher Gemeinschaft er gehört. Deshalb kann er diese große Dankbarkeit für seine Philipper zeigen. Deshalb leuchtet diese Freude aneinander in seinem Leben auf. Deshalb wächst in ihm die Zuversicht, dass „der in euch angefangen hat das gute Werk, der wird's auch vollenden”. Gott wird vollenden, was er mit Paulus und den Philippern begonnen hat. Sie werden Menschen sein, deren Leben vollendet ist, deren Leben Gott lobt. Darauf vertraut er, das macht ihn, den Gefangenen stark in den Untiefen seines Lebens.

Ob diese Erfahrung und dieser Glaube auch andere stärken kann? Rembrandt jedenfalls scheint das zu glauben. Viele Jahre nach diesem ersten Paulus-Bild hat Rembrandt ein neues Paulusbild geschaffen, dieses Mal für sich selbst. Im „Selbstporträt als Apostel Paulus” identifiziert er sich mit Paulus, mit dessen Erfahrungen und Glauben. Wieder dominieren die dunklen Farben. Sie stehen für die Wunden Rembrandts, die ihm das Leben geschlagen hat, für seine Niederlagen, für seinen geschäftlichen Misserfolg. Rembrandt zeigt uns wieder das Schwert, das Symbol für die ungewisse Zukunft und die Schrift, den festen Grund. Und wie bei „Paulus im Gefängnis” ist auch im „Selbstporträt als Apostel Paulus” das Gesicht des Porträtierten vom Licht erhellt. So, als leuchteten in Rembrandts dunklen Stunden plötzlich die Dankbarkeit, die Freude und die Zuversicht des Paulus auf und stärkten und ermutigten ihn. Und geben ihm innere Ruhe und seinen Frieden. Ich bin überzeugt: Die Erfahrung und der Glaube des Paulus, sie können auch bei uns aufleuchten, uns stärken und uns wie Rembrandt den Frieden erfahren lassen, der höher ist als alle Vernunft. Er bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Perikope
23.10.2016
1,3-11