Lebendig fühlen - Predigt zu Johannes 6,55-65 von Sven Keppler
6,55-65

I.
Liebe Gemeinde,

sie hat Hunger nach Leben. Vor ein paar Wochen kam sie aus dem Gefängnis, nach fünf Jahren. In der letzten Zeit hatte man ihr „gute Führung“ attestiert, sonst hätte sie noch länger sitzen müssen. Fünf verlorene Jahre, für eine Dummheit mit Anfang Zwanzig. Einen Beruf hat sie erlernt im Knast, KfZ-Mechanikerin ist sie jetzt. Und eine Wohnung hat sie auch gefunden. Und jetzt hat sie Hunger: nach dem Leben, nach einem Neuanfang.

Sie ist in eine neue Stadt gezogen, wo sie keiner kennt. Wo sich niemand an die Zeitungsberichte mit ihrem Foto erinnert – das hofft sie zumindest. Ob die neuen Nachbarn angesehen haben, woher sie kommt? Es ist Samstagabend, ihre Sehnsucht nach dem Leben brennt, aber sie weiß nicht wohin. Freunde hat sie noch nicht. Noch nicht? Soll sie tanzen gehen? Endlich mal wieder einen Mann kennen lernen. Endlich mal wieder richtig feiern. Sie hat Angst, ihr Versuch mit den Drogen im Knast war ihr nicht gut bekommen. Sie spürt die Unruhe. Aber irgendwie will sie ein anderes Leben, will neu anfangen. Aber wie geht das?

Und da ist die Angst, dass es doch wieder wie früher kommt. Die falschen Männer, die, die ihr zwar gefallen, die sie aber immer nur ausgenutzt haben. Die Streitereien, die Schläge. Nein, lass bloß die Finger vom Alkohol. Und fall nicht wieder auf die Aufreißer rein. Bleib zu Hause, heute Abend. Schreib lieber noch eine Bewerbung.  Denn sie hat auch Sehnsucht nach der Normalität. Einfach ganz spießig sein: Ein Mann, ein Kind, Arbeit und eine kleine Wohnung. Ohne Schulden, ohne Streit – so, wie es ihre Eltern nie hinbekommen haben. Und wieder hat sie Angst: Wenn es nicht mal mit dem Job klappt, woher soll dann der Rest kommen? Riecht sie nicht immer noch nach Knast?

Woher? Woher die Kraft zum Neuanfang? Woher die Kraft zu einem gelingenden Leben, nach dem sie sich sehnt? Wo die richtigen Leute kennen lernen? Wie soll sie die Angst besiegen, dass alles doch wieder so wird, wie es immer schon war? Den Hunger hat sie, aber wo und wie sie satt werden soll, ahnt sie nur vage.

Liebe Gemeinde, ich hätte auch von anderen Menschen erzählen können und von deren Hunger nach Leben: Von dem Schulabgänger, der glaubt, dass nun sein Leben beginnt. Von der Witwe, die sich ein Jahr nach dem Tod ihres Mannes eingestehen muss, dass sie sich heute viel freier fühlt als damals, als ihr Mann noch lebte.

 

II. In all diesen Geschichten steht neben der Sehnsucht meistens auch eine Ratlosigkeit: Weiß ich eigentlich so genau, wie ich leben möchte? Sind die Vorstellungen, die ich habe, auch der richtige Weg? Und werde ich in mir die Kraft finden für das, was mir das Richtige scheint?

Auch unser heutiger Predigttext handelt vom Hunger, vom Leben, von der richtigen Speise. Er tut es auf eine krasse Weise. Ein harter Text der Passionszeit. Wir werden uns bemühen müssen, werden darum ringen müssen, ihn richtig zu verstehen. Aber in ihm steckt das Versprechen, dass sich die Mühe lohnen wird. Ich lese aus dem Evangelium nach Johannes, im sechsten Kapitel die Verse 55-63:

[Verlesen von Joh 6,55-65]

Herr, das ist wahrhaftig eine harte Rede. Öffne unser Herz, dass wir sie richtig verstehen. Amen.

 

III. Ärgert euch das? Da habe ich von Sehnsucht gesprochen, vom Hunger nach Leben. Und dann dieser harte Predigttext? Nirgends in der Bibel ist so krass und ausdrücklich davon die Rede, dass wir tatsächlich Jesu Fleisch essen sollen und sein Blut trinken. „Ärgert euch das?“ So fragt auch Jesus seine kopfschüttelnden Jünger.

So ist es ja auch mit dem Gekreuzigten. Je nach Sichtweise ein Ärgernis oder eine Torheit. Oder eine Kraft Gottes – die selig macht alle, die glauben. Woher kommt diese Kraft Jesu? Was ist die Quelle seiner Ausstrahlung? In unserem Predigttext sagt er, dass ihn der lebendige Vater gesandt hat. „Ich lebe um des Vaters willen.“

Enger als er kann ein Mensch nicht mit Gott verbunden sein. Mit Gott, seinem Vater. Gott schaut ihn an. Er sieht ihn so, wie er ist: seinen Schmerz, seine Verzweiflung, seine Unschuld. In den Augen seines Sohnes hat Gott die Frage aller Menschen gelesen: Wird mit dem Tod alles aus sein? Gott, unser Hunger nach Leben ist noch längst nicht gestillt. Gibt es keine Chance mehr, dass sich unsere Sehnsucht nach einem wirklich gelungenen Leben je erfüllt?

Aber Gott hat seinen Sohn nicht verlassen. Am dritten Tag, am Ostermorgen, hat er ihm wieder das Leben geschenkt. Er hat ihn nicht nur wiederbelebt für eine kleine Zeit. Sondern er hat ihm das ewige Leben gegeben. Ein Leben, vor dessen Ende man keine Angst mehr haben muss, weil es kein Ende hat. Ein Leben, vor dessen Misslingen sich niemand fürchten muss, weil es besser sein wird, als wir uns überhaupt vorstellen können. Es gibt keinen Karfreitag ohne Ostern. Es gibt bei Gott keinen Tod ohne das ewige Leben. Das ist die Hoffnung, die der Gekreuzigte trotz aller Härte für mich bedeutet.

 

IV. Und dieser Christus, dem Gott die Lebenskraft schenkt – dieser Christus will sich auf das Engste mit uns verbinden. Er will uns teilhaben lassen an seiner Lebensenergie. Das ist die zentrale Aussage unseres Predigttextes: Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der bleibt in mir und ich in ihm.(Joh 6,56)

Das heißt nichts anderes als: Wenn ihr das Abendmahl feiert, dann seid ihr mit mir vereint. Dann wird euch Gott so ansehen, wie er mich angesehen hat. Gott wird eure Sorgen sehen. Eure Traurigkeit. Er wird eure Sehnsüchte nach dem Leben sehen. Gott wird euch nicht mit zornigen Augen ansehen, er wird euch nicht abweisen. Sondern so wie er mir das Leben geschenkt hat, so wird er es auch euch schenken.

Dass wir Jesu Fleisch essen und sein Blut trinken sollen – das ist eine heikle Aussage. Sie ist absichtlich so hart gewählt, Jesus selbst hat die Wirkung seiner Worte bei den Jüngern gesehen. Diese Worte müssen wahrscheinlich so hart sein. Aber später sagt Jesus auch: Der Geist ist’s, der lebendig macht; das Fleisch ist nichts nütze. (Joh 6,63)

Wir sollten das als einen Hinweis hören: Das Abendmahl ist nichts für blutrünstige Fantasien. Es ist Brot, das wir essen und es ist der Saft der Trauben, den wir trinken. Leib und Blut Christi sind es auf eine geistliche Weise. Wenn wir im Mahl das Brot essen, sind wir durch Gottes Geist mit dem Leib des auferstandenen Christus verbunden. Wenn wir den Wein trinken, nehmen wir durch Gottes Geist Christi Leben in uns auf.

Christi Leib und Blut essen und trinken wir auf geistliche Weise. Jesus selbst sagt: Wer dies Brot isst, der wird leben in Ewigkeit. (Joh 6,58b) Christus nimmt uns in sich auf, und wir ihn in uns: Wir werden Erlöste wie er. Das ist die frohe Botschaft unseres heutigen Predigttextes.

 

V. Und was bedeutet das für unsere junge Frau vom Anfang der Predigt, für ihren Hunger nach Leben, für ihre Sehnsucht nach einem Neubeginn? Was heißt das für den Schulabgänger oder die Witwe? Was heißt es für mich und für Sie, wenn wir uns nach einem gelingenden Leben sehnen, nach Liebe, nach Kraft?

Liebe Gemeinde, ich halte die Geschichte von der jungen Frau für beispielhaft. Auch wenn wir ihre Situation oft eine Nummer kleiner erleben. Und dadurch nicht ganz so deutlich.

Vielleicht kennen Sie das auch: Da hat man die Sehnsucht, im eigenen Leben etwas zu verändern. Meistens nicht so stark, dass man ein neues Leben beginnen will. Aber ein kleiner Neuanfang: Man möchte eine erkaltete Freundschaft wieder aufleben lassen. Man versucht, mit dem Partner oder der Partnerin einen alten Konflikt endlich zu lösen. Man hofft, sich den Tag ab jetzt etwas anders aufzuteilen, damit man mehr von ihm hat.

Oft sind solche Neuanfänge von der Sorge begleitet, dass die Macht der Gewohnheit zu stark ist. Wie die junge Frau Angst davor hatte, von ihrer Vergangenheit eingeholt zu werden. Das Vergangene hat eine so starke Macht über uns, dass wir kaum von ihm loskommen. Dass wir oft nicht einmal sehen, was wirklich gut ist für uns. Mitten in diese Erfahrung hinein spricht unser Predigttext: Er erzählt uns von der Kraft zum Neuanfang, die Gott für uns bereithält. So, wie Gott Christus ein neues Leben geschenkt hat, so verspricht er es auch uns.

An unserer eigenen Kraft zum Neuanfang haben wir oft berechtigte Zweifel. Aber Gott will uns diese Kraft schenken. Wenn wir ihm glauben und ihm vertrauen. Im Heiligen Abendmahl werden wir mit dieser Lebenskraft verbunden. Es ist das Brot des Lebens. Hier können wir satt werden in unserem Hunger. Gestärkt werden, wenn wir aufbrechen wollen. Und auch später, auf dem Weg. Amen.

Perikope
26.03.2017
6,55-65