Leben in einer Aura von Christusminne und Menschenliebe - Predigt zu Römer 5, 1 - 5 von Paul Geiß
5,1-5

Leben in einer Aura von Christusminne und Menschenliebe - Predigt zu Römer 5, 1 - 5 von Paul Geiß

Ich staune

Liebe Gemeinde,

jedes Mal, wenn ich mit Worten aus dem Römerbrief des Apostels Paulus konfrontiert bin, spüre ich in mir ein Staunen vor der gewaltigen Bedeutung dieser Gedanken.

Der Römerbrief ist eine Art Katechismus für die Gemeinde und nicht nur für die Gemeinde in Rom, die aus römischen Bürgern, aus Heiden und Juden, aus Sklaven und Freien, aus einfachen und gebildeten Menschen besteht und vor allem aus einem bunten Gemisch von Menschen, die vom Glauben an Jesus Christus bewegt sind, getaufte Christen, Menschen auf dem Weg zum Glauben und eben vielen Menschen, die mit Hilfe ihres Glaubens ihren Alltag bewältigen wollen oder müssen.

Die Sätze des Paulus auch für uns 2000 Jahre später, wir sind inzwischen weltweit über 2 Milliarden Christen, bunt, gemischt, mit tausenden von verschiedenen Sprachen und kaum vergleichbaren Lebenswelten.

Heute gelten diese Worte uns hier in der Kirche. Wir beziehen sie einfach, klar und deutlich auf uns hier und heute, auf unsere Erfahrungen und Lebensfragen.

 

Ich lebe in Berlin

Ich lebe in Berlin, einer Großstadt mit Millionen Menschen. Täglich treffe ich auf ein buntes Gemisch aus Menschen vieler Nationen,

Etwa ein Viertel der Bewohner sind Christen, viele sind getauft, aber nicht mehr juristisch Mitglieder einer der christlichen Konfessionen. Dennoch, sind getauft und im christlichen Umfeld aufgewachsen. Viele haben gar keine Beziehung zum Christentum, sind Mitglieder einer anderen Religion oder einer spirituellen Gemeinschaft. Es ist für uns immer wieder eine große Freude in der Nacht der Religionen bei anderen Glaubensgemeinschaften zu Gast zu sein. Da erleben wir dann zum Beispiel eine tief empfundene buddhistische Teezeremonie. Wir machen mit bei einem dem Abendmahl ähnlichen Ritual mit einem Gerstenkloß, den wir teilen in einem Sikh-Tempel.

Paulus sagt: Allen gilt Gottes Wort, Juden und Menschen aus anderen Religionen. Warum, das sage ich später. Und so frage ich mich, was bedeutet das, was Paulus so enthusiastisch beschreibt, für Sie, liebe Gemeinde, für mich und für das bunte Vielvölker- und Multireligionsgemisch in so einer Großstadt?

 

Der Brief an die Römer

Der Brief an die Römer beginnt mit einer thematischen Ansage:

Ich schäme mich des Evangeliums nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die glauben, die Juden zuerst und ebenso die Griechen. Denn darin wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben. (Rö 1, 16, 17)

 

Dann wendet er sich an die heidnischen Griechen, die ja ein natürliches ethisches Gewissen haben und an die Juden, die Gottes Gesetz aus der Thora, den fünf Büchern Mose als Grundlage ihres Lebens kennen und erlernt haben, 613 Gebote sind es, die das Leben eines frommen Juden bestimmen. Es sind, wie es hebräisch heißt Mizwot – feststehende von Gott gegebene Vorschriften für das gesamte Leben. (http://www.payer.de/judentum/jud516.htm)

 

Und alle schaffen es nicht, nach ihren ethischen und religiösen Grundsätzen zu leben, sie sind schlicht schuldig, können ihrem Gewissen und ihrem Gesetz nicht gehorsam bleiben. (Römer 7, 19). Diese Erfahrung machen nicht nur Christen, auch in den anderen Religionsgemeinschaften brennt diese Erfahrung: Unseren Geboten und Vorschriften werde ich nicht immer gerecht.

Was kann man da machen?

 

Jubelworte

Paulus beginnt jetzt zu schwärmen: Wir Christen, wir sind erlöst. Gott hat Jesus Christus gesandt, er wurde durch sein Leben, Sterben und Auferstehen für uns zur Erlösung von unseren Schuldgefühlen und von unserer Schuld. So ist es.

Das nehme wir im Glauben an, meint Paulus und er schreibt Worte des Jubels und der Freude an die Römer, an uns und jetzt hören wir auf die für heutigen Gottesdienst vorgeschlagenen biblischen Worte:

 

Römer 5, 1 Da wir nun gerecht geworden sind durch den Glauben, haben wir Frieden mit Gott durch unsern Herrn Jesus Christus. 2 Durch ihn haben wir auch den Zugang im Glauben zu dieser Gnade, in der wir stehen, und rühmen uns der Hoffnung auf die Herrlichkeit, die Gott geben wird.

3 Nicht allein aber das, sondern wir rühmen uns auch der Bedrängnisse, weil wir wissen, dass Bedrängnis Geduld bringt, 4 Geduld aber Bewährung, Bewährung aber Hoffnung, 5 Hoffnung aber lässt nicht zuschanden werden; denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsre Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist.

 

Das Angebot des Paulus

Das sind sie die gewaltigen Worte, mit deren Umsetzung wir uns ein Leben lang beschäftigen, manchmal mit Erfolg und manchmal mit Scheitern, manchmal in inniger mystischer Verbundenheit, manchmal mit tiefen Zweifeln auf Grund der eigenen Erfahrung von Leid und Ohnmacht. Wir sind, wie Luther sagt, sündige und gerechte Menschen zugleich. (WA 56,347,3–4)

Und dann sagt Paulus deutlich und vernehmlich:

Wir sind gerecht geworden durch den Glauben an Jesus Christus, dadurch erleben wir Frieden, Gnade vor Gott und Hoffnung auf Gottes Herrlichkeit.

Das ist die feste Überzeugung, die Paulus den Christen in Rom mitteilt: Wenn und weil wir an Christus glauben, sind wir gerecht, haben Frieden, leben aus dieser Gnade, hoffen auf Gottes Herrlichkeit in der Zukunft. Wir leben jetzt in der Liebe Gottes und in der Liebe zu unseren Mitmenschen. Solche Liebe tut der Seele gut!

 

Da hat Paulus aber ein großes Fass aufgemacht mit gewaltigen Worten, manchmal so gewaltig, dass sie uns fast kitschig vorkommen. Wahrscheinlich trauen wir den großen Worten nicht so recht, und reden sie klein, wenn wir sie kitschig finden. Denn mit ihnen sind ja diese überwältigenden Gefühle verbunden: Frieden, Liebe, Hoffnung, Zukunft.

In Filmen kommen mir bei rührenden und berührenden Szenen oft Tränen in die Augen, dann wundere ich mich über meine eigenen Gefühlsstürme.

Kitsch beiseite, obwohl diese Worte Glaube, Liebe, Hoffnung, Frieden in aller Munde sind, weiß man doch kaum, wie diese Träume wahr werden können.

 

Da gibt es Friedenskonferenzen und kurz drauf hält sich keiner dran, ob in der Ukraine, in Libyen, in Syrien, in Palästina oder im Jemen. Gewaltige Worte und nichts dahinter. Nationale Interessen und Großmachtphantasien stehen gegen den urmenschlichen Wunsch nach Glück und Erfolg durch Frieden und Liebe als Grundlage des Zusammenlebens.

 

Nüchterner Glaube

Aber auch darüber denkt Paulus nach. Aus seiner Lebenserfahrung weiß er: Ganz so einfach ist es mit dem Glauben, der Liebe und der Hoffnung nicht. Er beschreibt das in ganz nüchternen Worten, aber mit einer gewissen Genugtuung: Wir Christen berufen uns auch auf unsere Anfechtungen, auf unsere Bedrängnisse, wir rühmen uns sogar unserer Bedrängnisse. Denn, so sagt es Paulus: Bedrängnis bringt Geduld, Geduld bringt Bewährung, Bewährung bringt Hoffnung, Anerkennung, Liebe, und das alles lässt uns nicht verzweifeln.

Stimmt das, ist das eine Grunderfahrung unter uns Christen? Ich kann es nur bestätigen: Ja.

 

Isabelle und Julian

In der sechsten Klasse des Gymnasiums begegnete ich ihr, sie war ein gescheites Mädchen die kleine Isabelle, klug und aufgeweckt, hat sich im Religionsunterricht mit wachsender Aufmerksamkeit beteiligt. Ich habe sie gern gemocht, sie wirkte in ihren Fragen immer aufrichtig und beteiligte sich nicht an den klassentypischen Auseinandersetzungen.

In den Jahren danach muss sie eine Gewaltiges durchgemacht haben. In der elften Klasse begegnete sie mir wieder. Sie kam in den Oberstufenkurs Religion. Offensichtlich hatte sich einiges in ihrem Leben verändert. Sie war jetzt ein junger Mann und sagte mir: Sie kennen mich als Isabelle, aber ich habe mich immer als Junge gefühlt, bitte nennen Sie mich Julian. Das war auch so nach entsprechenden Beratungen im Lehrerkollegium vereinbart worden.

Julian machte alle Kurse eifrig mit, fiel durch kluge Fragen und diskussionsfördernde Argumente auf, zuerst in der Einführung in die Bibel, in der theologischen Anthropologie, schließlich in der Ethik der Weltreligionen und dann im Kurs Christliche Ethik. Immer mal wieder blitzte in seinen Fragen und kritischen Beiträgen etwas Trauriges auf, das darauf schließen ließ, dass er mit sich kämpfte, manches nicht verstand und sich mit dem Leben nicht leicht tat. Und manchmal hatten die Lehrerinnen und Lehrer in seinem verzweifelten Nachfragen auch Angst um ihn. Ich habe für ihn oft abends nach dem Unterricht die Hände gefaltet, er wirkte so verletzlich.

Im letzten halben Jahr  vor dem Abitur ging es um theologische Texte, unter anderem dann auch um Luthers „Von der Freiheit eines Christenmenschen“.

Bindung und Freiheit, festhalten oder loslassen, Verantwortung übernehmen, Veränderungen akzeptieren und nach großen Zielen streben in der Bindung an Gottes Wort, das wurden seine Themen. In der mündlichen Abiturprüfung über das Thema Bindung und Freiheit als Christ nach Luthers Schrift bekam er 15 Punkte, die Bestnote.

Ich weiß noch genau, wie mich diese Prüfung erfreut und erschüttert hat bei der Tiefe der existentiellen Auseinandersetzung, um die Julian sichtlich gerungen hat.

Der junge Mann war für mich ein Beispiel für die Stufen, die Paulus beschrieben hat: Bedrängnis, Geduld, Bewährung, Hoffnung. All das ist Schritt für Schritt notwendig, um mit sich und der Welt klar zu kommen.

 

Schicksale

Ich habe so etwas auch in der Gemeinde immer wieder erlebt und bin dankbar dafür, wenn Menschen solche Erfahrungen machen können, denn Bedrängnisse, die begegnen einem jeden Tag, kaum jemand kann sagen, dass er oder sie sich der Bedrängnisse rühme, so etwas macht man meist in der Stille ab und ein einfühlsamer Seelsorger, der seine Gemeinde einigermaßen überschaut, weiß um viele Schicksale.

Da war die alte Frau, die langsam in Demenz abgeglitten ist, weit über 90 Jahre alt. Ihr ziemlich dominanter Mann war schon vor Jahren gestorben. Ihr Sohn war selbst schon alt. Er pflegte sie mit seiner Frau intensiv und versuchte, sie so lange wie möglich im Haus zu halten, in der gewohnten Umgebung.

 

Nachts wurde die Frau oft unruhig, im Sommer am offenen Schlafzimmerfenster sang sie laut, manchmal unverständliche Sätze aus Kirchenliedern. Der Sohn setzte sich dazu und sang mit ihr: Du meine Seele singe, Ich bete an die Macht der Liebe, In Dir ist Freude.

Allmählich beruhigte sich die Frau und konnte wieder einschlafen.

 

Diesen Mann habe ich von Herzen bewundert. Leider konnte die Frau nicht bis zu ihrem Tod zu Hause bleiben, erst ein Pflegeheim und dann das Hospiz, immer wieder ist die Familie zu ihr gegangen und hat am liebsten mit ihr gesungen.

Und ich durfte sie bei der Beerdigung in Gottes Frieden hineingeleiten, den sie so oft in den Gesangbuchliedern bejubelt hatte.

Es war eine Aura von Liebe um diese alte Frau und diese Familie, eine Aura, in der sich alle geborgen gefühlt haben. Das ist eine Wirkung des Heiligen Geistes über die Lieder, die Musik und die Liebe, die alles umfängt. Ja, dann schauen wir heut schon sein Angesicht in der Liebe, die alles umfängt (EG, Ausgabe EKHN, 632, Refrain).

 

Noch einmal Paulus

Ich will es noch einmal sagen nach den Worten des Paulus: Gott erwartet und fördert Gerechtigkeit, dafür setzt er den Menschen den Rahmen. Jesus Christus erwirbt Gnade für uns und für alle Menschen durch sein Opfer, ein Opfer, das Gott annimmt, wir sind gerecht vor Gott aus Genaden wie es in einem alten Kirchenlied heißt (EG 68). Der Heilige Geist bewirkt die Aura der Liebe, die uns umgibt, es ist die Liebe des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.

 

Paulus fasst seine Erklärungen in der jubelnden Gewissheit zusammen, die den Kern seines Glaubens ausmacht:

Römer 8, 38 Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, 39 weder Hohes noch Tiefes noch irgendeine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.

Dieses Wort ist die Grundlage des Gesangbuchliedes 398: In Dir ist Freude. Das ist nach der Melodie und dem Satz eines Madrigals, eine Art Gassenhauer der damaligen Zeit, ein italienisches Tanzlied von Giovanni Gastoldi. Das hat der Thüringische Pfarrer Cyriakus Schneegass um 1598 geistlich neu gedichtet hat, um damit seinen Jubel in der Liebe zu Jesus auszudrücken. Und dieses Lied wollen wir jetzt mit dem gleichen Enthusiasmus gemeinsam singen!

AMEN.

 

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Paul Geiß: 

1.    Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ein sorgfältiges Reflektieren der vielfältigen Schicksale, die mir im Lauf meines Berufs-lebens in Schule, Gemeinde und Supervision begegnet  sind, hat mich veranlasst die Rechtfertigungsbotschaft des Paulus in Beziehung zu setzen zu den vielen Menschen, die mir begegnen, eine Großstadtsituation steht mir vor Augen mit vielen unterschied-lichen Menschen, denen allen die Botschaft des Paulus gilt. Ich hoffe, ich kann die unter-schiedlichsten Menschen mit den Worten des Paulus berühren.

2.    Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Persönliche Meditation, sorgfältige Exegese in neutestamentlicher Sprache und systemati-scher Theologie, Sammeln von Ideen und Fragmenten, stichwortartige Notizen und eine Reflexion der letzten intensiven seelsorgerlichen Begegnungen mit Menschen aus meinem Umfeld oder in Erinnerung an prägende Beispiele aus der Schul- und Gemeindepraxis.

3.    Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Die unmittelbare direkte Beziehung zwischen Glaubensaussagen des Paulus, die mei-ne geworden sind, und meiner Lebenswelt mit ihren Bedrängnissen. Hinzu kommt die notwendige Erkenntnis der Stufen, in denen Bedrängnis und Leiden zu Hoffnung hier und heute und für die Zukunft in Gottes Herrlichkeit jenseits von Zeit und Welt.

4.    Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Ich liebe die peripatetische Predigtentwicklung und die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Zuhören und Reden. Die Predigtcoachbegleitung war neu und beson-ders hilfreich in der Präzisierung der eigenen Gedanken, z. B. sprachliche Hinweise, Ideen zur bildhafteren Sprache, Ermutigung zu einzelnen Beispielen und vor allem die präzise Gliederung und Begleitung Stück für Stück in der Rohfassung, allerdings für mich und auch die Coach ein anstrengender Prozess mit wertvollem Feedback, das es sonst so in der Predigtpraxis des gemeindlichen Alltags kaum gibt.

 

Perikope
Datum 08.03.2020
Bibelbuch: Römer
Kapitel / Verse: 5,1-5