"Leben in dieser Welt – und doch ganz anders" - Predigt über 1. Petrus 3, 8-17 von Matthias Riemenschneider,
3,8
8 Endlich aber seid allesamt gleich gesinnt, mitleidig, brüderlich, barmherzig, demütig.
9 Vergeltet nicht Böses mit Bösem oder Scheltwort mit Scheltwort, sondern segnet vielmehr, weil ihr dazu berufen seid, dass ihr den Segen ererbt.
10 Denn »wer das Leben lieben und gute Tage sehen will, der hüte seine Zunge, dass sie nichts Böses rede, und seine Lippen, dass sie nicht betrügen.
11 Er wende sich ab vom Bösen und tue Gutes; er suche Frieden und jage ihm nach.
12 Denn die Augen des Herrn sehen auf die Gerechten, und seine Ohren hören auf ihr Gebet; das Angesicht des Herrn aber steht wider die, die Böses tun« (Psalm 34,13-17).
13 Und wer ist's, der euch schaden könnte, wenn ihr dem Guten nacheifert?
14 Und wenn ihr auch leidet um der Gerechtigkeit willen, so seid ihr doch selig. Fürchtet euch nicht vor ihrem Drohen und erschreckt nicht;
15 heiligt aber den Herrn Christus in euren Herzen.
[15b Seid allezeit bereit zur Verantwortung vor jedermann, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die in euch ist,
16 und das mit Sanftmut und Gottesfurcht, und habt ein gutes Gewissen, damit die, die euch verleumden, zuschanden werden, wenn sie euren guten Wandel in Christus schmähen.
17 Denn es ist besser, wenn es Gottes Wille ist, dass ihr um guter Taten willen leidet als um böser Taten willen.]
Liebe Gemeinde,
I.
unseren Predigttext aus dem 1. Petrusbrief haben wir eben in der Lesung der Epistel gehört. „Mahnungen an die Gemeinde“ ist in der Lutherbibel die Überschrift für diesen Abschnitt. Ich weiß nicht, wie es Ihnen beim Hören dieses Textes ergangen ist? Konnten Sie aufmerksam zuhören – oder waren Sie merkwürdig berührt von diesen Ermahnungen, die ja gleichzeitig Erwartungen an einen Christenmenschen sind?
‚Seid … geschwisterlich, barmherzig, demütig. --- Vergeltet nicht Böses mit Bösem … --- Seid allezeit bereit zur Verantwortung vor jedermann … --- Und wenn ihr auch leidet um der Gerechtigkeit willen, so seid ihr doch selig.‘
Das sind schon starke Worte und man kann aus ihnen einen hohen moralischen Anspruch heraushören. Aber bevor wir die Moral dieser Worte hören, sollten wir den Glauben erfassen. Den Glauben an Jesus Christus, den der Verfasser des 1. Petrusbriefes weitergeben möchte als Trost und Lebenshilfe.
Er richtet seinen Brief an die auserwählten Fremden, die verstreut wohnen in den kleinasiatischen Provinzen des römischen Reiches, und die dennoch von Gott, dem Vater ausersehen sind durch die Heiligung des Geistes. (1. Petrus 1,1)
Auserwählt von Gott – und doch fremd in dieser Welt – so versteht der Verfasser die Lebenswelt der Christen, an die er schreibt.
II.
„Ich glaube nicht an Gott, aber ich vermisse ihn. Das ist meine Antwort auf einschlägige Fragen.“ Mit diesen Worten beginnt Julian Barnes seinen Roman ‚Nichts, was man fürchten müsste‘.
„Ich glaube nicht an Gott, aber ich vermisse ihn.“ Vordergründig handelt der Roman von der Auseinandersetzung mit Sterben und Tod. Hinter dieser Auseinandersetzung steht aber für den Suchenden die tiefgründige Frage nach dem Sinn des Lebens und der Beheimatung seines Ichs in einer inneren Welt. Zu dieser inneren Welt erhält er keinen Zugang, weil für ihn der Blick über die Grenzen des Lebens so merkwürdig verschlossen ist. Auch hat man den Eindruck, dass der Protagonist des Romans in dieser Welt eher fremd und unbeheimatet ist.
Was braucht es, dass wir uns in unserem Leben wohl fühlen können, in dieser Welt zu Hause sind und für unser inneres und äußeres Ich eine Heimat haben?
Im Gegensatz zu dem Romanautor Julian Barnes ist es für den Verfasser unseres Predigttextes gerade der Glaube an Gott, der zu einem Leben in dieser Welt befähigt – und gleichzeitig zu einem anderen Leben führt, als dies die Gesetze dieser Welt nahelegen. Dabei ist der christliche Glaube keine rosarote Brille, die eine verklärte Sicht auf die Realitäten der Welt verleiht. Auch das Leben der Gläubigen verläuft in einem spannungsvollen Nebeneinander von guten und schlechten Erfahrungen, von freier Entfaltung und Verfolgung, von einem reinen Gewissen und der Anfeindung durch andere, durch die Begegnung mit Bösem und der Kraft des göttlichen Segens.
Für den Verfasser des 1. Petrusbriefs ist Jesus Christus das Abbild eines gelingenden Lebens in dieser Welt. Zu diesem Abbild gehören das liebende, heilende, Gewalt durchbrechende und segnende Handeln Jesu. Genauso gehören aber auch seine Erfahrungen dazu, verleumdet, verfolgt, gefoltert und schließlich unschuldig getötet worden zu sein. So vielschichtig wie im Leben Jesu das Abbild des gelingenden Lebens zu erkennen ist, so vielschichtig ist auch unsere menschliche Existenz auf dieser Erde. Gutes und Schlechtes stehen da nebeneinander, Erfahrungen der Freude und der Fülle, genauso wie Sorgen, Ängste und Ausweglosigkeit.
III.
Das Leben der Gläubigen unterscheidet sich in diesen vielfältigen Erfahrungen nicht von dem Leben der Menschen, die keinen Glauben haben. Und doch ist bei ihnen etwas anders.
In unserem Abschnitt heißt es: „12Denn die Augen des Herrn sehen auf die Gerechten, und seine Ohren hören auf ihr Gebet; das Angesicht des Herrn aber steht wider die, die Böses tun.“
Es ist Gottes Zuwendung, die die Menschen in ihrer Hinwendung zum Glauben erfahren. Eine Zuwendung, die in der täglichen Lebenspraxis als Stärkung und Hilfe erfahren wird.
In der Geste des Segens wird diese Zuwendung spürbar. Es sind oft nur kurze Momente, in denen wir dies erfahren; und dennoch sind diese kurzen Momente geprägt von einer besonderen Intensität, die über lange Zeit zu spüren ist.
Der Theologe Fulbert Steffensky beschreibt eine Erfahrung aus seinem Leben, in der er den Segen als ein Moment besonderen Zuspruchs erfahren hat. Im Jahr 1960 war er zu einem Aufenthalt in Israel. In dieser Zeit war es für einen Deutschen noch in keiner Weise selbstverständlich, nach Israel zu reisen und in diesem Land Kontakte zu knüpfen. Steffensky freundete sich dennoch mit einem Israeli in seinem Alter an, der das Vernichtungslager Auschwitz überlebt hatte. Steffensky beschreibt die Begegnung als eine Freundschaft, in der die Partner nicht nur sie selber waren, sondern auch für ihre Herkunft standen: der eine aus dem Land der Opfer, der andere aus dem Land der Henker.
Aus purem Zufall kam es, dass beide zur gleichen Zeit nach Deutschland flogen. Kurz vor der Landung zog der Freund sein Notizbuch aus der Tasche, riss eine Seite heraus, schrieb ein paar Worte darauf und steckte sie ihm zu. „Gott behüte Dich!“ hatte er darauf geschrieben. Mehr als 30 Jahre später, so bekannte Fulbert Steffensky, lag dieses Notizblatt noch immer auf seinem Schreibtisch.
Was hatte dieser Freund gemacht, der sich selber als Atheisten bezeichnete?
Zuerst hat ihn der bevorstehende Abschied nicht stumm gelassen. Er hat ihn in Worte und in eine Geste gerettet. Eine Geste, in der diese junge Freundschaft mit ihren Wünschen, Hoffnungen und Gefühlen eine Gestalt gewinnt.
Und er hat sich dazu Worte geliehen, die nicht seine eigenen waren. Als Atheist, als der er sich bezeichnete, schrieb er: „Gott behüte Dich!“ Das scheint widersprüchlich zu sein, genauso widersprüchlich wie der Umstand, dass ein Shoa-Überlebender einen Deutschen segnet. Und dennoch nimmt dieser Widerspruch dem Segen nicht seine Kraft.
Der Segen ist eine Handlung, die möglich wird, weil zwei Menschen von sich selber absehen. Der Segnende und der Gesegnete.
Der Gesegnete sieht von sich ab: Er erlaubt sich das Fallenlassen in eine Fülle, die er sich nicht selber erarbeiten muss. Das Versprechen dieser Fülle gilt gegen alle Halbheiten, Zweifel und Irrtümer des eigenen Lebens. Man muss sich nicht fragen, womit habe ich das verdient? Es reicht, der Geste und ihrem Versprechen zu vertrauen. Der Segen ist vielleicht die dichteste Glaubensäußerung in unserer Glaubenstradition, weil dort erfahrbar wird, was Gnade ist: - ein Geschenk zu erhalten, ohne eine Gegenleistung zu erbringen; - sich nicht selber erarbeiten zu müssen, wovon man wirklich lebt.
Ebenso sieht der Segnende von sich ab: er gibt etwas, das ihm nicht gehört und er verspricht etwas, dass er nicht selber erfüllen muss. Wer segnet, muss ein schlechter Buchhalter sein, weil er mehr ausgibt, als er je einnehmen kann. Auch der Segnende lässt sich Fallen in die Sprache und den Gestus, der größer ist als er selbst. Der Segen beruft sich auf Gott. Wer sich auf Gott beruft, der braucht nicht selber Gott zu sein.
Der Segnende muss nicht für die Ganzheit stehen, die er verspricht. Er kann selber auch schwach, fehlbar, angreifbar und krank sein. Er muss weder für sich noch für die Welt Rechenschaft ablegen. Deshalb kann er auch sterben, ohne dass daran die ganze Welt zerbricht.
Dies unterscheidet einen Menschen in der Nachfolge Christi von dem Protagonisten in dem Roman von Julian Barnes, der sich mit der Möglichkeit des eigenen Sterbens so unendlich abmüht, weil die gesamte Verantwortung für sein [gelingendes] Leben auf den eigenen, schwachen Schultern ruht.
Der Segen ist die Grundgeste in der jüdischen und christlichen Tradition. In ihm ist in komprimierter Form das gesamte Bild des Menschen im Angesicht Gottes enthalten: er empfängt, was er sich nicht selber verdient hat; und er spendet, was ihm nicht gehört.
IV.
„9Vergeltet nicht Böses mit Bösem oder Scheltwort mit Scheltwort, sondern segnet vielmehr, weil ihr dazu berufen seid, dass ihr den Segen ererbt.“
Mit den Überlegungen über die Bedeutung des Segens wird vielleicht besser verständlich, dass diese Worte nicht eine moralische Ermahnung für ein besseres Leben enthalten. Vielmehr ist in diesem ganzen Abschnitt unseres heutigen Bibeltextes ein Lebensprinzip benannt, mit dem Christen ihr Leben in dieser Welt gestalten können. Ein Lebensprinzip, mit dem Menschen im Vertrauen auf Jesus Christus die Gesetze dieser Welt mit ihren eigenen Glaubensprinzipien neu gestalten. Der Segen ist nicht an ein bestimmtes Amt gebunden, sondern allen Christen übertragen. Und egal, wer ihn spendet, er ist immer und in ganzer Weise Gottes Segen – und als dieser uneingeschränkt wirksam.
Der Segen ist auch nicht spektakulär, sondern ganz alltäglich. Aber in dieser Alltäglichkeit muss man ihn trotzdem üben. Ich möchte mit meinen Gedanken noch einmal auf Fulbert Steffensky zurückgreifen.
Er berichtet, dass seine Mutter jeden Morgen vor dem Schulweg ihren Kindern ein Kreuzzeichen auf die Stirn machte. Sie tat es nicht in der Ergriffenheit, wie der israelische Freund es tat, sondern eher beiläufig, alltäglich, oder wie Steffensky sagt: „mit halbem Herzen“. Aber wenn eines der Kinder für länger Abschied nahm, dann war in dieser Geste ihre ganze Liebe und Aufmerksamkeit, aber auch ihre Sorge und ihre Wünsche enthalten. Die Form war nicht mehr Formel, sondern die Seele war in sie geflossen. Was sie alltäglich nur mit halbem Herzen tat, in der Stunde des Abschieds konnte sie es mit ganzem Herzen tun. So ist das Alltägliche die notwendige Vorbereitung für das Besondere. Man kann auch im Ernstfall die Geste nicht erst erfinden, wenn man sie braucht. Das ist genauso, wie man auch nicht mehr schwimmen lernen kann, wenn man am Ertrinken ist.
V.
Die Geste des Segnens ist ein Teil dieser Welt – und gleichzeitig weist sie über die Welt hinaus. Im Segen ist ein Hinweis auf die Zukunft enthalten, an der wir dereinst werden teilhaben dürfen.
Ich weiß, dass für viele regelmäßige Gottesdienstbesucher der Segen ein wichtiger Teil im Gottesdienst ist. Mir selber geht es auch so. Wenn mein kritischer Verstand mit manchem, was gesagt wurde oder wir gesungen haben, nicht einverstanden ist, dann finde ich in den Worten des Segens wieder Versöhnung, weil damit nicht nur mein Verstand, sondern auch meine Seele angesprochen wird.
Dieser Segen verdammt uns aber nicht zur Passivität, sondern wir werden durch ihn auch eingeladen, die Zukunft, die uns verheißen ist, mitzugestalten.
Wir werden gleich beim Abendmahl das Sakrament der Vergebung miteinander feiern. Dies Sakrament der Vergebung ist auf zwei Richtungen hin angelegt: auf den Frieden mit Gott und die Vergebung unter uns Menschen. Am Schluss der Abendmahlsfeier werden dann die Segensworte gesprochen: „Gehet hin im Frieden des Herrn.“
So wie wir den Frieden Gottes in der Kommunion empfangen haben, so sind wir auch befähigt, diesen Frieden hinaus in den Alltag und in die Welt zu tragen. So können wir mit dazu beitragen, dass dieser Frieden nicht nur uns zu Gute kommt, sondern allen Menschen, die mit uns leben.
Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.
Literatur:
· Julian Barnes, Nichts, was man fürchten müsste, Kiepenhauer&Witsch 2010
· Jörg Conrad, Hoffnung ausatmen. Meditation zu 1. Petr 3, 8 – 15a. In: GPM 66/3, 2012, S. 319-324.
· Fulbert Steffensky, Segnen. Gedanken zu einer Geste. In: PTh 82, 1993, S. 2-11.
· Ders., Geben, was wir nicht haben. …
· Christoph Müller, Segens- und Sendungsworte, Handreichung hrsg. von der Deutschschweizerischen Liturgiekommission.
www.liturgiekommission.ch/Orientierung/II_G_05_Sendung_Segen.pdf
9 Vergeltet nicht Böses mit Bösem oder Scheltwort mit Scheltwort, sondern segnet vielmehr, weil ihr dazu berufen seid, dass ihr den Segen ererbt.
10 Denn »wer das Leben lieben und gute Tage sehen will, der hüte seine Zunge, dass sie nichts Böses rede, und seine Lippen, dass sie nicht betrügen.
11 Er wende sich ab vom Bösen und tue Gutes; er suche Frieden und jage ihm nach.
12 Denn die Augen des Herrn sehen auf die Gerechten, und seine Ohren hören auf ihr Gebet; das Angesicht des Herrn aber steht wider die, die Böses tun« (Psalm 34,13-17).
13 Und wer ist's, der euch schaden könnte, wenn ihr dem Guten nacheifert?
14 Und wenn ihr auch leidet um der Gerechtigkeit willen, so seid ihr doch selig. Fürchtet euch nicht vor ihrem Drohen und erschreckt nicht;
15 heiligt aber den Herrn Christus in euren Herzen.
[15b Seid allezeit bereit zur Verantwortung vor jedermann, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die in euch ist,
16 und das mit Sanftmut und Gottesfurcht, und habt ein gutes Gewissen, damit die, die euch verleumden, zuschanden werden, wenn sie euren guten Wandel in Christus schmähen.
17 Denn es ist besser, wenn es Gottes Wille ist, dass ihr um guter Taten willen leidet als um böser Taten willen.]
Liebe Gemeinde,
I.
unseren Predigttext aus dem 1. Petrusbrief haben wir eben in der Lesung der Epistel gehört. „Mahnungen an die Gemeinde“ ist in der Lutherbibel die Überschrift für diesen Abschnitt. Ich weiß nicht, wie es Ihnen beim Hören dieses Textes ergangen ist? Konnten Sie aufmerksam zuhören – oder waren Sie merkwürdig berührt von diesen Ermahnungen, die ja gleichzeitig Erwartungen an einen Christenmenschen sind?
‚Seid … geschwisterlich, barmherzig, demütig. --- Vergeltet nicht Böses mit Bösem … --- Seid allezeit bereit zur Verantwortung vor jedermann … --- Und wenn ihr auch leidet um der Gerechtigkeit willen, so seid ihr doch selig.‘
Das sind schon starke Worte und man kann aus ihnen einen hohen moralischen Anspruch heraushören. Aber bevor wir die Moral dieser Worte hören, sollten wir den Glauben erfassen. Den Glauben an Jesus Christus, den der Verfasser des 1. Petrusbriefes weitergeben möchte als Trost und Lebenshilfe.
Er richtet seinen Brief an die auserwählten Fremden, die verstreut wohnen in den kleinasiatischen Provinzen des römischen Reiches, und die dennoch von Gott, dem Vater ausersehen sind durch die Heiligung des Geistes. (1. Petrus 1,1)
Auserwählt von Gott – und doch fremd in dieser Welt – so versteht der Verfasser die Lebenswelt der Christen, an die er schreibt.
II.
„Ich glaube nicht an Gott, aber ich vermisse ihn. Das ist meine Antwort auf einschlägige Fragen.“ Mit diesen Worten beginnt Julian Barnes seinen Roman ‚Nichts, was man fürchten müsste‘.
„Ich glaube nicht an Gott, aber ich vermisse ihn.“ Vordergründig handelt der Roman von der Auseinandersetzung mit Sterben und Tod. Hinter dieser Auseinandersetzung steht aber für den Suchenden die tiefgründige Frage nach dem Sinn des Lebens und der Beheimatung seines Ichs in einer inneren Welt. Zu dieser inneren Welt erhält er keinen Zugang, weil für ihn der Blick über die Grenzen des Lebens so merkwürdig verschlossen ist. Auch hat man den Eindruck, dass der Protagonist des Romans in dieser Welt eher fremd und unbeheimatet ist.
Was braucht es, dass wir uns in unserem Leben wohl fühlen können, in dieser Welt zu Hause sind und für unser inneres und äußeres Ich eine Heimat haben?
Im Gegensatz zu dem Romanautor Julian Barnes ist es für den Verfasser unseres Predigttextes gerade der Glaube an Gott, der zu einem Leben in dieser Welt befähigt – und gleichzeitig zu einem anderen Leben führt, als dies die Gesetze dieser Welt nahelegen. Dabei ist der christliche Glaube keine rosarote Brille, die eine verklärte Sicht auf die Realitäten der Welt verleiht. Auch das Leben der Gläubigen verläuft in einem spannungsvollen Nebeneinander von guten und schlechten Erfahrungen, von freier Entfaltung und Verfolgung, von einem reinen Gewissen und der Anfeindung durch andere, durch die Begegnung mit Bösem und der Kraft des göttlichen Segens.
Für den Verfasser des 1. Petrusbriefs ist Jesus Christus das Abbild eines gelingenden Lebens in dieser Welt. Zu diesem Abbild gehören das liebende, heilende, Gewalt durchbrechende und segnende Handeln Jesu. Genauso gehören aber auch seine Erfahrungen dazu, verleumdet, verfolgt, gefoltert und schließlich unschuldig getötet worden zu sein. So vielschichtig wie im Leben Jesu das Abbild des gelingenden Lebens zu erkennen ist, so vielschichtig ist auch unsere menschliche Existenz auf dieser Erde. Gutes und Schlechtes stehen da nebeneinander, Erfahrungen der Freude und der Fülle, genauso wie Sorgen, Ängste und Ausweglosigkeit.
III.
Das Leben der Gläubigen unterscheidet sich in diesen vielfältigen Erfahrungen nicht von dem Leben der Menschen, die keinen Glauben haben. Und doch ist bei ihnen etwas anders.
In unserem Abschnitt heißt es: „12Denn die Augen des Herrn sehen auf die Gerechten, und seine Ohren hören auf ihr Gebet; das Angesicht des Herrn aber steht wider die, die Böses tun.“
Es ist Gottes Zuwendung, die die Menschen in ihrer Hinwendung zum Glauben erfahren. Eine Zuwendung, die in der täglichen Lebenspraxis als Stärkung und Hilfe erfahren wird.
In der Geste des Segens wird diese Zuwendung spürbar. Es sind oft nur kurze Momente, in denen wir dies erfahren; und dennoch sind diese kurzen Momente geprägt von einer besonderen Intensität, die über lange Zeit zu spüren ist.
Der Theologe Fulbert Steffensky beschreibt eine Erfahrung aus seinem Leben, in der er den Segen als ein Moment besonderen Zuspruchs erfahren hat. Im Jahr 1960 war er zu einem Aufenthalt in Israel. In dieser Zeit war es für einen Deutschen noch in keiner Weise selbstverständlich, nach Israel zu reisen und in diesem Land Kontakte zu knüpfen. Steffensky freundete sich dennoch mit einem Israeli in seinem Alter an, der das Vernichtungslager Auschwitz überlebt hatte. Steffensky beschreibt die Begegnung als eine Freundschaft, in der die Partner nicht nur sie selber waren, sondern auch für ihre Herkunft standen: der eine aus dem Land der Opfer, der andere aus dem Land der Henker.
Aus purem Zufall kam es, dass beide zur gleichen Zeit nach Deutschland flogen. Kurz vor der Landung zog der Freund sein Notizbuch aus der Tasche, riss eine Seite heraus, schrieb ein paar Worte darauf und steckte sie ihm zu. „Gott behüte Dich!“ hatte er darauf geschrieben. Mehr als 30 Jahre später, so bekannte Fulbert Steffensky, lag dieses Notizblatt noch immer auf seinem Schreibtisch.
Was hatte dieser Freund gemacht, der sich selber als Atheisten bezeichnete?
Zuerst hat ihn der bevorstehende Abschied nicht stumm gelassen. Er hat ihn in Worte und in eine Geste gerettet. Eine Geste, in der diese junge Freundschaft mit ihren Wünschen, Hoffnungen und Gefühlen eine Gestalt gewinnt.
Und er hat sich dazu Worte geliehen, die nicht seine eigenen waren. Als Atheist, als der er sich bezeichnete, schrieb er: „Gott behüte Dich!“ Das scheint widersprüchlich zu sein, genauso widersprüchlich wie der Umstand, dass ein Shoa-Überlebender einen Deutschen segnet. Und dennoch nimmt dieser Widerspruch dem Segen nicht seine Kraft.
Der Segen ist eine Handlung, die möglich wird, weil zwei Menschen von sich selber absehen. Der Segnende und der Gesegnete.
Der Gesegnete sieht von sich ab: Er erlaubt sich das Fallenlassen in eine Fülle, die er sich nicht selber erarbeiten muss. Das Versprechen dieser Fülle gilt gegen alle Halbheiten, Zweifel und Irrtümer des eigenen Lebens. Man muss sich nicht fragen, womit habe ich das verdient? Es reicht, der Geste und ihrem Versprechen zu vertrauen. Der Segen ist vielleicht die dichteste Glaubensäußerung in unserer Glaubenstradition, weil dort erfahrbar wird, was Gnade ist: - ein Geschenk zu erhalten, ohne eine Gegenleistung zu erbringen; - sich nicht selber erarbeiten zu müssen, wovon man wirklich lebt.
Ebenso sieht der Segnende von sich ab: er gibt etwas, das ihm nicht gehört und er verspricht etwas, dass er nicht selber erfüllen muss. Wer segnet, muss ein schlechter Buchhalter sein, weil er mehr ausgibt, als er je einnehmen kann. Auch der Segnende lässt sich Fallen in die Sprache und den Gestus, der größer ist als er selbst. Der Segen beruft sich auf Gott. Wer sich auf Gott beruft, der braucht nicht selber Gott zu sein.
Der Segnende muss nicht für die Ganzheit stehen, die er verspricht. Er kann selber auch schwach, fehlbar, angreifbar und krank sein. Er muss weder für sich noch für die Welt Rechenschaft ablegen. Deshalb kann er auch sterben, ohne dass daran die ganze Welt zerbricht.
Dies unterscheidet einen Menschen in der Nachfolge Christi von dem Protagonisten in dem Roman von Julian Barnes, der sich mit der Möglichkeit des eigenen Sterbens so unendlich abmüht, weil die gesamte Verantwortung für sein [gelingendes] Leben auf den eigenen, schwachen Schultern ruht.
Der Segen ist die Grundgeste in der jüdischen und christlichen Tradition. In ihm ist in komprimierter Form das gesamte Bild des Menschen im Angesicht Gottes enthalten: er empfängt, was er sich nicht selber verdient hat; und er spendet, was ihm nicht gehört.
IV.
„9Vergeltet nicht Böses mit Bösem oder Scheltwort mit Scheltwort, sondern segnet vielmehr, weil ihr dazu berufen seid, dass ihr den Segen ererbt.“
Mit den Überlegungen über die Bedeutung des Segens wird vielleicht besser verständlich, dass diese Worte nicht eine moralische Ermahnung für ein besseres Leben enthalten. Vielmehr ist in diesem ganzen Abschnitt unseres heutigen Bibeltextes ein Lebensprinzip benannt, mit dem Christen ihr Leben in dieser Welt gestalten können. Ein Lebensprinzip, mit dem Menschen im Vertrauen auf Jesus Christus die Gesetze dieser Welt mit ihren eigenen Glaubensprinzipien neu gestalten. Der Segen ist nicht an ein bestimmtes Amt gebunden, sondern allen Christen übertragen. Und egal, wer ihn spendet, er ist immer und in ganzer Weise Gottes Segen – und als dieser uneingeschränkt wirksam.
Der Segen ist auch nicht spektakulär, sondern ganz alltäglich. Aber in dieser Alltäglichkeit muss man ihn trotzdem üben. Ich möchte mit meinen Gedanken noch einmal auf Fulbert Steffensky zurückgreifen.
Er berichtet, dass seine Mutter jeden Morgen vor dem Schulweg ihren Kindern ein Kreuzzeichen auf die Stirn machte. Sie tat es nicht in der Ergriffenheit, wie der israelische Freund es tat, sondern eher beiläufig, alltäglich, oder wie Steffensky sagt: „mit halbem Herzen“. Aber wenn eines der Kinder für länger Abschied nahm, dann war in dieser Geste ihre ganze Liebe und Aufmerksamkeit, aber auch ihre Sorge und ihre Wünsche enthalten. Die Form war nicht mehr Formel, sondern die Seele war in sie geflossen. Was sie alltäglich nur mit halbem Herzen tat, in der Stunde des Abschieds konnte sie es mit ganzem Herzen tun. So ist das Alltägliche die notwendige Vorbereitung für das Besondere. Man kann auch im Ernstfall die Geste nicht erst erfinden, wenn man sie braucht. Das ist genauso, wie man auch nicht mehr schwimmen lernen kann, wenn man am Ertrinken ist.
V.
Die Geste des Segnens ist ein Teil dieser Welt – und gleichzeitig weist sie über die Welt hinaus. Im Segen ist ein Hinweis auf die Zukunft enthalten, an der wir dereinst werden teilhaben dürfen.
Ich weiß, dass für viele regelmäßige Gottesdienstbesucher der Segen ein wichtiger Teil im Gottesdienst ist. Mir selber geht es auch so. Wenn mein kritischer Verstand mit manchem, was gesagt wurde oder wir gesungen haben, nicht einverstanden ist, dann finde ich in den Worten des Segens wieder Versöhnung, weil damit nicht nur mein Verstand, sondern auch meine Seele angesprochen wird.
Dieser Segen verdammt uns aber nicht zur Passivität, sondern wir werden durch ihn auch eingeladen, die Zukunft, die uns verheißen ist, mitzugestalten.
Wir werden gleich beim Abendmahl das Sakrament der Vergebung miteinander feiern. Dies Sakrament der Vergebung ist auf zwei Richtungen hin angelegt: auf den Frieden mit Gott und die Vergebung unter uns Menschen. Am Schluss der Abendmahlsfeier werden dann die Segensworte gesprochen: „Gehet hin im Frieden des Herrn.“
So wie wir den Frieden Gottes in der Kommunion empfangen haben, so sind wir auch befähigt, diesen Frieden hinaus in den Alltag und in die Welt zu tragen. So können wir mit dazu beitragen, dass dieser Frieden nicht nur uns zu Gute kommt, sondern allen Menschen, die mit uns leben.
Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.
Literatur:
· Julian Barnes, Nichts, was man fürchten müsste, Kiepenhauer&Witsch 2010
· Jörg Conrad, Hoffnung ausatmen. Meditation zu 1. Petr 3, 8 – 15a. In: GPM 66/3, 2012, S. 319-324.
· Fulbert Steffensky, Segnen. Gedanken zu einer Geste. In: PTh 82, 1993, S. 2-11.
· Ders., Geben, was wir nicht haben. …
· Christoph Müller, Segens- und Sendungsworte, Handreichung hrsg. von der Deutschschweizerischen Liturgiekommission.
www.liturgiekommission.ch/Orientierung/II_G_05_Sendung_Segen.pdf
Perikope