Lieber Jesaja... - Predigt zu Jes 63,15 - 64,3 von Wolfgang Vögele
63,15-64,3

Der Predigttext für den 2.Advent steht in Jes 63,15-64,3:

„So schau nun vom Himmel und sieh herab von deiner heiligen, herrlichen Wohnung! Wo ist nun dein Eifer und deine Macht? Deine große, herzliche Barmherzigkeit hält sich hart gegen mich. Bist du doch unser Vater; denn Abraham weiß von uns nichts, und Israel kennt uns nicht. Du, Herr, bist unser Vater; »Unser Erlöser«, das ist von alters her dein Name. Warum lässt du uns, Herr, abirren von deinen Wegen und unser Herz verstocken, dass wir dich nicht fürchten? Kehr zurück um deiner Knechte willen, um der Stämme willen, die dein Erbe sind! Kurze Zeit haben sie dein heiliges Volk vertrieben, unsre Widersacher haben dein Heiligtum zertreten. Wir sind geworden wie solche, über die du niemals herrschtest, wie Leute, über die dein Name nie genannt wurde. Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen, wie Feuer Reisig entzündet und wie Feuer Wasser sieden macht, dass dein Name kundwürde unter deinen Feinden und die Völker vor dir zittern müssten, wenn du Furchtbares tust, das wir nicht erwarten, und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen! Von alters her hat man es nicht vernommen, kein Ohr hat gehört, kein Auge hat gesehen einen Gott außer dir, der so wohltut denen, die auf ihn harren.“

Ach, lieber Jesaja, diese Worte kommen mir nahe. So schön hast du das geschrieben, weil du dich nicht blenden läßt. Ergriffen bin ich davon. Deine großen Worte hallen nach, lassen uns Hörer nicht allein. Deine Bilder atmen Gelassenheit und Schönheit, sie malen das große Panorama aus und rufen den biblischen Gott herbei, bringen ihn und die traurigen, verzweifelten Menschen zusammen. Lieber Jesaja, du schaffst es, mit deinen Worten Bedrückung zu überwinden und Neuanfänge zu bahnen. Du verwandelst die Tatsachen, die so bitter schmecken, mit einem Funken Glauben in neue Hoffnung. Lieber Jesaja, du bist ein Adventsprediger! Du weckst große Erwartungen, weil du gerade nicht von Kerzen und Lebkuchen und schön eingepackten Geschenken redest.

Liebe Schwestern und Brüder, ich will Sie einladen, dem sanften Weg Jesajas aufmerksam zu folgen. Kommen Sie bitte mit auf eine Pilgerstrecke, die erst einmal die glitzernde Weihnachtszeit abstreift. In einer ersten Pause erhellt sich der wahre Sinn des Advents, dann beginnt ein abgebrochenes Gespräch von neuem. Und am Ende entdeckt Jesaja im Warten auf Gott den notwendigen Funken Hoffnung, den wir dringend nötig haben.

Am Anfang werden alle Adventslichter gelöscht: Bienenwachskerzen auf dem Adventskranz, elektrische Lichterketten im Fensterrahmen, Sternenbeleuchtung in der Fußgängerzone. Die Dudelmusik wird ausgeschaltet: keine plärrenden Adventslieder aus den unsichtbaren Lautsprechern der Kaufhäuser und Weihnachtsmarktstände. Adventslichter und -lieder sollen Dunkelheit und Stille der kalten Jahreszeit aufhellen, aber manchmal muß man beides aushalten. Jetzt, da sich von neuem die Pandemie ausbreitet, gebietet auch der Respekt vor der Gesundheit der anderen den Verzicht auf Glitzer und große Menschenansammlungen.
Früher, in anderen Zeiten grassierten schlimmere Seuchen. Und trotzdem herrschte im Advent größere Gelassenheit. Ungepackte Geschenke schlugen nicht auf den Magen. Aufgeschobene Vorbereitungen lösten keine Nervosität aus. In der Adventszeit widmeten sich die Glaubenden der Aufgabe, Buße zu tun. Sie hielten inne, beteten und meditierten; sie beschäftigten sich mit der Frage, wieso die Welt erlöst werden muss. Das kleine Baby in der Krippe war nicht in süßen Kitsch eingepackt. Schon im Baby sah man den gefolterten Erlöser am Kreuz. Und dieses Neugeborene überwand die Dunkelheit des Winters und genauso die schwarze Farbe der Sünde. In Weihnachten lag schon ein Unterton von Karfreitag.

Wer dem tröstlichen Jesaja folgt, kann erst einmal solche Dunkelheit anerkennen. Es ist hohe Zeit, die Scheinwerfer und die grellen Blitzlichter auszuschalten. Sie haben die Aufgabe, mit künstlichem Licht das Leben zu verschönern und schwarze Seelen aufzuhellen. Jesaja riskiert stattdessen einen intensiven Blick auf die Landschaften der eigenen Niederlagen. Und er beobachtet genau die umgebende Dunkelheit. 
Den Blick in die Dunkelheit werfen: In der Gegenwart sind schemenhaft die Versatzstücke globaler Krisen zu erkennen: Millionen Plastikfetzen, die an den Strand geschwemmt werden, Beatmungsgeräte für Corona-Patienten auf den Intensivstationen, Stapel abgeholzter Baumstämme aus dem gerodeten Wald, wabernde Wolken von Smog, zusammengesetzt aus Autoabgasen und der verschmutzten Abluft von Kohlekraftwerken. Dunkel bleibt das alles, weil wir die Folgen fürchten, die sich dennoch klar am Horizont abzeichnen. Die Aufzählung ist eine Zumutung. Wissenschaftler versuchen mühsam, Ursachen und Wirkungen zu ordnen. Sie leiten daraus Maßnahmen ab, die eine überforderte Politik nicht richtig auf den Weg bringen will, wegen der Diplomatie, wegen der Interessen von Lobbyvertretern, wegen der fehlenden Akzeptanz in der Bevölkerung. Jetzt, in der Dunkelheit der Befürchtungen und Sorgen, wäre der richtige Zeitpunkt, über die Verbindung zum Glauben nachzudenken.

Jesaja kannte selbstverständlich noch keine Klimakrise. Jesaja sah die zerstörten Mauern Jerusalems und das besetzte Israel, den Tempel als Ruine, den Abtransport der Bevölkerung Israels nach Babylon, die gnadenlose Herrschaft der unbarmherzigen Besatzungs- und Großmacht. Und er fragte sich: Kann dieser Gott, der mit seinem geliebten Volk Israel einen Bund geschlossen hat, solche schrecklichen Verhältnisse zulassen? Kann dieser vormals gnädige Gott seine Augen schließen, obwohl er seinen nachhaltigen Segen auf Israel legte und seine Barmherzigkeit nie abbrechen lassen wollte? Treibt Gott ein hinterhältiges Spiel mit den Menschen? Können sich die Glaubenden auf seine Zusagen und Verheißungen nicht mehr verlassen? Auf diese drängenden Fragen passen keine einfachen Antworten.
Jesaja antwortete - mit seinem Gottesglauben. Diesen hält er für so wichtig, daß er ihm einen entscheidenden Einfluß auf die Verhältnisse der Welt zutraut: auf politische Verhältnisse, auf die Klimapolitik, auf Krieg und Frieden. Glaube ersetzt für ihn nicht Wissenschaft und Politik, aber er gibt beiden eine neue Grundlage.

Wir würden Gott gar zu gerne auf das Gute, was geschieht, festlegen. Dann wäre er ein Schönwettergott. Dann aber stellt sich die Frage nach dem Ursprung des Bösen nur um so drängender. Genauso wenig scheint es mir möglich zu sagen: Das Gute, das Gott tut, steht im Vordergrund. Aber im Hintergrund, im Verborgenen, ist er mit seinem geheimnisvollen ‚Walten‘ beschäftigt, über das niemand, der glaubt, so richtig Bescheid weiß. Eine dritte Antwort lautet: Für alle Zufälle und verheerenden Entwicklungen auf der Erde sind die Menschen verantwortlich; Gott kann die Verantwortung der Menschen nicht angerechnet werden. Das wäre eine Ausflucht. Aber auch das halte ich für eine Antwort, die zu kurz greift.

Jesaja bringt die Widersprüche von Glauben und Leben eindringlich auf den Punkt: „Deine große, herzliche Barmherzigkeit hält sich hart gegen mich.“ Das ist der Abgrund, den alle, die versuchen zu glauben, aushalten müssen, über die Schreie der Klage und der Verzweiflung hinaus. Böses und Gutes lassen sich nicht so einfach auf Ursachen zurückführen. Es gibt keinen Schnellweg zwischen dem eigenen Denken und Handeln und den jeweiligen Folgen. Die Automatismen eines naiven Gottesglaubens bleiben fragwürdig: Wer nachhaltig den Nächsten hilft, wird ein schönes Leben haben, von Gott geschenkt. Wer nicht nach dem Willen Gottes handelt, den wird er bestrafen. Wer also krank wird, der muß wahrscheinlich gesündigt haben, ohne daß die anderen davon wissen. So einfach macht es sich Jesaja nicht. Denn er weiß sehr genau um die Dunkelheit der Verhältnisse: Manchmal triumphiert die Ungerechtigkeit. Die, die es nicht verdient haben, tragen den Sieg davon. Viel zu häufig werden diejenigen, die die Umwelt bewahren wollen, die ihre Mitmenschen respektieren, einfach überfahren.

Aus den Worten des Jesaja wird die Einsicht deutlich: Solche Ungerechtigkeit, solche Dunkelheit müssen glaubende Menschen aushalten. Dabei weiß er: Dauerhaft wird das Leiden an einem solchen Widerspruch nur in das führen, was er altmodisch „Verstockung“ nennt. Wenn es bei dieser Einsicht bliebe, wäre der Glaube eine bedrückende Form von Ergebung in das Schicksal. Jesaja hält den Widerspruch zwischen Wirklichkeit und barmherzigem Gott aus und zieht daraus die Konsequenz, ein Gespräch mit Gott anzufangen. Das ist keine Verhandlung unter gleichberechtigten Partnern. Wer mit Gott sprechen will, schlägt Jesaja vor, sollte beten.
Nun kommt es darauf an, zu welchem Gott sich die Menschen wenden. Aus dem, was Jesaja sagt, wird deutlich: Einige beten zu Göttern, die sie sich selbst gemacht haben. Sie stellen sich vor die Skulpturen, die sie selbst erschaffen haben; es sind die Standbilder von Götzen. Das Gebetsgespräch des Jesaja richtet sich an den lebendigen Gott, der sich anreden läßt in Klage, Bitte und Dank. Im Gebet findet der Widerspruch zwischen der Dunkelheit von Welt und Seelen und dem barmherzigen, verzeihenden Gott seinen Ort. Glaubende Menschen blicken nicht als stumme, ergebene Fische zu ihrem Schöpfer auf. Glaubende Menschen trauen sich. Sie haben Mut. Sie sprechen an, sprechen aus, führen eine freie Rede. Jesaja führt dieses Ansprechen der Dunkelheiten im Gebet ganz sanft ein. Und die Betenden sehen den ersten Lichtblick in der Dunkelheit. Erbarme dich: Damit, nicht mit den Wunderkerzen, beginnt Advent.

Daraus ergibt sich eine zweite Frage: Was antwortet der angesprochene Gott? Es macht die theologische Größe Jesajas aus, daß er Gott nicht für eine Maschine hält, die Fehler und Defizite von Menschen korrigiert. Gott ist nicht der Staubsauger, der sämtliche Mißstände, Tumore, Treibhausgase, Trennungen, einfach beseitigt. Gott antwortet auf Gebete, aber nicht immer so, wie wir Glaubenden das erwarten.
Deswegen steht am Ende dieser Trostrede Jesajas ein wichtiges Wort, das nicht oft genug unterstrichen werden kann: Harret aus. Das ist ein altmodisches Wort und bedeutet im Grunde nichts anderes als Warten. Aber in diesem Warten ist so etwas wie ein Funke versteckt. Im Harren verbinden sich Warten und Hoffen. Hoffen auf einen gnädigen Gott. Das Harren/Warten rechnet mit beidem. Es rechnet mit der Barmherzigkeit Gottes, den die Dunkelheit der Welt nicht gleichgültig läßt. Und es rechnet mit der Entschlossenheit der glaubenden Menschen, etwas zu tun, zum Beispiel das Gemeindehaus CO²-neutral umzugestalten, für das Wohlergehen derer zu sorgen, die der Hilfe bedürfen und in unserer unmittelbaren Nähe leben. Ich denke an Kleiderkammern und Vesperkirchen im Winter und an vieles andere.
Handeln Gottes und Handeln der Menschen lassen sich nicht gegeneinander ausspielen. Beides kann sich auf wunderbare Weise ergänzen. Und es ist ein großer Segen, wenn das geschieht. Auf diesem Warten, so Jesaja am Ende seiner Rede, liegt die barmherzige Verheißung Gottes. Der Prophet wirbt bei den Menschen für Geduld und Gelassenheit und erinnert Gott an die Erfüllung der gegebenen Verheißungen. Das Harren und Warten löst die Widersprüche dieser Welt nicht auf. Es betrachtet diese Widersprüche in einem anderen, neuen Blickwinkel. Aus dieser Haltung wächst Gottvertrauen. Gottesglaube stiftet einen neuen Blickwinkel, genau wie ein neugeborenes Kind die Verhältnisse in einer Familie erweitert und verändert. So verändert auch das Baby in der Krippe von Bethlehem den Blickwinkel des Glaubens. Harret - wartet und hofft. Gerade diese Worte Jesajas erinnern an das Baby, mit dem und in dem Gott diese Welt erlösen wird.

Lieber Jesaja, wir danken dir für diese Worte. Wir danken dir, daß du uns im Advent sanft und tröstend einen Weg aus der Dunkelheit zeigst. Er hilft uns ganz vorsichtig, Ängste und Befürchtungen nicht Überhand nehmen zu lassen. Er hilft uns, in der Dunkelheit doch noch ein Licht des Advents zu sehen, unabhängig von allen glitzernden und ablenkenden Lichtern. Dieses Licht zeigt jedem Glaubenden einen Weg durchs Leben.

Danke, Jesaja.

Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pfarrer Dr. Wolfgang Vögele

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Mir stehen Menschen vor Augen, die in der Corona-Situation – gleich ob Christen oder nicht – darüber nachdenken, wie sie nun Advent feiern sollen: mit Weihnachtsmarkt oder ohne, mit Geschenken, mit Familientreffen an Weihnachten oder ohne. Es ist eine Zeit, die von der Normalität der Adventszeit abweicht.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Fasziniert war ich von der Sprache Jesajas, die mich ein weiteres Mal auf eine Weise beflügelt hat, wie ich das jenseits dessen, was ich sonst im Advent an Üblichem erlebe, nie erwartet hätte. Ich habe schon öfter – auch bei anderen Predigttexten – auf den Gedanken des Advents als Fastenzeit Bezug genommen.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Biblisch ergibt sich aus den Worten Jesajas ein Gottesbild, das die Grenzen konventioneller Theologie überschreitet.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Es war gut, die Predigt nach drei Wochen ein zweites Mal zur Hand zu nehmen. Es war auch, weil die Predigt aus Gründen der Arbeitsbelastung schon vor einiger Zeit entstand, gut, noch einige Anspielungen auf die neue, aber nicht überraschende Epidemiesituation einzufügen.

Perikope
05.12.2021
63,15-64,3