Lieber mehr Erleuchtung als zu wenig Humanität – von Damaskus auf den Mont Ventoux – Predigt zu Apostelgeschichte 9,1-20 von Martin Penzoldt
9,1-20

Eine Erleuchtung. Licht von oben her. Vom Himmel. „Der HERR ist mein Licht“ heißt es in Psalm 27. „Der HERR ist mein Licht und mein Heil.“ So spricht die Christenheit den Psalm. „Deus illuminia mea“, sangen die Mönche durch die Jahrhunderte. „Gott, der HERR, ist mein Licht“ – „deus illuminia mea“.

Das ist auch der Wahlspruch der Universität von Oxford in dem uns so überraschend ferngerückten Engelland. Licht soll werden: Erkenntnis von oben und durch Wissenschaft. Erleuchtung und Bildung sollen ein Volk prägen durch Lehre und Vorbild. Erleuchtung und Bildung sollen bessere Menschen aus uns machen – und uns schützen vor wilden Spinnereien, Radikalismus und Ängsten.
Auf zwei Wegen führt uns diese Urlaubspredigt, zu zwei Erfahrungen, in denen sich unser Leben auf sehr verschiedene Weise spiegelt.

Die Geschichte der Erleuchtung vor Damaskus ist uns vertraut. Freilich ist uns der Religionsverfolger Saulus unheimlicher denn je. Wie früh dieser junge Mann sich vornimmt, die Ehre Gottes zu verteidigen, wie rabiat er alle Aufweichungen und Abweichungen in der Religion bekämpft, wie fanatisch er selbst hinter den fern nach Damaskus gezogenen Christen her ist – das ist erschreckend. Dabei hat Paulus in Tarsus selbst als Teil der jüdischen Minderheit in der Diaspora gelebt, hat zusätzlich als Pharisäer die „Oxfordbildung“ der Rabbinen erhalten. Und dann doch dieser Zorn und Vernichtungswille! Es ist müßig, die Hintergründe zu erforschen. Es hätte ihm genügen können, sich im Recht zu wissen. Aber das tat es nicht. In den Staub mit den Feinden Gottes!
Es bedurfte einer Erleuchtung von oben, einer aufrüttelnden Frage aus Jesu Mund, einer dreitägigen Blindheit, viel Fürsorge und des Beistands der Christen in Damaskus, um aus Saulus einen Paulus zu machen.
Wenn man lang genug über eine geglaubte Wahrheit nachdenkt, dann kommt mancher auf radikale Ideen und endgültige Lösungen. Es gibt oft keine Gegenwirklichkeit, , die den jungen Mann erden. Dass Paulus später so viel Wert auf seine Arbeit als Zeltmacher legte, überhaupt auf seine Unabhängigkeit in finanzieller Hinsicht, aber eben auch auf die Angewiesenheit von seiner Hände Arbeit zu leben, das weist in eine neue Richtung: auf Erdung. Auch seine Schmerzen gehören dazu, seine verwundete Leiblichkeit, das alles ist Gegenwirklichkeit gegen einen abstrakt-virtuellen Radikalismus, der nach Blut und Vernichtung schreit. Die Erleuchtung, die Saulus widerfährt, führt ihn nicht in höhere Sphären, sondern bindet ihn in seiner Menschlichkeit zurück an die Erde. Der gekreuzigte und auferstandene Christus, der ihn ruft, führt ihn nicht zu höheren Begriffen und endgültigen Weisungen, sondern auf den „neuen Weg“ der Christen in die Nachfolge – und in alle Welt.

Der „alte Weg“ des Gesetzes hatte seine Kraft in der Teilung. Zuallererst in der Teilung von erwählten Juden und Nichtjuden. Diese Teilung, so erfährt und versteht es der Letzte der Apostel, hat Christus durchbrochen (Eph 2,14). Damit wurde die voraussetzungslose Verkündigung des Evangeliums in aller Welt möglich. Vor Damaskus hat das Licht Gottes sein Herz geweitet, es offen für alle gemacht. In diesem Augenblick hat er nichts von all dem verloren, was es an Gutem und Wahrem in seinem Leben, in seinem Erbe gegeben hat. Sondern er hat auf neue Weise die Weisheit, die Wahrheit, die Tiefe des Gesetzes und der Propheten verstanden und hat sich diese auf neue Weise wieder angeeignet. Gleichzeitig hat sich seine Vernunft der Weisheit der Heiden geöffnet. So konnte er wirklich der Apostel aller Völker werden.

Paulus war gegen die Christen zu Felde gezogen, um dem Bösen und der Lebenszerstörung durch Gottes Gesetz Einhalt zu gebieten. Wird es nun das Zeichen des Kreuzes sein, unter dem die Welt verfolgt und besiegt wird? Nein! Paulus setzt eine andere – dazu querstehende – Teilung in Kraft: die Teilung nach Geist und Fleisch (Röm 8,4-10; Gal 5,16). Es setzt ein Ringen danach ein, gemäß dem Geiste Christi zu leben und den Feind zu lieben. Hass und Überheblichkeit gegenüber Andersdenkenden und Andersgläubigen gehört nicht zum christlichen Code, wenn der Christ auch nicht dagegen gefeit ist. Aber die genuin eigene Frage des Christentums von Damaskus her ist, ob er denn nach dem Geist lebt oder nicht. In seinem Brief an die Gemeinde in Thessaloniki schreibt Paulus: „Alle seid ihr Söhne des Lichtes und Söhne des Tages.“(1.Thess  5,5) Hat nicht die Herrschaft des Geistes die der Sünde definitiv abgelöst?

An dieser Stelle, in diesem regenlustigen Sommer, folgen wir der Anweisung eines alten Gebetbuches und tun einen tiefen Seufzer: Seufzer! Die Unterscheidung von Damaskus her – zwischen Geist und Fleisch – trifft uns viel existenzieller als Fragen der Volkszugehörigkeiten. Sie ist eine in unser Innerstes verlegte Unterscheidung. Und sie wurde und wird meist als eine Herausforderung nach religiöser Höchstleistung an Gottesinnigkeit verstanden. Olympisch sozusagen. Wir blicken zurück und sehen den Eremiten Antonius sich in seiner Höhle winden (c. f. Flaubert). Alles hat er den Armen geben, weil er dem Ruf Christi gefolgt ist. Aber die Versuchungen des Fleisches folgen ihm in seinen Träumen. Kirchenvater Augustinus hatte allein Geist genug für viele Heilige, aber zugleich eine tiefe irdische Gebundenheit, wie die Existenz seines Sohnes Adeodatus verdeutlicht. Ein halbes Leben lang steht Augustinus vor einer tieferen, entscheidenden Berufung. Christsein bedeutete den Abschied von der Welt, von den irdischen Freuden.

Damaskus war ein brennender Punkt der Erleuchtung, in dessen Abglanz wir stehen und den die Kirche nur zeichenhaft und unvollkommen aufnehmen konnte. Also bedurfte es immer neuer Erleuchtungen auf dem Weg der Kirche zu Christus hin. Die wegweisende Deutung des Paulus durch Martin Luther steht ja erst 2017 an, manche Seufzer der Erleichterung sind zu erwarten – bis dahin werden wir uns noch ein bisschen mühen müssen und auf einen Berg steigen.

Wir blicken sieben Jahrhunderte zurück auf einen Mann im Gebirge: Es ist Petrarca, ein italienischer Dichter der Renaissance und römischer Kleriker.Er hat die Idee, dass Menschen mit antikem Wissen auch die besseren, respektvolleren Menschen sein würden (Petrarca: „mitis et amabilis“ – mild und liebenswert. Zuletzt in Nida-Rümelin, Humanistische Reflexionen, 2016, S. 219).
Aus Neugier, Schaulust und Wissbegier bestieg er den Mont Ventoux,
den windumtosten Kegelberg in der Provence – eine legendäre Etappe in der Tour der France. Dieser Berg eröffnet mit seinen fast 2000 (1912) Metern einenBlick bis ans Mittelmeer, zu den Alpen und ins Rhônetal. Petrarca ging lange durchs Tal und erst auf Umwegen in die Höhe, um tief zu empfinden, welch gewaltiger Ausblick sich ihm bieten sollte. Da wo einst die Götter wohnten, genießt nun der Mensch das Panorama!
In einem Brief vom 24. April 1336 erzählt Petrarca: „Den höchsten Berg dieser Gegend, den man nicht zu Unrecht Ventosus, »den Windigen«, nennt, habe ich am heutigen Tag bestiegen, allein vom Drang beseelt, diesen außergewöhnlich hohen Ort zu sehen. Zuerst stand ich, durch den ungewohnten Hauch der Luft und die ganz freie Rundsicht bewegt, einem Betäubten gleich da. Ich schaue zurück nach unten: Wolken lagen zu meinen Füßen, und schon wurden mir der Athos und der Olymp weniger sagenhaft, wenn ich schon das, was ich über sie gehört und gelesen, auf einem Berg von geringerem Ruf zu sehen bekomme.[…] Während ich dies eins ums andre bestaunte und bald an irdischem Geschmack fand, bald nach dem Beispiel des Körpers die Seele sich zu Höherem erhob, kam ich auf den Gedanken, in die Bekenntnisse des Augustinus hineinzuschauen.“ (Petrarca, F., Die Besteigung des Mont Ventoux. Stuttgart 1995, S. 4ff.) Wie einst Augustinus das entscheidende Bibelzitat („Lasst uns ehrbar leben wie am Tage, nicht in Fressen und Saufen, nicht in Unzucht und Ausschweifung, nicht in Harder und Eifersucht.“ Röm 13,13) zufällig aufschlägt und sich dabei erinnert wie es dem Antonius ebenso gegangen war (Mk 10,21), so findet Petrarca seinen Satz auch zufällig aber in den Bekenntnissen des Augustinus: „Und es gehen die Menschen zu bestaunen die Gipfel der Berge und die ungeheuren Fluten des Meeres und die weit dahinfließenden Ströme und den Saum des Ozeans und die Kreisbahnen der Gestirne und haben nicht acht ihrer selbst.”(Confessiones X, 8, 15)

Petrarca ist bestürzt. Muss er nicht Augustinus folgen und in der Abgeschiedenheit Gott und sein Herz erforschen? Muss er nicht dem Augenschmaus – dem „eye candy“(Mt 5,29f.; 18,9) –  entsagen und den Weg der inneren Kontemplation wählen? Er will und tut es, aber er kann es nicht auf Dauer. Er schwärmt von der klösterlichen Einsamkeit in Arquà bei Padua und besucht doch alle trubelbunten Städte. Er preist das einfache Landleben, aber gesteht in einer literarischen Beichte gegenüber Augustinus, dass er trotz aller Liebe zu Gott weder auf Ruhm noch auf Liebe verzichten kann („Mein Geheimnis“ in: Petrarca, Das einsame Leben, Stuttgart 2004). Muss denn alles Vergängliche Sünde sein? Kann es nicht auch seine Würde haben? Petrarca ist zerrissen. Der Ausblick vom Berg war nicht nur eine ästhetische Erfahrung, „Romantik 2.0“ oder gar eine olympisch-alpine Disziplin, sondern Ausdruck der modernen Bejahung der Welt.

Wohin also hat diese Wende auf dem Bergweg Petrarca geführt? Es ist ein Schlüsselmoment auf dem Weg in die Neuzeit. Der Mensch ist es, der das erlebt und gesehen hat. Er ist es, der die Bibel liest und die antiken Autoren: seine christliche Frömmigkeit. Antike Bildung und Wissbegier vertragen sich nicht einfach, aber gehören zu ihm, dem Menschen. Er will den goldenen Überfluss der Welt sehen – und doch auf sich und seine Seele und auf die aller anderen achten.

Die Größe und Erhabenheit der Welt bleibt bedeutungslos, solange der Mensch sich nicht selbst kennt, gesteht Petrarca Augustinus zu. Die Schriften der Bibel und der griechisch-römischen Antike klären den Menschen über sich auf und öffnen ihm zugleich die Augen für Horizonterweiterung und Welterschließung. Aber alles, was er über sich selber weiß, stammt letztlich aus der Heiligen Schrift, den Vätern und den antiken Autoren. Aber nicht der Zitatenschatz und Faktenhuberei als Bildungsgewinn, sondern das Ideal des menschlichen Menschen, des Humanen, das verdanken wir ihm. Ein christlicher Humanismus ist geboren: Die geistige Existenz strebt Humanität an. Eine erneute Teilung trennt – alle anderen in sich begreifend – die Humanität von der Barbarei. Lieber mehr Erleuchtung als zu wenig Humanität, könnte man sagen.

Die Wege unserer Urlaubspredigt haben uns mit Paulus bis nach Damaskus geführt und die Notwendigkeit der Läuterung des Glaubens auf dem Weg zu Jesus, der unser aller Licht ist, in Erinnerung gerufen. Zum ersten Mal nimmt der Glaube die ganze bewohnte Welt in Blick. Dann kam – überraschend – der Berganstieg mit Petrarca, dessen Blick nun auch die Natur umfasst und den Menschen als herausgehobenen Teil von ihr.

Nun ist uns und auch im Oxford heutiger Zeit klar vor Augen, dass Bildungswissen nicht vor Abstürzen aller Art schützt. Auch der Humanismus allein erreicht keine höhere Lebensform, wie schon die Renaissance selbst zeigt. Gelehrsamkeit ohne religiösen Bezug führt zu keiner Läuterung. Aber in dem christlichen Humanismus, wie er in Deutschland durch die Reformation mitgeprägt wurde, sind die drei Bezüge „Gott“, „Mensch“ und „Welt“ immer gleichermaßen präsent und werden nicht aufeinander reduziert. Nicht religiöser Fanatismus noch tödlicher Narzissmus oder blanker Naturalismus kann allein regieren, wenn der Gott der Erleuchtung, der aufgeklärte Mensch und die Neugier auf die Welt im Spiele sind. So ist Religion, Humanität und Wissenschaft ein Antidot, ein Gegengift zu allen Radikalismen.

Wer bremst die modernen Eiferer? Gott gebe uns Licht und Dunkelheit, geistige Unabhängigkeit und Glaubensfestigkeit, Skepsis gegen einfache Lehren und Liebe zu den Menschen und allem was lebt. „Der HERR ist mein Licht und mein Heil; wovor sollten wir uns fürchten!“ (Ps 27,1 Lutherrevision 1912) Amen.

 

Pfr. Martin M. Penzoldt
Württembergstr. 52
70327 Stuttgart

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