"Lebenskunst des Umwegs" - Predigt über Johannes 14,15-19 von Klaus Pantle
14,15
Lebenskunst des Umwegs
Liebt ihr mich, so werdet ihr meine Gebote halten.Und ich will den Vater bitten und er wird euch einen andern Tröster geben, dass er bei euch sei in Ewigkeit: den Geist der Wahrheit, den die Welt nicht empfangen kann, denn sie sieht ihn nicht und kennt ihn nicht. Ihr kennt ihn, denn er bleibt bei euch und wird in euch wohnen.
  Ich will euch nicht als Waisen zurücklassen; ich komme zu euch.
  Es ist noch eine kleine Zeit, dann wird mich die Welt nicht mehr sehen. Ihr aber sollt mich sehen, denn ich lebe und auch ihr sollt leben.
1. Die Kunst, zu leben
Jesus spricht: „Ich lebe, und auch ihr sollt leben.“ Wir sollen leben. Sogar in Fülle. „Ich bin gekommen, damit sie das Leben und alles in Fülle haben sollen“, sagte Jesus an anderer Stelle (Johannes 10,10).
Wie geht das: Leben, gar erfülltes Leben? Wie schaffen wir das? Wo finden wir das? Und was gehört überhaupt dazu?
Wir könnten unsere Suche in Buchhandlungen beginnen. Dort fänden wir meterlange Regale, die gefüllt sind mit Büchern zu den Themen „Lebenskunst“, „Lebenshilfe“ und „Sinnsuche“. Oder wir könnten Glücks-Kolumnen in Blättern wie der Bild-Zeitung lesen, wo gelegentlich der Benediktinerpater Anselm Grün seine Lebensweisheiten zum Besten gibt. Angebote zum Thema Lebenskunst haben Hochkonjunktur auch auf dem Zeitschriften-Markt: „Schöner Wohnen“, „Genussvoll Essen“, „InStyle“, am besten mit „Landleben“, „Landlust“ und „Landliebe“. Wir könnten auch ein „Wohlfühl-Package“ in einer „Wellness-Oase“ oder einem „Wellness-Hotel“ buchen.
Erfülltes Leben wird gerne verbunden mit einem angenehmen Körpergefühl, mit innerer und äußerer Körperstimulation, die Negatives löst und wohltuende Empfindungen auslöst. Die direktesten Wege dorthin, die effektivsten Techniken für Körper und Geist sind gesucht. Wie finde ich eine ideale „Work-Life-Balance“? Psychotherapeutische Angebote bieten Hilfe, genauso wie spirituelle Ratgeber, die versprechen dazu beizutragen, den Suchenden zu Klarheit im Blick auf ihre Biographie und Lebensplanung zu verhelfen. Denn möglichst alles, was ich tue und was mir widerfährt in dieser unübersichtlichen Welt soll einen Sinn haben.
Diese Suche nach dem guten und erfüllten Leben wird häufig von einer gewissen Melancholie begleitet. Das mag daran liegen, dass diese Bemühungen aus einem Empfinden des Vermissens heraus geschehen. Irgendetwas fehlt oder ist nicht richtig im eigenen Leben und das will korrigiert werden.
Wie geht das: Leben, gar erfülltes Leben? Wie schaffen wir das? Wo finden wir das? Und was gehört überhaupt dazu?
2. Im Geist der Wahrheit
Ich will den Vater bitten und er wird euch einen andern Tröster geben, dass er bei euch sei in Ewigkeit: den Geist der Wahrheit, den die Welt nicht empfangen kann, denn sie sieht ihn nicht und kennt ihn nicht. Ihr kennt ihn, denn er bleibt bei euch und wird in euch wohnen.
Wahrheit gehört dazu. Aber was ist Wahrheit? Und was hat sie mit erfülltem Leben zu tun?
Montagvormittag, in der Filiale eines großen Anbieters für billige Kleidung. „Sneakers für neun Euro, Kleider für sieben Euro, Bikinis ab vier Euro, Oberteile ab zwei Euro. Durch die engen Gänge wuseln die Menschen wie Ameisen über einen Buffettisch. Studenten, Mütter mit Töchtern, Rentner, Anzugträger, Jogginghosenträgerinnen, Dicke, Dünne, Große, Kleine. Durch die engen Gänge wuseln: wir alle.“ (Süddeutsche Zeitung 30.04.13) In Savar in Bangla Desh ist in der Woche zuvor ein achtstöckiges Gebäude eigestürzt, in dem auch dieser Billig-Kleider-Filialist seine Ware hat produzieren lassen. Über 600 Menschen starben, viele werden noch vermisst, mehr als 1000 wurden verletzt, viele von ihnen schwer. Rund 3000 Menschen hatten dort gearbeitet, unter miserablen Arbeitsbedingungen in einem erkennbar brüchigen Haus, für einen Monatslohn von 38 Euro. „Würde man jeder Näherin 50 Euro bezahlen, würde das zum Beispiel bedeuten, dass ein T-Shirt bei uns zwölf Cent mehr kostet“, sagt dazu ein hiesiger Gewerkschaftsvertreter. 2,11 Euro statt 1,99  Euro.
Benjamin, 27 Jahre alt, Sozialversicherungsfachmann, antwortet auf die Frage, warum er hier einkauft: „Weil es so günstig ist.“ Stolz ist er darauf nicht und meint: „Der Mensch kann nie genug bekommen, er will von allem ganz viel, und je billiger es ist, umso mehr kann er haben.“ Cindy, Bankkauffrau, ebenfalls 27 Jahre alt, will von dem Unglück in Bangla Desh „lieber nichts hören.“ Sie möchte unbeschwert einkaufen. Mitarbeiter und Management der Filiale wollen sich zum Thema nicht äußern. Nur Alexander, ein 21-jähriger VWL-Student, der als Aushilfe für zehn Euro die Stunde T-Shirts für fünf Euro sortiert, macht den Mund auf. Wie er sich fühlt, wenn er an das Unglück denkt? „Natürlich asozial“, antwortet er. Nur brauche er halt den Verdienst zum Leben.
Wahrheit gehört zum erfüllten Leben. Aber will man alles immer so genau wissen?
Kommt die Wahrheit ans Licht und nehmen wir sie nicht nur zur Kenntnis, sondern nehmen wir sie uns auch zu Herzen, dann wird sofort klar: Wahrheit kostet. Die Wahrheit hat ihren Preis. Das gilt nicht nur beim Kauf von Kleidung. Im Blick auf erfülltes Leben gibt es eine elementare Beziehung zwischen Wahrheit und Gerechtigkeit. Die ist unumstößlich. Aber Gerechtigkeit ist nur die eine Säule eines Lebens im Geist der Wahrheit. Es gibt noch eine zweite.
 „Was Sie in der Brust haben, ist ein Tumor, der ist bösartig, und der hat auch schon gestreut“, sagte der Stationsarzt einer Lungenklinik zu dem ehemaligen taz-Korrespondenten Peter Tautfest, als er ihn mit der Diagnose konfrontierte. Tautfest schilderte kurz vor seinem Tod in einem beeindruckenden Essay, wie die Mitteilung auf ihn wirkte: „Dr. K. gehörte zu der neuen Generation von Ärzten, die es gelernt hat, Patienten die Wahrheit nicht zu verschweigen. Er spricht leidenschaftslos, direkt, schonungslos und ohne Umschweife. Ja beinahe ein bisschen schnodderig. Rückblickend kommt es mir vor, als hätte er von einem großen Spaß gesprochen, wie von einem jener unvermeidlichen Unglücke, die Menschen nun einmal widerfahren und über die man gemeinsam scherzen können soll oder können muss. Nicht zu diesem Ton jedoch passen Klagen und Bedauern. Er hätte sagen können: Ich will heute Nachmittag noch Squash spielen gehen und mir die Laune nicht von Ihnen verderben lassen.“
Wahrheit allein - die nackte Wahrheit - hat keinen Wert an sich. Es gibt Wahrheiten über uns und unter uns, die wir nur ertragen, wenn andere sich uns zuwenden und uns beim Tragen helfen. Wahrheit bezieht sich nicht nur auf das gute Leben. Erfülltes Leben schließt schmerzvolles und sterbliches Leben mit ein. Das ist nur zu ertragen, wenn es eine Beziehung gibt zwischen Wahrheit und Liebe. Auch die ist unumstößlich. Liebe ist die zweite Säule eines Lebens im Geist der Wahrheit.
Für Liebe und Gerechtigkeit als den tragenden Säulen der Wahrheit, die zum Leben in Fülle führt verbürgt sich Jesus selbst.  Er sagt: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Johannes 14, 6).Und wenn ich nicht mehr unter euch sein werde, dann erhaltet ihr als vollgültigen Ersatz bis in alle Ewigkeit: den Geist der Wahrheit. „Er bleibt bei euch und wird in euch wohnen.“
3. Lebenskunst des Umwegs
Eine Lebenskunst, die sich aus der Tradition unseres Glaubens speist, gründet nicht in einer Wohlfühlreligion für alle Lebenslagen. Eine christlich inspirierte Lebenskunst ist eine „Lebenskunst des Umwegs“ (Matthias Sellmann). Sie unterscheidet sich von einer Lebenskunst, die Lebensglück als direktes Ziel ansteuert. Natürlich bleibt auch für Christen gutes Leben ein zentrales Ziel. Erfülltes Leben wurde uns ja von Jesus selbst verheißen. Aber er, der sich selbst als „der Weg, die Wahrheit und das Leben“ bezeichnet, ist einen weiten und schmerzvollen Umweg gegangen: den Umweg über das Kreuz. Blicken wir auf ihn, sehen wir den „Gottesknecht“, der „weder Gestalt noch Schönheit“ hat (Jeremia 53, 2). Und die Erkenntnis, dass das „Wort vom Kreuz“ eine „Gotteskraft“ ist und keine „Torheit“ (1. Korinther 1, 18) macht uns bewusst, dass unser Glauben seine Kraft gerade aus der „Rechtfertigung des Hässlichen“ (Jacob Taubes) bezieht. Diese seltsame Logik des Umwegs als Lebenskunst kann uns Kraft geben, dass wir Negativem wie Leiden, Tod und Ungerechtigkeit standhalten und sie nicht ausblenden, verleugnen oder überspringen müssen. Das Leben in Fülle hat der Gekreuzigte und Auferstandene uns ermöglicht, indem er es für uns erlitten und erkämpft hat. Zu diesem Leben in Fülle finden wir nicht aus uns selbst, sondern durch die Taufe in seinen Tod, „damit, wie Christus auferweckt ist von den Toten durch die Herrlichkeit des Vaters, auch wir in einem neuen Leben wandeln“ (Römer 6, 4). Das heißt: Die finden ihr Heil, die es über einen Umweg – über das Vertrauen in die Gottesliebe – erstreben. In ihnen, sagt Jesus, wohnt der Geist der Wahrheit. In ihnen und durch sie wirkt er Liebe und Gerechtigkeit und schafft einen Lebensraum, in dem Unrecht bekämpft und Tod und Vergehen ertragen und getragen werden können, weil sie nicht als Ende begriffen werden müssen.
Das kann zu einer gesunden Selbstvergessenheit führen, denn auf diesem Umweg zum erfüllten Leben geht es nicht um das selbstfabrizierte Gelingen meiner Biographie. Auf diesem Umweg bekommen Glaubende das eigene Lebensglück geschenkt, indem sie sich für die Lebenschancen anderer riskieren. Der, der von sich gesagt hat, er sei „der Weg, die Wahrheit und das Leben“, hat gezeigt, wie es geht: Leben wird intensiv, wenn man es gibt für andere, wenn man es riskiert und erst nach dem Durchgang durch die Risikopassage zurückerhält. Für den, der sagt: Liebt ihr mich, so werdet ihr meine Gebote halten, steht diese Art der Liebe im Zentrum aller (Lebenskunst-)Regeln: „Das ist mein Gebot: Liebt einander, so wie ich euch geliebt habe. Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt“ (15, 12f.).So verstandene Liebe ist eher langmütig und freundlich, zäh und gegen alle Bedenken optimistisch, als dass sie zuerst die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse und den eigenen Nutzen sucht, andere ausnützt, oder die Ausbeutung anderer zulässt. Es ist die uneigennützige Tat, die zur schönen Tat wird und Leben in erfülltes Leben verwandelt.
Das gilt nicht nur für den begrenzten Kosmos des privaten Lebens. Es kann auch in größerem Zusammenhang funktionieren. Zum Beispiel existiert im Internet neben allem anderen auch eine Netzökonomie, in der Menschen ihr Wissen teilen. Wissenschaftler und Forscherinnen stellen das, was sie herausgefunden haben denen zur Verfügung, die es brauchen können. Man teilt Wissen in unsichtbaren Gemeinschaften im Netz im Gefühl einer tiefverwurzelten Gleichheit aller, die sich an diesem Austausch beteiligen. Man teilt Wissen und Erkenntnisse, und jenseits individuellen Profitstrebens entwickelt sich ein Sinn für Solidarität, in dem etwas Urmenschliches zum Ausdruck kommt: Es ist die Gewissheit, dass das, was die Forschenden verbindet, der Sphäre der Unschätzbarkeit – der Fülle - angehört. Man hat diese Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler „Kinder eines neuen Vertrauens“ genannt, „das in den anonymen Netzen der elektronischen Kommunikation verlorengegangen schien.“ Wo das gelingt, teilt man Geist und Erkenntnis, und der Geist fließt und strömt und wird mehr. Indem ich gebe, was ich weiß und es anderen zugänglich mache, verliere ich nichts von diesem Gut. Ich bekomme dadurch im Gegenteil die Chance, es durch das Feedback der Nutznießer zu mehren. Es ist die Lust an der Kreativität, die dabei den Kern aller Erkenntnis bildet. Sie appelliert an die großzügige und dadurch schöne Geste. Sie versammelt und regt neue Gemeinschaften an. So ruft die Kreativität in Gestalt des frei flottierenden Geistes eine bislang ungekannte und unerhörte Freude hervor – die von den Hütern der alten akademischen oder industriellen Festungen noch immer nicht begriffen wird. „Sie lädt dazu ein, das Leben mit dem Lebendigen zu teilen.“ (Marcel Hénaff).
„Der Geist der Wahrheit bleibt bei euch und wird in euch wohnen“, verspricht Jesus. Wie das in und unter den Glaubenden geschieht und wie das den Glaubenden die Kunst zu leben in ihrem Alltag ermöglicht? Man kann es nicht erklären und das braucht man auch nicht. „Manche Menschen leben aus einem Geheimnis, das sie ins sich aufgenommen hat. Darum können manche von ihnen geben, was sie gar nicht haben, können sein, was sie noch gar nicht sind“ (Klaus Hemmerle) – und Leben in Fülle gewinnt Gestalt.
Perikope
12.05.2013
14,15