Leben im Schein oder Leben im Wort - Das Beispiel Abrahams. Predigt zu Hebräer 11,8–10 von Ulrich Kappes
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Leben im Schein oder Leben im Wort - Das Beispiel Abrahams. Predigt zu Hebräer 11,8–10 von Ulrich Kappes

Leben im Schein oder Leben im Wort - Das Beispiel Abrahams

Der Philosoph Platon verfasste ein Gleichnis, das vielen aus der Schulzeit bekannt ist. Menschen befinden sich in einer Höhle, in die seitlich von oben Licht scheint. Von hier aus werden Figuren auf die Höhlenwand projiziert. Pflanzen, Tiere, Gegenstände und was auch immer. Die Menschen in der Höhle haben nur diese ihre Höhle und sie meinen, die Gestalten auf ihrer Höhlenwand seien lebendige Gestalten, die es zu betrachten und beurteilen gelte.
Wie vor einer Kinoleinwand schauen sie gebannt auf die Bilder.
Einer von ihnen wird aus der Höhle befreit. Wie in einem Kinogang geht er Schritt für Schritt nach draußen, während die anderen ihren „Film“ sehen. Er ist geblendet und es dauert einige Zeit, bis seine an die Dunkelheit gewöhnten Augen die Welt außerhalb der Höhle wahrnehmen. Er sieht eine einzigartige Ordnung und Schönheit, die in keinem Verhältnis zu den Schattenbildern unten steht.
Als er in die Höhle zurückkehrt, glaubt man ihm kein Wort. Er wird beschimpft und verunglimpft. ‚Du hast geträumt. Du erzählst Märchen. Du bist von Sinnen.’ I1I

Der Philosoph Friedrich Nietzsche hat die Metapher von den „Maulwurfsaugen“ geprägt. Auf einer bestimmten Stufe des Erkennens gäbe es nur diese. I2I

Man mag fragen, ob eine Lebensform, die wesentlich geprägt und bestimmt wird von einem Blick auf einen Screen, einem Bildschirm, und weniger von der realen Welt, unter uns heute eine Abwegigkeit ist. Wie viel an Meinung und Urteil geht von der ‚Fernsehwand’ in unser Denken und Fühlen ein?

Jeder Gottesdienst ist eine Einladung, die Bilder und Werte und Maßstäbe, die wir von unserem Bildschirm erhalten, hinter sich zu lassen. Es gilt, mit dem Evangelium die Logik des Gewohnten zu durchbrechen und – anders als mit weltlichen Augen – die Gestalten der Heiligen Schrift zu sehen und in sich aufzunehmen. Wir werden in die Entscheidung gestellt, das, was viele allgemein gültig nennen, zu übernehmen oder heraus zu treten und mit unseren Vätern und Müttern im Glauben die Gestalten der Schrift als normativ anzunehmen.

Es geht heute um Abraham, darum, Abraham so zu sehen, dass er uns Hilfe und Halt für die kommende Woche ist. „Durch den Glauben wurde Abraham gehorsam … Durch den Glauben ist er ein Fremdling gewesen …“
Die Betrachtung der Gestalt Abrahams heute morgen ist eine Erinnerung daran, was Glauben ist. Natürlich nicht umfassend und erschöpfend, wohl aber in einigen Grundlinien.

Abraham wohnte in der mesopotamischen Stadt Haran. Hier hatte sein Vater Terach einst ein Haus gebaut, nachdem er die Stadt Ur in Chaldäa verlassen hatte. (Gn 11,31) Haran war Abrahams Vaterstadt und das fruchtbare Kulturland Mesopotamien war sein Vaterland. Seine Verwandten waren Bewohner Harans. Das Grab seines Vaters war hier.
„Geh heraus aus deinem Vaterland  und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause  in ein Land, das ich dir zeigen will.“ (Gn 12,1) Da ist Gott und da ist Abraham. Was Glauben ist, worin uns Abraham eine Lichtgestalt des Glaubens ist, wird im Folgenden deutlich.
Zunächst:
Warum gab Abraham alles auf? Warum protestierte er nicht, stellte keine Rückfragen, wohin er denn nun eigentlich gehen soll?
Darüber ist viel gerätselt worden. Jüdische Ausleger haben z. B. gemeint, dass Abraham sowieso aus Haran weggehen wollte, weil er als Anhänger des einzigen und wahren Gottesglaubens, als Monotheist, nicht mehr in einer Stadt der vielen Götter leben wollte. I3I
Warum gab Abraham alles auf?
Man kann es so erklären, dass Abraham ein Mann des Gottvertrauens war und fest darauf vertraute, dass Gott ihm schon beistehen und alles gut gehen würde.
Die Schrift sagt weder das Eine noch das Andere. Es fehlt jede Bemerkung, die uns Abrahams Verhalten plausibel macht.
Ich meine nun, dass gerade das Weggelassene und Nicht-Gesagte seine eigene Sprache hat.
Gott spricht und Abraham geht.
Was ist Glaube? Blicken wir auf Abraham, so ist Glaube eine Bereitschaft sich unter Gottes Willen zu beugen. ‚Es ist so, wie Gott es fügt, uns so nehme ich es an und werde sehen, wie ich damit leben kann.’

Wir wollen eine zweite Eigenschaft von Glauben ermitteln. I4I Sie hängt unmittelbar mit der ersten zusammen, verdeutlicht sie aber noch.
Abraham ist Gott gehorsam. Das ist eine Entscheidung vermutlich gegen seine Familie, gegen den Einspruch der Freunde. Es ist eine Entscheidung gegen den Einspruch der Vernunft. Wie soll das gehen? In deinem Alter und mit deiner Sesshaftigkeit?
Dieses Sich - Entscheiden wird sich ungezählte Male in seinem weiteren Leben wiederholen.  Er trennte sich von Lot, um Streitereien zwischen dessen und seinen Hirten zu vermeiden. Er geht zu dem Priester Melchisedek, der ihn segnet und er geht den schwersten Gang seines Lebens, um Gott den einzigen Sohn Isaak zu opfern.
Im Glauben leben heißt Sich – Entscheiden, permanent sich entscheiden. Man kann geradezu sagen:  Im Glauben leben, heißt, in der Entscheidung zu stehen.
Neutralität, Abwarten, Nichts-Machen das geht nicht.

Wir müssen als Drittes an der Gestalt Abrahams hervor heben, was ihn über den Alten Bund  hinaus hebt und – nicht nur in unserem Predigttext – zu einer Symbolfigur für „Glauben“ nicht nur im Hebräerbrief, sondern  im ganzen Neuen Testament macht.
Das Alte Testament gebraucht das Wort „glauben“ nur wenig. Der Sache nach heißt dies „Gott gehorsam sein“, „Gottes Gebote halten“, den „Bund bewahren“. Das wird nicht selten mit dem Hinweis auf Gottes große Taten begründet, die es dem Volk eigentlich leicht machen sollten, zu Gott zu gehören. ‚Denkt an das Wunder des Schilfmeeres … denkt daran, wie er die Väter in der Wüste mit Wachteln und Manna ernährte, wie er Jerusalem bewahrte …’
Abraham entschied sich nach Gottes Gebot Haran zu verlassen ohne dass es für ihn etwas Sichtbares und Nachweisbares für Gottes Existenz gab. ‚Ist es wahr, dass der lebendige Gott zu dir spricht oder hörst du eine Phantomstimme?’
Abrahams Glauben und der Glauben der Christinnen und Christen ist ein Glaube ohne Hilfsstützen. Wir können uns und niemandem nachweisen, dass es Gott gibt und Christus uns hilft. Wir haben, wie einst Abraham, allein das Wort Gottes, die Stimme Gottes, der wir uns hingeben. Das - äußerlich gesehen – arme und bescheidene Bibelwort nehmen wir an. Das ist es und das muss es allein sein. Insofern ist Abraham eine absolute Leitfigur.
 Und schließlich:
Als Abraham von Bethel aus nach Ägypten zog, fiel überall seine schöne Frau Sara auf. Der Pharao erhielt davon Kunde und Abraham fürchtete um sein Leben. Damit man ihn schonte, machte er offiziell Sara zu seiner Schwester. So hatte der Pharao leichtes Spiel und holte Sara in seinen Palast. Irgendwann wurde bekannt, dass Sara Abrahams Frau war und sie durfte zu ihm zurück. Der Mann des Glaubens und dann diese Feigheit?
Warum „verschacherte“ Abraham gleichsam seine Frau an den Pharao? Warum gab er sie so einfach her, um seine Haut zu schützen? Warum handeln wir als gläubige Menschen oft anders als es die Schrift sagt? Warum gibt es Glauben in uns, aber die „Werke“ sprechen eine andere Sprache?
Glauben, so lehrt das Lebensbeispiel Abrahams, ist keine Vergottung des Menschen. In uns fließen keine überirdischen Kräfte ein, die aus Menschen Heilige machen. Wir entscheiden uns für den Glauben, für Gott, für den Gehorsam und verfehlen doch oft genug ein wirklich menschliches Leben.

Reminiscere – „Erinnere dich!“, sagt dieser Sonntag. Wir sind nicht besser als Abraham.
Die Logik der Höhlenmenschen heißt: ‚Wenn du schon an einen Gott glaubst, dann musst du auch was davon haben, dann muss man es dir doch anmerken.’ Wir wollen uns unter diese Logik nicht beugen.
Wie Abraham immer wieder aufbrach, die Stadt Ur verließ, Bethel und Ägypten den Rücken zukehrte, wie er im Glauben immer wieder von vorn anfing, Zweifel und Trauer hinter sich ließ, gilt es, mit ihm aus dem Land der Fehler – dem alten Ägypten – aufzubrechen und von neuem seinen Weg zu gehen. Das Ziel ist klar: Es gilt die Stadt Gottes zu erreichen, hier eingelassen zu werden und mit Abraham die Herrlichkeit Gottes zu schauen.


I1I Originalfassung in: Platon, Sämtliche Dialoge, Band V, hrsg. von Otto Apelt, Hamburg 2004, S. 269-274.
I2I F.W. Nietzsche, Werke in drei Bänden, München 1954, Band 1 (Menschliches, Allzumenschliches), S. 459: „… es wird einmal gezeigt werden, wie … die blöden Maulwurfsaugen … zuerst Nichts als immer das Gleiche sehen, wie dann … allmählich verschiedene Substanzen unterschieden werden …“
I3I Gary A. Anderson, Abraham im Judentum, in: RGG 4, 1.Band, Tübingen 1998, Sp. 74 f.
I4I Wesentliche Anregungen für den folgenden Text verdanke ich Rudolf Bultmann, pistis, in ThWb 6, Hrsg. v. Gerhard Kittel, Stuttgart 1959, S. 174 – 230.